# taz.de -- Essay „People Love Dead Jews“: Die Lebenden und die Toten | |
> Die offizielle Trauer um jüdische Opfer dient allein dem Seelenfrieden | |
> der Trauernden, schreibt die US-Autorin Dara Horn. Ihr Essay-Band ist | |
> erhellend. | |
Bild: Juden als Geister der Vergangenheit: Installation im jüdischen Museum de… | |
Manchmal ist der eigene Körper das Geisterhaus eines anderen. Andere | |
Menschen sehen dich an und können nur die Toten sehen.“ Mit diesen Sätzen | |
beginnt Dara Horns preisgekrönter Essay-Band „People Love Dead Jews“, der | |
bislang leider nur in englischer Sprache vorliegt. | |
Nach fünf zum Teil sehr erfolgreichen Romanen ist der Band nun ihr erstes, | |
für ein breiteres Publikum geschriebenes Sachbuch. Er umfasst mehrere | |
Essays, die in unterschiedlichen Kontexten bissig die nichtjüdische | |
Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden kommentieren. | |
Obwohl die Perspektive Horns unverkennbar eine amerikanisch-jüdische ist, | |
ist ihr Blick nicht nur auf Nordamerika gerichtet, sondern macht | |
beispielsweise auch das [1][Anne-Frank-Haus in Amsterdam], die virtuelle | |
Rekonstruktion zerstörter Synagogen im Nahen Osten oder das Jüdische Museum | |
im chinesischen Harbin zum Gegenstand ihrer Analyse. | |
In einer Zeit, da in Deutschland vermehrt geschichtspolitische Debatten | |
über angeblich nicht mehr „zeitgemäße“ Formen des Erinnerns aufbrechen, | |
sind Horns Essays ein wichtiges Korrektiv. Sie zeigen, dass Jüdinnen und | |
Juden in der globalen Gedenkkultur nur mehr als Gespenster vorkommen. „Die | |
Leute lieben tote Juden – lebende nicht so sehr.“ | |
## Fixierung auf Jüdinnen und Juden als Opfer der Geschichte | |
Die Autorin, die neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auch jüdische | |
Literatur in Harvard und an der Yeshiva-University in New York gelehrt hat, | |
registriert rund um den Globus eine fast obsessive Fixierung auf Jüdinnen | |
und Juden als Opfer der Geschichte. | |
Die Einsicht, dass diese die Vergangenheit aktiv mitgeprägt haben, werde | |
dabei häufig ebenso als störend empfunden wie das lebendige Judentum der | |
Gegenwart, weil es das sinnstiftende Narrativ einer abgeschlossenen | |
Geschichte mit Happy End infrage stelle. Jüdisches Leben, nicht zuletzt die | |
Existenz des Staates Israel, sei eine sichtbare Erinnerung an die | |
Zerstörungen, auf denen die Nachkriegsordnung aufruht. | |
In diesem erweiterten Sinne sei der Holocaust eben nicht abgeschlossen. | |
Seine Folgen wirkten fort, bis in unsere Gegenwart hinein. Doch das | |
[2][Trauern um tote Juden], so Horn, diene einzig dem Seelenfrieden der | |
Trauernden. Gegen den grassierenden Antisemitismus unserer Tage helfe es | |
wenig. | |
Vielmehr würden aktuelle Formen der Judenfeindschaft häufig sogar mit dem | |
Verweis abgetan, das sei ja alles nicht so schlimm – schließlich sei der | |
Holocaust ja viel schlimmer gewesen, und der sei nun mal eine Sache der | |
Vergangenheit. | |
## Anne Frank und ihr Abziehbild | |
Solche Stillstellung der Vergangenheit ist bequem. Sie ist die Grundlage | |
einer Heilsgeschichte, nach der auf die Apokalypse stets der Sieg des Guten | |
folgt. Dorn demonstriert das am Beispiel Anne Franks – der realen jüdischen | |
Schriftstellerin und ihres medialen Abziehbildes. Bewundert werde Frank vor | |
allem für ihren unerschütterlichen Optimismus, wie er in ihrem | |
millionenfach verkauften Tagebuch zum Ausdruck kommt. | |
Dass sich dieser Optimismus im Nachhinein als grundlos herausstellte, weil | |
Frank im Februar oder März 1945 an den vorsätzlich katastrophalen | |
Haftbedingungen im KZ Bergen-Belsen starb (das genaue Datum und die genaue | |
Todesursache sind bis heute unbekannt), spielt in der öffentlichen | |
Wahrnehmung jedoch kaum eine Rolle. | |
„Die am häufigsten zitierte Zeile aus Franks Tagebuch sind ihre berühmten | |
Worte: ‚Trotz allem glaube ich noch immer, dass die Menschen tief in ihrem | |
Herzen gut sind.‘ Diese Worte“, so Horn, „sind ‚inspirierend‘, d. h. … | |
schmeicheln uns. Sie geben uns das Gefühl, dass uns die Verfehlungen | |
unserer Zivilisation, die haufenweise ermordete Mädchen zulassen, verziehen | |
werden – und wenn diese Worte von einem ermordeten Mädchen stammen, dann | |
müssen wir ja wohl freigesprochen werden, denn sie müssen ja wahr sein.“ | |
Zu Recht weist Horn darauf hin, dass dieses „Geschenk der Gnade und der | |
Absolution“ eine uralte christliche Sehnsucht ist. Es sei „viel | |
befriedigender zu glauben, dass ein unschuldiges totes Mädchen uns Gnade | |
geschenkt hat, als das Offensichtliche zu erkennen: Frank schrieb über | |
Menschen, die ‚tief in ihrem Herzen gut sind‘ sind, bevor sie Menschen | |
traf, die es nicht waren. Drei Wochen, nachdem sie diese Worte geschrieben | |
hatte, begegnete sie Menschen, die es nicht waren.“ | |
## Jüdische Geschichte der chinesischen Stadt Harbin | |
Ein weiteres Kapitel von Horns Buch handelt von der jüdischen Geschichte | |
der chinesischen Stadt Harbin in der Mandschurei und ihrer heutigen | |
staatlich betriebenen Vermarktung. Als Harbin um die Wende zum 20. | |
Jahrhundert zum Verwaltungszentrum für den Ausbau der Transsibirischen | |
Eisenbahn wurde, siedelten sich Tausende aus dem Russischen Reich stammende | |
Juden an, wo sie Opfer von Verfolgung und Unterdrückung gewesen waren, und | |
machten die Stadt zu einem urbanen und kulturellen Zentrum. | |
1909 wurde die Hauptsynagoge eingeweiht, in den 1920er Jahren lebten über | |
20.000 Juden in Harbin. Hundert Jahre später ist die Synagoge aufwändig | |
restauriert und in eine Konzerthalle umfunktioniert worden. Gemeinsam mit | |
dem Harbin Museum of Jewish History and Culture, das in der 1921 | |
eingeweihten Neuen Synagoge untergebracht ist, bildet das instandgesetzte | |
ehemalige Gotteshaus das Zentrum des denkmalgeschützten jüdischen Viertels | |
der Stadt. | |
Jüdinnen und Juden leben dort allerdings nicht mehr. Nach der | |
Oktoberrevolution flohen auch zahlreiche russische Konterrevolutionäre nach | |
Harbin, wo sie eine faschistische und radikal antisemitische Partei | |
gründeten. 1931 steckten sie die Hauptsynagoge in Brand. Im selben Jahr | |
fiel die japanische Armee in die Stadt ein. | |
## Zionistische Bewegung verfolgt | |
Unter japanischer Herrschaft begann für Jüdinnen und Juden eine Zeit der | |
Unterdrückung und des Terrors. Viele von ihnen flohen nach Schanghai, | |
Palästina und Nordamerika. Als Harbin 1945 für neun Monate unter | |
sowjetische Herrschaft geriet, wurde die Unterdrückungspolitik von den | |
neuen Machthabern unter neuer Programmatik fortgesetzt. Vor allem die | |
zionistische Bewegung, die lokal stark verankert war, wurde massiv | |
verfolgt, Hunderte Juden in Arbeitslager verschleppt. | |
Als schließlich 1949 die chinesischen Maoisten die Kontrolle übernahmen, | |
lebten nur noch etwa 1.000 Juden in der Stadt. Auch von den neuen | |
Machthabern wurden sie drangsaliert, ihrer Habe beraubt und in den neu | |
gegründeten Staat Israel getrieben. 1963 wurde die letzte jüdische | |
Einrichtung geschlossen. Die chinesische Regierung beschlagnahmte und | |
verstaatlichte alle Gemeindebauten und eignete sich unter sozialistischen | |
Vorzeichen das Eigentum der emigrierten Bürger an. | |
Von all dem sei im heutigen jüdischen Disneyland nichts zu sehen, berichtet | |
Horn. Stattdessen werde die Rekonstruktion des jüdischen Harbin genutzt, um | |
Touristen anzulocken und ein positives Bild von China zu verbreiten. „Das | |
jüdische Volk hat in der Vergangenheit lange Zeit unter Verfolgung | |
gelitten, aber es hat in China eine Heimat gefunden und wurde von den | |
Chinesen gut behandelt“, sagt etwa Chen Haosu, Präsident der chinesischen | |
Regierungsorganisation Volksvereinigung für Freundschaft mit dem Ausland. | |
Dieses Narrativ, das sich auch im Shanghai Jewish Refugees Museum findet, | |
hat mit der realen Geschichte der Juden im kommunistischen China nur wenig | |
zu tun. Es hilft dem autoritären Staat aber, sich als Gegenmodell zum | |
antisemitischen Westen und Japans zu inszenieren. | |
## Juden nur als Gespenster der Vergangenheit | |
So wie im ehemaligen jüdischen Viertel Harbins Juden nur als Gespenster der | |
Vergangenheit auftauchen, seien die heutigen Juden im Kopf vieler Chinesen | |
lediglich Imaginationen. Die meisten Chinesen, merkt Horn an, wüssten so | |
gut wie nichts über Juden oder das Judentum. Sie zitiert Lihong Song, | |
Professor für Jüdische Studien an der Universität Nanjing, mit den Worten, | |
die erste Assoziation seiner Studenten bei dem Wort „Juden“ sei deren | |
Klugheit und Reichtum. | |
Solches „Wissen“ kommt nicht von ungefähr: Die Regale chinesischer | |
Buchläden sind vollgestopft mit Titeln wie „Unveiling the Secrets of Jewish | |
Success in the World Economy“, „What’s Behind Jewish Excellence?“, „T… | |
Financial Empire of the Rothschilds“, „Talmudic Wisdom in Conducting | |
Business“ und „Talmud: The Greatest Jewish Bible for Making Money“. | |
Diese Form der Judeophilie, die auch in Südkorea weit verbreitet ist, wo | |
gekürzte Talmudausgaben regelrechte Bestseller sind, klingt zunächst | |
weniger dramatisch als die mitunter tödliche Judenfeindschaft in Europa, | |
Nordamerika oder im Nahen Osten. | |
Aber Horn weist darauf hin, dass enttäuschte Liebe leicht in ihr Gegenteil | |
umschlagen kann. Was also, wenn das nächste Geschäft trotz eingehenden | |
„Talmud“-Studiums floppt? Und was, wenn die erwarteten Millionen von | |
jüdischen Touristen ausbleiben, die Harbin besuchen sollen? Was, wenn der | |
Staat Israel fortfährt, den schleichenden Genozid an den Uiguren | |
anzuprangern, oder gar im Falle eines Angriffs Partei für das bedrohte | |
Taiwan ergreift? | |
## Hilfloser Philosemitismus | |
Diese Fragen führen zurück zur Situation in Deutschland. Auch hierzulande | |
ist eine bestimmte Form des Philosemitismus in gebildeten Kreisen durchaus | |
verbreitet. Als Objekte der nationalen Gedenkkultur, die die | |
Wiedergutwerdung der Deutschen unter Beweis stellt, nehmen die im Holocaust | |
Ermordeten eine wichtige sinnstiftende Funktion ein. Auch das „blühende | |
Gemeindeleben“ wird in offiziellen Ansprachen gerne als „unverdientes | |
Geschenk“ gerühmt. | |
Doch sobald Jüdinnen und Juden sich kritisch zu Wort melden und auf | |
antisemitische Hetze und Gewalt im heutigen Deutschland hinweisen, heißt es | |
nur allzu oft: „Habt euch nicht so! Wir haben die Vergangenheit hinter uns | |
gelassen, wir müssen uns nun neuen globalen Herausforderungen stellen!“ | |
Im Kontext des sogenannten Historikerstreits 2.0 forderten die Wortführer | |
der neuen erinnerungspolitischen Initiative, Deutschland müsse sich | |
„entprovinzialisieren“, und meinten damit, den Holocaust endlich in eine | |
allgemeine Gewaltgeschichte des kolonialen Westens einzuordnen – und damit | |
zu nivellieren. Dara Horns Buch zeigt, dass das Hauptproblem der globalen | |
Gedenkkultur nicht die Konkurrenz von Opfernarrativen ist, sondern die | |
Instrumentalisierung der jüdischen Geschichte für allerlei | |
Gutwerdungserzählungen. | |
Der Autor ist Historiker an der University of California in Berkeley. | |
3 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Lenhard | |
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