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# taz.de -- Politisches Buch über Antisemitismus: Anekdoten statt Analyse
> Der Historiker Per Leo polemisiert in seinem Buch „Tränen ohne Trauer“
> gegen „post-arischen-Streberzionismus“ beim Umgang mit der
> NS-Vergangenheit.
Bild: Die NS-Zeit sei „oft auf eine so hemmungslose Weise präsent“, sagt L…
Per Leo hat ein neues Buch geschrieben, ein „radikales Buch“, so der
Verlag. Leos Ausgangsbeobachtung: Die NS-Vergangenheit sei „in unserem Land
oft auf eine so hemmungslose Weise präsent“, „dass sie allmählich […]
dessen Entfaltung hemmt“. „Tränen ohne Trauer“ steht nicht nur, aber auch
im Kontext der Debatte um das Verhältnis von Kolonialismus und
Nationalsozialismus, von Rassismus und Antisemitismus und von Schoah und
Kolonialverbrechen.
Leo betont: Ihm gehe es nicht um ein „Ende der ernsthaften Beschäftigung
mit dem NS“ oder um die „Infragestellung von Rechtsstaat, Demokratie und
Westbindung“, sondern lediglich um einen „prüfenden Blick auf eine Geste
deutscher Selbstgefälligkeit“. Auf dem Spiel stehe nichts Geringeres als
das Gelingen der „neuen Republik“. Worum genau geht es auf den knapp 250
Seiten?
„Tränen ohne Trauer“ berührt enorm viele Themen und Aspekte. So gibt es
lesenswerte Abschnitte etwa zu den [1][berühmten Reden von Richard von
Weizsäcker (1985)] und Martin Walser (1998) oder zum Berliner
Holocaust-Mahnmal, um das, wie es bei dessen Jubiläumsfeier hieß, „uns“
andere Völker „beneiden“ würden. Auch die Kritik an [2][neu-rechten
Traktaten wie „Finis Germania“] oder Filmen wie „Der Untergang“ wird zu
recht in Erinnerung gerufen. Auf den Begriff des „Gedächtnistheaters“, den
[3][Max Czollek] in den letzten Jahren bekannt machte, bezieht Leo sich
ebenfalls.
## „Austerlitz“ und Alexander Kluge in der Liste
Interessant sind Per Leos Ausführungen zu Historikern, die ihn
intellektuell prägten, indem sie seinen Blick zum Beispiel auf die
Täterforschung oder den Stellenwert des biografischen Schreibens für eine
produktive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verdeutlichten.
In einer in den Fließtext eingebauten, teils ausführlich kommentierten
Lektüreliste finden sich unter anderem W. G. Sebalds „Austerlitz“ und
„Die Ausgewanderten“, Alexander Kluges „Der Luftangriff auf Halberstadt am
8. Mai 1945“ oder auch „Flughunde“ von Marcel Beyer.
Insgesamt aber ist „Tränen ohne Trauer“ thematisch stark überladen. Zudem
bleiben viele Ausführungen vage und anekdotisch oder sind schlicht
unbelegte, undifferenzierte Behauptungen. Regelrecht eingeschossen hat sich
Leo etwa auf [4][Kritiker*innen von Achille Mbembes Einlassungen zu
Israel], die Antisemitismusdefinition des International Holocaust
Remembrance Alliance (IHRA) und die [5][Anti-BDS-Resolution des Deutschen
Bundestags].
Was genau ihn an alldem stört, führt Leo allerdings nur äußerst ungenau
oder nur wenig überzeugend aus. Leo mahnt in „Tränen ohne Trauer“
immerfort, Sachverhalte in ihrer Komplexität zu begreifen. Genau das
unterlässt er aber regelmäßig selbst.
Besonders problematisch wird es, wenn Leo dies alles mit schlechter Polemik
verbindet – und das macht er in „Tränen ohne Trauer“ leider ziemlich oft,
trotz der durchaus vorhandenen Zwischentöne. Leo zufolge herrsche
hierzulande ein kompensatorischer, passiv-aggressiver, selbstgerechter
„Entlastungszionismus“, ein „post-arischer-Streberzionismus“.
## Leo greift Anitsemitismusbegriff an
Die in Deutschland angeblich so enorm wirkmächtige „Entgrenzung des
Antisemitismusbegriffes“ sei nichts Geringeres als eine „begriffspolitische
Kampagne“ zur „einseitigen Parteinahme für Israel“. Hierzulande würde m…
auf „den Dealer hereinfallen, der unserem Gewissen seinen gestreckten Stoff
als ‚Antisemitismus‘ verkaufen will, nur weil er zu wissen meint, wie sehr
wir darauf abfahren“.
Insgesamt verbinde sich, so Leo resümierend, eine „breite Mitte der
Holocaustbetroffenheit“ zusammen mit einer „links-rechten Verstrickung in
den zionistischen Mythos“ und einer „historisch tief verwurzelten
Feindseligkeit gegen ‚den‘ Islam“ zu einer neuartigen „deutschen
Ideologie“. Irgendwie Teil dieses vage beschriebenen Komplexes seien, so
insinuiert Leo, unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung
oder „das vereinte Kommentariat der Landesrundfunkanstalten“. Erneut geht
es in „Tränen ohne Trauer“ drunter und drüber.
Ein Dorn im Auge ist Leo vor allem Felix Klein, seit 2018
Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung. Klein wird von Leo auf
äußerst unfaire und bizarre Weise angegangen, etwa als „ranghöchster
Anti-Antisemit im Nachfolgestaat des Dritten Reiches“ oder als
„Regierungsbeauftragte[r] zur Vernichtung des Antisemitismus“.
Kleins Denken und Handeln, so legt Leo nahe, sei bestimmt von
„Identifikation mit den toten und Paternalismus gegenüber den lebenden
Juden“ sowie von einer „Fixierung auf die Vergangenheit und Überforderung
mit der Gegenwart“, nicht zuletzt von einem „um ‚Juden‘ zentrierte[n]
Weltbild“. Was Felix Klein, dessen Arbeit vom Zentralrat der Juden in
Deutschland unterstützt wird, auch im Zusammenspiel mit seinen KollegInnen
in den Bundesländern bislang erreicht hat, diskutiert Leo nicht.
## Rolle als rebellischer Polemiker
In solchen Passagen wird deutlich, wie sehr sich Leo gefällt in der Rolle
als vermeintlich rebellischer Polemiker. Gleich zu Beginn von „Tränen ohne
Trauer“ stellt sich Leo sogar in eine Reihe mit keinem Geringeren als
Friedrich Nietzsche, da dieser ebenfalls der Leitfrage nachging, „wann der
Umgang mit der Geschichte hilft und wann er schade“.
Immerhin konzediert Leo ironisch-witzelnd (aber, wie meistens im Buch,
nicht lustig), er selbst sei „leider nicht der wirkmächtigste Denker seiner
Epoche“, wozu ihm seine Frau nun auch mal zustimme. Dem Anspruch nach nimmt
„Tränen ohne Trauer“ durchaus wichtige Fragen in den Blick – beantwortet
werden diese aber auf insgesamt wenig überzeugende Weise.
Das Buch hilft in der Debatte nicht weiter.
26 Jul 2021
## LINKS
[1] /Richard-von-Weizsaeckers-Rede-zum-8-Mai/!5682814
[2] /Debatte-um-Erinnerungskultur/!5773157
[3] /Neues-Buch-von-Politologe-Max-Czollek/!5703362
[4] /Debatte-um-die-Gedenkkultur/!5751296
[5] /BDS-Beschluss-im-Bundestag/!5734301
## AUTOREN
Till Schmidt
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