# taz.de -- Philosophisches Café mit Autor Per Leo: Produktive Unruhe | |
> Der Autor Per Leo kritisiert in seinem Essay „Tränen ohne Trauer“ die | |
> deutsche Erinnerungskultur. Nun ist er zu Gast in Hamburg. | |
Bild: Damit werben heute Immobilienmakler: Blick aufs Berliner Denkmal für die… | |
Hamburg taz | Wenn einer etwas so Gewichtiges wie die deutsche | |
Erinnerungskultur der Kritik unterziehen will, gar einer radikalen, dann | |
ist ihm Aufmerksamkeit gewiss. Und Widerspruch: Ist nicht verdächtig, wer | |
rührt an den – vielfach unter Schmerzen erkämpften und verteidigten – | |
bundesrepublikanischen Verständigungen zur deutschen Schuld? Den | |
angeblichen „Schuldkult“ endlich loszuwerden: Ist das nicht eine Sehnsucht | |
von Nazis, alten und neuen und solchen, die partout nicht Nazis genannt | |
werden möchten? | |
Nun ist [1][Per Leo] tatsächlich manchen suspekt – nicht zuletzt wegen | |
seiner Beteiligung am Buch „Mit Rechten reden“ (und der [2][dahinter | |
stehenden Aufforderung]?). Aber wenn der schriftstellernde Historiker ein | |
Buch – im Untertitel – „Nach der Erinnerungskultur“ nennt, dann will er | |
nicht den Schlussstrich, nach dem sich AfD-Granden wohl sehnen. Gleichwohl | |
geht es ihm in „Tränen ohne Trauer“ (Klett-Cotta 2021) um ein Einordnen und | |
Kontextualisieren von etwas, das viele aus gutem Grund, aber manchmal auch | |
aus nicht so gutem, absolut setzen: der Singularität des Holocausts. | |
Gleich zu Anfang schreibt er, das Buch sei entstanden zu der Zeit, „als in | |
Deutschland ein schon lange schwelender Streit“ entflammt sei: „über das | |
Verhältnis von Kolonialismus und Antisemitismus, von Holocaust und | |
Kolonialverbrechen“. Deshalb lag taz-Redakteur Jan Feddersen nicht falsch, | |
als er Ende Juli [3][einen Online-Talk mit Leo] mit den „etwas saloppen“ | |
Worten eröffnete, in dem Buch stünde alles, „was wir wissen müssen, um | |
zeitgenössisch mitplappern zu können“. | |
Ein Plappern, ein Gerede erkennt nun auch Leo: „Vom Nationalsozialismus | |
wird in Deutschland oft maßlos, selten genau gesprochen“, damit eröffnet er | |
das Buch. „Die Beliebigkeit des alltäglichen Geredes und die Vermessenheit | |
seines Anspruchs“, heißt es da weiter, stünden dabei „in keinem Verhältn… | |
zu einem „historischen Gegenstand von solchem Gewicht“. | |
Auch wenn Leo anerkennt, dass die Rede von der Singularität auftreten kann | |
„in dogmatischer und damit potentiell theologischer Form“, und auch das aus | |
guten und weniger guten Gründen: Seine Kritik am allzu Erstarrten ist eine | |
andere, als sie der jüngst so viel zu Wort kommende Genozidforscher Dirk A. | |
Moses mit seinem „Katechismus der Deutschen“ geäußert hat. Auch der | |
verschiebt ja den (west-)deutschen Konsens in den Bereich des Religiösen, | |
mithin der Vernunft nur eingeschränkt Zugänglichen. (Dass das keinesfalls | |
dasselbe sei wie die erwähnte „Schuldkult“-Trope der Nazis: Das ist Moses' | |
Followern in Nah und Fern, an den Akademien und weit weg davon, immer | |
wieder [4][enorm wichtig].) | |
Mit Moses gemein hat Leo einen Hang zur Polemik, einem schreiberischen | |
Mittel also, das Erkenntnisfunken sprühen lassen kann und das hier auch | |
immer wieder tut – aber manchmal eben auch nicht. Wer für etwaiges | |
Unbehagen am Buch und seinem Inhalt einen Ansatzpunkt braucht, könnte ihn | |
finden im Befund, dass Leo mitunter einer ihrerseits dem Thema nicht | |
angemessene Flapsigkeit verfällt. | |
Wenn er nun im „Philosophischen Café“ in Hamburg über eine „Kritik des | |
Erinnerns“ spricht, hat er also kein perfektes, aber im guten Sinne Unruhe | |
stiftendes Buch im Gepäck: Keines, dass dem Verdrängen zuarbeitet oder gar | |
dem Leugnen. Sondern eines, das nach neuen, nach der Zeit gemäßen Weisen | |
des Erinnerns sucht – und dabei, ja: auch mal daneben greift. Es gibt | |
wahrlich Schlimmeres. | |
8 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /!s=%22per+leo/ | |
[2] /Kolumne-Der-Rote-Faden/!5548969 | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=H1b7mwSXyxU | |
[4] https://www.freitag.de/autoren/ghanloser/die-faelscherwerkstaetten-der-berl… | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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