# taz.de -- Ein Jahr nach dem Attentat von Halle: Menschen stehen zusammen | |
> In Ismet Tekins Geschäft wurde ein Mensch ermordet. Es ist Ismet Tekin, | |
> der darauf pocht, dass der Anschlag nicht vergessen werden darf. | |
Bild: Ismet Tekin am Freitag während der Trauerfeier in Halle ist heute Chef d… | |
HALLE taz | Jeder Mensch ist wertvoll, so wie er ist. Der Staat muss die | |
Würde von jedem Menschen schützen.“ Der Satz steht auf einer Tafel an der | |
Marktkirche von Halle an der Saale. „Mir ist dieses Schild gerade | |
aufgefallen. Es ist sehr schön geschrieben“, sagt Ismet Tekin mit Blick auf | |
die Kirche. Tekin steht zwischen Hunderten auf dem Marktplatz. Die meisten | |
haben Alltagskleidung an. Tekin aber trägt einen dunkelblauen Anzug, einen | |
mandelbraunen Mantel und einen akkuraten Fassonschnitt. Fernseh- und | |
Smartphonekameras sind auf ihn gerichtet. | |
Es ist 12.01 Uhr, als ein Glockenspiel erklingt. Genau vor einem Jahr um | |
diese Zeit fiel der erste Schuss des rechtsextremistischen Attentats von | |
Halle, das zwei Menschen das Leben gekostet und die Leben vieler | |
unterschiedlicher Menschen nachhaltig verändert hat. Fünf Minuten sind nur | |
die Glockenmelodie und die schleichenden Straßenbahnen zu hören, und noch | |
eine Minute nachdem der letzte Ton verklungen ist, bewegt sich niemand. | |
Es ist einer von wenigen Momenten an diesem Tag, in dem auch Ismet Tekin | |
innehalten kann. Sein Kalender ist durchgetaktet mit Terminen, Treffen mit | |
ranghohen Politiker:innen aus Bund und Ländern und zahlreichen | |
Journalist:innen. „Dafür haben wir ja jetzt ein Jahr lang geübt“, witzelt | |
Tekin. Als vor einem Jahr Politiker:innen kamen, trug er einen Anorak, | |
seine Haare waren verwuschelt und seine Hände hielten sich aneinander fest. | |
Ismet Tekin blieb im Hintergrund. | |
Seit dem 9. Oktober 2019 gilt eine neue Zeitrechnung. Es gibt vor und nach | |
Halle, Normalität und Krise, Alltag und Bewältigung. Ismet Tekin hofft, | |
dass nun ein neues Jahr beginnt. | |
## Die Erinnerung an das Attentat | |
Am Nachmittag bevor sich das [1][Attentat jährt], sitzt Ismet Tekin in | |
seinem Dönerladen und rührt in einem Glas Tee. Vor ihm sitzt ein Mann mit | |
ergrautem Haar und Schnurrbart, sein Nachbar Andreas. „Wir haben schon so | |
viel geschafft. Das schaffen wir auch noch“, sagt er zu Tekin. Hinter ihnen | |
an der Wand hängen die Erinnerungen des letzten Jahres: Trikots vom | |
Halleschen FC, eine goldene Gedenktafel „für Jana und Kevin“, darunter das | |
Datum: 9. 10. 2019. An diesem Tag wurde der 21-jährige Kevin S. genau hier | |
von einem Rechtsextremisten getötet, der zuvor vergeblich versucht hatte, | |
die Synagoge zu stürmen, und die Passantin Jana L. vor dem Gotteshaus | |
erschoss. | |
Ismet Tekin kam [2][am Tag des Anschlags] vom Einkaufen zurück zum Laden, | |
als der Attentäter kam. Sein Bruder Rifat stand hinter der Theke. Dort | |
steht er auch heute. Seine Augenringe scheinen über das Jahr tiefer | |
geworden zu sein. Das Attentat ist im Kiez Döner nach wie vor präsent. | |
Ismet Tekin möchte ein Frühstückscafé aus dem Laden machen, doch bis vor | |
Kurzem fehlten ihm sowohl das Geld als auch die Freigabe der Parkplätze vor | |
dem Geschäft für die Plätze im Freien. | |
Nun stehen am Rand der Parkplätze sechs große Pflanzenkübel mit weißen | |
Blumen. Es sind Gottesaugen. „Als ich gestern Morgen von zu Hause kam, um | |
den Laden zu öffnen, waren die da“, lacht Tekin noch immer verwundert. Erst | |
auf mehrfache Nachfrage hin war es zu einem Vieraugengespräch zwischen | |
Tekin und dem Bürgermeister von Halle, dem parteilosen Bernd Wiegand, | |
gekommen – gerade zwei Tage bevor die Öffentlichkeit anlässlich des | |
Jahrestags auf Halle schaut. „Das ist das Einzige, was wir seit einem Jahr | |
von der Stadt bekommen haben“, sagt Tekin so beiläufig, wie sein Blick auf | |
die Blumen ist. „Wir haben uns auf einen Neubeginn geeinigt, mal sehen.“ | |
## Fehlende Worte hier, Solidarität dort | |
In den letzten Wochen spricht Tekin oft von einem Neubeginn. Selten über | |
seinen persönlichen, häufig über den zwischen „Ausländern“ und „Deuts… | |
wie er sie nennt. So auch an diesem Tag. Vor dem Kiez Döner laufen einige | |
Menschen auf und ab, bauen Soundboxen und einen Pavillon auf die | |
regenfeuchten Gehwegplatten, kleben Plakate an die Ladenfenster. „Jetzt | |
reden wir!“, steht darauf. „Das haben Hans und ich organisiert, damit die | |
Ausländer auch mal reden“, sagt Ismet Tekin. Hans ist vom [3][Verein | |
Multikulturelles Zentrum], die Zuhörer:innen sind aus der Nachbarschaft. | |
Weder der Bürgermeister noch andere Politiker:innen haben sich für diese | |
Kundgebung angekündigt. „Sie können jederzeit kommen“, sagt Tekin. | |
Es gibt Musik und Redebeiträge von Menschen aus der Türkei, Iran, | |
Afghanistan, Kasachstan, Vietnam. Die Frauen, Männer und Kinder reden über | |
ihr Ankommen in Deutschland, Rassismuserfahrungen, Wünsche und Träume für | |
die Zukunft. Was die Geschichten eint, sind rassistische Übergriffe, bei | |
denen niemand geholfen hat, und der Wunsch nach Frieden. | |
„Große Gruppen von Menschen in diesem Land leben in Angst. Das Leid der | |
Betroffenen wird auch dadurch vergrößert, dass sie mit den Folgen der Tat | |
oft allein gelassen werden“, sagt Antje Arndt am nächsten Morgen auf einer | |
Pressekonferenz mit dem Titel „Erinnerung heißt Verantwortung übernehmen“. | |
Arndt arbeitet für die Mobile Opferberatung. Seit einem Jahr steht sie an | |
der Seite der Tekin-Brüder. Neben ihr spricht auch Ismet Tekin. | |
Nach der Konferenz schreitet Ismet Tekin so langsam zum nächsten Termin, | |
als fiele ihm das Gehen schwer. „Manchmal ist es schwer, manchmal macht es | |
Spaß. Heute noch nicht“, sagt er. Als Tekin an der Bühne am Steintor | |
ankommt, streichen seine Hände durch seinen Bart und über seine Augen. Wenn | |
sich sein Blick nach solchen Momenten wieder vom Boden löst, atmet er tief | |
durch, manchmal zieht er Schultern und Nacken zusammen, manchmal sucht er | |
mit den Augen nach Antje Arndt. | |
Im letzten Jahr hat Ismet Tekin viel gelernt. Zum Beispiel weiß er sich | |
kämpferisch und doch versöhnlich zu geben. Inzwischen sagt er öffentlich | |
Sätze wie: „Es gibt viel zu tun. Wenn von oben angefangen wird, geht es | |
schneller. Von unten durch Solidarität klappt es auch, aber es dauert | |
länger.“ Er ist einer von 43 Nebenkläger:innen im [4][Prozess gegen den | |
Attentäter], der derzeit in Magdeburg stattfindet. Tekin verpasst keinen | |
Prozesstag. Er spricht für den Frieden zwischen den Religionen, aber auch | |
mit der Mehrheitsgesellschaft. Unter den Betroffenen gilt Ismet Tekin als | |
der, der dafür sorgt, weiter positiv zu denken. | |
## Verlorenes Vertrauen | |
Auf dem Weg zur Gedenkminute am Marktplatz bleibt sein Kopf beim | |
Vorbeigehen einem Schaufenster zugewandt, in dem Messer und | |
Schreckschusswaffen ausgestellt sind. „Waffen sind scheiße“, sagt er und | |
nach einer Pause lächelnd: „Blumen sind schön.“ Waffen allein sind nicht | |
das Problem und Blumen allein nicht die Lösung, das weiß auch Tekin. | |
„In der Türkei habe ich 1999 das Vertrauen in Politiker verloren, in | |
Deutschland am 9. Oktober 2019“, sagt er. Unmittelbar nach dem Attentat | |
werden die Menschen des Kiez Döner hinter den Betroffenen der Synagoge fast | |
vergessen. Izzet Cagac, der damalige Eigentümer des Kiez Döner, fordert die | |
Anteilnahme der Politiker:innen öffentlich ein und bekommt sie. Er zeigt | |
sich versöhnlich und übergibt das Geschäft kurz darauf an die Tekin-Brüder. | |
Die große Geste bringt kein leichtes Erbe. | |
„Nach den Worten der Politiker dachte ich: Es wird schwer, aber durch die | |
Unterstützung von denen, die Ihr Wort gegeben haben, werden wir es | |
hinbekommen. Natürlich kamen die Politiker auch zur Show. Wenn sie trotzdem | |
geholfen hätten, wäre mir das egal“, sagt Ismet Tekin heute. Doch es | |
folgten weder Hilfe noch weiterer Dialog. Auch die gesammelten Spenden | |
kamen nie an. | |
„Ich hatte viele Ideen dafür, was wir vor dem Jahrestag machen können, aber | |
ich habe es alles aus finanziellen Gründen nicht geschafft“, sagt Tekin. | |
Seit der Wiedereröffnung des Kiez Döner, 40 Tage nach dem Attentat, bleiben | |
die Gäste aus. Die Tekin-Brüder kämpfen ums wirtschaftliche Überleben. „I… | |
habe seit einem Jahr nicht einmal rechtzeitig die Miete für den Laden | |
gezahlt. Sie kam immer in zwei Teilen, drei Teilen, vier Teilen. Für meine | |
Wohnung stehen drei offene Mieten aus“, sagt Ismet Tekin. | |
Die Vermieter zeigen Verständnis. Die Fleisch-, Getränke-, die Verpackungs- | |
und die Brotlieferanten bringen Ware, ohne nach Geld zu fragen. „Deswegen | |
haben wir ein bisschen weitergelebt. Sonst hätte das nie geklappt“, sagt | |
Tekin. Eine große Hilfe sei auch eine Gruppe Studierender, die die Tekins | |
seit einem Jahr ehrenamtlich bei der Öffentlichkeits- und Büroarbeit | |
unterstützen. Von unten klappt es auch, aber es dauert länger. | |
Die Tekins sind nicht die Einzigen, die von staatlicher Seite allein | |
gelassen werden. „Es geht allen Betroffenen so“, sagt Ismet Tekin. | |
Adiraxmaan Aftax Ibrahim, der Mann, der in Halle von dem Täter angefahren | |
wurde, findet kaum Erwähnung. Die Frau, die in Wiedersdorf auf der Flucht | |
des Täters angeschossen wurde, sagt heute, die Papierarbeit und die | |
Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse seien schlimmer als die Tat | |
selbst gewesen. Zu den zentralen Gedenkveranstaltungen wurden sie und ihr | |
Mann anfangs nicht einmal eingeladen. | |
„Ich war in Hanau. Die Menschen dort haben das gleiche Problem wie wir. | |
Keiner kümmert sich darum“, sagt Ismet Tekin. Inzwischen sind Ismet Tekin, | |
die jüdische Gruppe „Base Berlin“, die im vergangenen Jahr zu Jom Kippur in | |
Halle zu Besuch war, und die Hinterbliebenen der Opfer der rassistischen | |
Morde von Hanau Verbündete. Einige Tage vor dem zentralen Gedenken von | |
Halle begehen sie ihre eigene Gedenkfeier in Berlin. Sie feierten die Kraft | |
der Solidarität. Die zeigte sich auch darin, dass die [5][Jüdische | |
Studierendenunion] für den Umbau des Kiez Döner 30.000 Euro Spenden | |
sammelte. Jetzt kann der Umbau zum Café endlich beginnen. | |
Und doch besucht Ismet Tekin auch alle offiziellen Veranstaltungen. Nach | |
der Schweigeminute geht er ins Stadthaus zur Demokratiekonferenz, zu der er | |
kurzfristig eingeladen worden ist. Danach fährt er mit dem Shuttle zur | |
Gedenkfeier an der Synagoge. Tekin kommt nur kurz vor dem Bundespräsidenten | |
im abgesperrten Bereich an. Er raucht noch eine, stellt sich steif auf. | |
Als Frank-Walter Steinmeier an ihm vorbeiläuft gibt er zu: „Jetzt bin ich | |
angespannt.“ Eine junge blonde Frau kommt aus der Synagoge an | |
Minister:innen, dem Bürgermeister und dem Bundespräsidenten vorbei auf | |
Ismet Tekin zu. „Du hast ja heute gar keine Lederjacke an!“, sagt sie | |
freudig und bringt ihn zum Lächeln. Iona Berger ist eine der wenigen aus | |
der Berliner jüdischen Gruppe, die an diesem Tag wieder nach Halle gekommen | |
sind. | |
## Neue Freunde | |
Ezra Waxman ist ein weiterer. Der junge Mann folgt Berger mit breitem | |
Grinsen und setzt Tekin und dem Mann neben ihm, Adiraxmaan Aftax Ibrahim, | |
mit Schwung je eine weiße Kippa auf den Hinterkopf. Tekin lächelt verlegen. | |
Auf Ibrahims schwarzen Locken hält die Kippa von allein, von Tekins | |
gegeltem Haar rutscht sie. Als keiner eine Haarnadel für ihn hat, greift | |
Tekin nach dem Namensschild an seinem Revers und klemmt die Kippa damit | |
notdürftig fest. Dann gehen sie gemeinsam in den Innenhof der Synagoge. | |
Ismet Tekin steht an diesem Tag selten allein. Da ist Antje Arndt, seine | |
Opferberaterin, sein Nachbar Andreas und andere Menschen aus seiner | |
Soligruppe, Adiraxmaan Aftax Ibrahim und Iona Berger, die sagt, der Kiez | |
Döner sei der einzige Ort, an dem sie an diesem Tag sein wollte. Wenn der | |
Tag geschafft ist, möchte auch Ismet Tekin dort sein – „in Ruhe mit meiner | |
Soligruppe“. Vorerst geht er neben Politiker:innen und Sicherheitsleuten | |
die abgesperrte Straße von der Synagoge zu dem Kiez Döner entlang. Dieselbe | |
Strecke, die der Attentäter vor einem Jahr mit dem Auto zurücklegte. | |
Vor dem Kiez Döner liegen frische Blumen, nicht zum Laden gerichtet, | |
sondern zur Straße. Diesmal sind es prächtige Kränze mit glatten Schärpen. | |
Der [6][Bundesopferbeauftragte Edgar Franke] sagt: „Wir standen den Opfern | |
bei finanziellen Problemen an der Seite und vermitteln psychologische | |
Hilfe.“ Rifat Tekin lehnt wenig begeistert an der Hauswand. Gemeinsam mit | |
Franke, seinem Bruder und Gabriele Theren, der ersten [7][Opferbeauftragen | |
Sachsen-Anhalt]s, enthüllen sie eine Gedenktafel mit den Namen der | |
Ermordeten, Jana L. und Kevin S. Ismet Tekin legt einen Strauß Lilien | |
nieder, bevor er zur anschließenden Veranstaltung in der Ulrichskirche | |
aufbricht. | |
Iona Berger bleibt im Kiez Döner und verfolgt die Veranstaltung im | |
Livestream. Wie die anderen Personen am Tisch kommentiert sie das Gesagte – | |
am wenigsten bei [8][Max Pivorozki, dem Gemeindevorsteher der jüdischen | |
Gemeinde Halle], am meisten bei Oberbürgermeister Wiegand. Als | |
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) spricht, kommen | |
drei Betrunkene durch die offene Tür in den Kiez Döner. | |
„Maske aufsetzen und Abstand halten“, sagt Rifat Tekin streng hinter der | |
Theke. „Ja ja, wir wollen ja nur schnell Fotos machen“, sagt ein Glatzkopf | |
im Trainingsanzug und geht wieder raus. Der Zweite zieht eine Maske aus der | |
Tasche, die Dritte ihren rotweißen Fanschal ins Gesicht. Kurz bleiben sie | |
vor der Erinnerungswand stehen, fotografieren und gehen wieder raus. „Bis | |
zum nächsten Jahr!“, sagt Rifat Tekin. | |
Auf der Straße sind die Absperrungen vom Nachmittag abgebaut. Sprühregen | |
hat sich festgesetzt. Die Abenddämmerung setzt ein. Vor dem Laden brennen | |
Grablichter neben einzelnen Blumen und einfachen Sträußen. Vor den Lichtern | |
hockt die betrunkene Frau und weint ausgelassen bitterlich in ihren | |
Fanschal. Ihr Freund hält sie mit gesenktem Kopf. Der Glatzkopf und ein | |
weiterer Mann im roten Pullover vom Halleschen FC stehen hinter ihnen, | |
einer mit Bierflasche, der andere mit Fahne des Fußballclubs in der Hand. | |
Immer wenn einem von ihnen auch die Tränen kommen, sagt der andere etwas, | |
das sie in ihr Korsett aus Härte zurückversetzt. | |
Sie sind jung, so wie Kevin es war. Sie heißen Rico, Sylvia, Matthias und | |
Kevin und sie waren seine Freunde. Sylvia sagt, er war ein feiner Kerl, | |
„wie er immer ankam mit seiner Sonnenbrille und seinen bekloppten Hüten“. | |
Rico schätzte ihn, denn „er hat mich in Duisburg 2016 einfach mit ins | |
Stadion genommen, obwohl er mich nicht kannte“. Bevor Kevin beerdigt wurde, | |
sammelten sie mehr als 4.500 Euro für Bengalfeuer. Sein Sarg wurde durch | |
das von rotem Licht und Rauch erfüllte Stadion gefahren, bevor er in die | |
Erde gesetzt wurde. „Das war uns die letzte Ehre“, sagt Matthias mit einer | |
Flasche Pfefferminzlikör in der Hand. | |
Ricos Fan-Flagge weht an den Fahrbahnrand, sodass alle Vorbeifahrenden sie | |
sehen. Als einer im Vorbeifahren hupt, beginnen die vier damit, ihre | |
Fanlieder zu singen. Bald gehen die Gesänge in Grölen über und sie strecken | |
Fäuste und Hände in die Luft. Iona Berger tritt in den Türrahmen, um zu | |
sehen was los ist. „Irgendwie geil“, sagt sie und bleibt eine kleine Weile | |
stehen. | |
An diesem Tag fallen viele wichtige Worte. Frank-Walther Steinmeier lehnt | |
die These des Einzeltäters ab, stellt den Bezug zum NSU her, spricht vom | |
gesellschaftlichen Problem Rechtsextremismus und den Netzwerken im realen | |
wie im virtuellen Leben. Das offizielle Gedenken ist wichtig, um das | |
Attentat in gesellschaftlicher Erinnerung zu behalten und Konsequenzen für | |
die Zukunft zu ziehen, für einen Neubeginn. | |
## Sabbat im Kiez Döner | |
Es ist bereits dunkel, als Ismet Tekin in seinem Laden ankommt. „Hallo!“, | |
ruft er freudig mit erhobener Hand. Es ist sein erstes vollständiges | |
Lächeln an diesem Tag. Tekin zieht den braunen Mantel aus, während er die | |
Treppen zur Küche hochspringt. Als er zurückkommt, lässt er sich mit so | |
viel Schwung in den Stuhl neben Iona Berger fallen, dass sich seine Füße | |
kurz anheben. Er begrüßt jeden einzeln und lässt Tee bringen. Nun sind alle | |
da und sprechen wild durcheinander. | |
Ezra Waxman geht zum Kühlschrank und greift nach einer kleinen Flasche | |
Rotkäppchen Rosé. Er schaut auf den Halloumi-Teller vor sich und sagt in | |
den Raum: „Hallo Leute! Es ist Freitagabend, das bedeutet Schabbat. | |
Jüdische Leute machen vor dem Essen ein kurzes Gebet. Ich würde das machen, | |
wenn das geht.“ Mit einem Grinsen im Gesicht und einem Rosé in der Hand | |
beginnt er auf Hebräisch zu beten. Ismet Tekin schaut ihn an. „Auf ein | |
neues Jahr!“, sagt Ezra Waxman. „Neues Jahr und neues Glück!“, sagt Ismet | |
Tekin und hebt sein Teeglas in den Raum voller Gäste. | |
11 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Pia Stendera | |
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