# taz.de -- Historikerin Tali Nates über Völkemorde: „Das Chaos des Genozid… | |
> Die Historikerin Tali Nates gründete 2008 das Johannesburg Holocaust & | |
> Genocide Centre. Am Sonntag bekommt sie die Goethe-Medaille verliehen. | |
Bild: Die südafrikanische Historikerin Tali Nates: Ihr Vater konnte von Oskar … | |
taz am wochenende: Tali Nates, in Ihrem [1][Zentrum sind der Holocaust und | |
der Völkermord] in Ruanda 1994 Bestandteile der großen Erzählung von | |
Genoziden im 20. Jahrhundert. Trennt man manches nicht lieber voneinander? | |
Tali Nates: Die Dauerausstellung ist nicht linear, sondern thematisch | |
strukturiert. Nehmen wir den [2][Holocaust als Beispiel]. Normalerweise | |
lautet die Erzählung so: Der Antisemitismus nahm zu, dann wurden die Juden | |
durch Gesetze verfolgt, in Ghettos gebracht, dann in Konzentrationslager, | |
dann in den Tod geschickt, so als ob Geschichte geradlinig verlaufe. Wir | |
wollen das Chaos des Genozids erzählen. In einem der Holocaust-Abschnitte | |
geht es um Entscheidungen und Dilemmas und darum, dass der Holocaust nicht | |
aus dem Nichts kam. Die Menschen trafen Entscheidungen. Mein Vater wurde | |
zum Beispiel von Oskar Schindler gerettet. Oskar Schindler selbst war | |
anfangs ein Täter. Dann machte er eine Veränderung durch und am Ende | |
rettete er Leben. | |
In Gil Courtemanches Roman „Ein Sonntag am Pool in Kigali“ über den | |
Völkermord in Ruanda vergleicht eine der Figuren die ermordeten Tutsi mit | |
den Juden. Wenn Sie verschiedene Völkermorde nebeneinanderstellen, greifen | |
Sie so nicht die Singularität der Schoah an? | |
Eines haben Völkermörder auf der ganzen Welt bisher mit Sicherheit gelernt: | |
Sie werden kein zweites Auschwitz bauen. Der Holocaust war sicherlich ein | |
beispielloses Ereignis. Aber in Ruanda wurden innerhalb von drei Monaten | |
etwa eine Million Menschen von Familienmitgliedern, Priestern, Nonnen und | |
Nachbarn getötet. Auch das ist ein Schlüsselereignis, aus dem wir lernen | |
müssen, denn ich denke, dass dies in der heutigen Welt häufiger vorkommt | |
als Auschwitz. Wir befinden uns in Südafrika. Südafrika war während der | |
Apartheid keine Demokratie. Die Erklärung der Menschenrechte haben wir erst | |
1998 unterzeichnet. Als 1994 der Völkermord in Ruanda stattfand, richteten | |
die Medien ihren Blick auf uns. | |
Auf die ersten freien Wahlen in Südafrika. | |
Sie berichteten über Nelson Mandela, nicht über Ruanda. Ich, als Angehörige | |
der zweiten Generation von Holocaust-Überlebenden, begriff damals nicht | |
sofort, was in Ruanda geschah. Wenn wir verfolgen, was derzeit in Äthiopien | |
oder in der Ukraine passiert, müssen wir innehalten: 4 Millionen | |
Flüchtlinge? Was ist dort los? Es gibt genug Ereignisse, die wir | |
miteinander verbinden sollten, aber wir tun es nicht, weil wir sagen: Nein, | |
die Geschehnisse sind einzigartig. Wir können sie nicht anrühren. Aber wenn | |
wir sie nicht anrühren, wie können wir dann daraus lernen? | |
Warum brauchte gerade Südafrika dieses Museum? | |
Ich wurde in Israel als Tochter von Holocaust-Überlebenden geboren. Mein | |
Vater war als Teenager in sechs Konzentrationslagern. Ich bin mit seinen | |
Geschichten aufgewachsen, unvollständigen Geschichten, weil er sehr | |
traumatisiert war und nicht darüber sprechen konnte. Nach meinem | |
Geschichtsstudium habe ich über 20 Jahre lang mit Tutsi-Überlebenden des | |
Völkermords in Ruanda gearbeitet, die zur medizinischen Versorgung nach | |
Südafrika kamen. Im Jahr 2007 wurde dann der Holocaust als Pflichtthema in | |
den südafrikanischen Lehrplan aufgenommen. | |
Erst 2007? | |
Wir waren in den Zweiten Weltkrieg verwickelt, aber nur am Rande, und die | |
Idee des Bildungsministeriums war es, das Lernen über den Holocaust als | |
Ausgangspunkt zu nutzen, um über unsere eigene Geschichte, über die | |
Apartheid, zu sprechen. Mit der Änderung des Lehrplans gab es plötzlich | |
Hunderttausende von Schülern, die dieses Fach belegten, und im Grunde nur | |
ein kleines Holocaust-Bildungszentrum in Kapstadt. Also sagte unsere NGO: | |
Lasst uns ein Zentrum schaffen, das historische Ereignisse miteinander | |
verbindet. Und genau das tun wir. Wir befassen uns mit dem Völkermord im | |
20. Jahrhundert, beginnend mit Namibia, Südwestafrika, und enden in Ruanda. | |
In der temporären Ausstellung befassen wir uns vor allem mit aktuellen | |
Themen. | |
Völkermorde werden auch noch heute begangen, etwa als der IS 2014 Tausende | |
Jesid:innen ermordete. Haben wir aus vergangenen Genoziden gelernt? | |
Der amerikanische Professor für Völkermordforschung Gregory Stanton hat ein | |
System aus zehn Stufen des Völkermords entwickelt, das uns hilft, | |
Warnzeichen zu erkennen. Ich glaube, was sich im Laufe der Jahre geändert | |
hat, ist, dass wir diese Verbindungen schneller herstellen. In der Ukraine | |
werden gerade Beweise für Kriegsverbrechen gesammelt. Das ist in Myanmar | |
oder im Irak nicht geschehen. Wir sind dabei, bestimmte Anzeichen früher zu | |
erkennen oder zumindest darüber zu sprechen. Sind wir schon am Ziel? Nein, | |
aber wir bewegen uns. | |
Der ukrainische Präsident Selenski hat das Massaker von Butscha als | |
Völkermord bezeichnet, was Experten zufolge nicht zutrifft. Wie wichtig ist | |
der Begriff des Genozids? | |
Der Begriff wurde erst 1944 von Raphael Lemkin, einem Juristen aus der | |
heutigen Ukraine, geprägt. Er wurde bei den Nürnberger Prozessen verwendet, | |
war aber nicht Teil des Rechtssystems. Im Jahr 1948 wurde er als | |
Straftatbestand in das internationale Strafrecht aufgenommen. Von der | |
Erfindung des Wortes bis zur Verabschiedung eines Rechtssystems sind also | |
nur vier Jahre vergangen. Das Problem mit dem Begriff des Völkermords ist, | |
dass er für politische Zwecke benutzt wird. Man muss zur Definition der | |
Absicht zurückkehren, eine Gruppe von Menschen ganz oder teilweise zu | |
vernichten. Das ist zum Beispiel in Butscha nicht der Fall. Das heißt aber | |
nicht, dass es sich nicht um ein Kriegsverbrechen oder sogar ein Verbrechen | |
gegen die Menschlichkeit handelt. Es ist interessant, dass nicht nur | |
zwischen historischen Ereignissen, sondern auch zwischen Definitionen ein | |
Wettbewerb herrschen kann: Wenn wir von Völkermord sprechen, horchen alle | |
auf, was auch nicht hilfreich ist. | |
Der Holocaust und der Genozid in Ruanda waren sehr brutale Verbrechen. Die | |
Völkermorde mit den höchsten Opferzahlen waren jedoch passiver, wie der | |
Große Sprung nach vorn in China oder der Holodomor in der Ukraine. Macht | |
das einen Unterschied? | |
Beim Völkermord geht es nicht um Zahlen. Erst vor einem Monat war ich in | |
Srebrenica, in Bosnien-Herzegowina, wo 1995 knapp 9.000 Jungen und Männer | |
ermordet wurden. Das hört sich nach einer verhältnismäßig kleinen Zahl an. | |
Trotzdem handelt es sich um einen Völkermord, denn es bestand die Absicht, | |
diese Gruppe zu vernichten. Es geht auch nicht um die Art des Tötens. Es | |
geht um die Absicht und die systematische Tötung. Die Absicht gründet sich | |
auf Hass. Es beginnt oft mit Worten, mit „Othering“, mit individuellen | |
Entscheidungen, die getroffen werden: Es ist legal zu töten, also töte ich. | |
Oder: Mir wurde gesagt, ich solle töten. Für uns in Südafrika, einem Land, | |
das wirklich unter „Othering“ gelitten hat, ist es wichtig, die Absichten | |
hinter Genoziden zu verstehen. | |
Lassen Sie uns vom Begriff des Genozids zum Begriff der Apartheid | |
übergehen, der heutzutage auch von Israel-Kritikern und von Amnesty | |
International genutzt wird, um die Siedlungspolitik im Westjordanland | |
darzustellen. | |
Die Apartheid als Politik in Südafrika wurde von der internationalen | |
Gemeinschaft als Verbrechen anerkannt. Es ist ein Wort aus dem Afrikaans, | |
mit dem Menschen voneinander getrennt werden, aber es war auch ein | |
Rechtssystem. Die Apartheid war ein Rassenstaat, der in Gesetzen, im | |
Bildungssystem, in bestimmten ideologischen Zügen Ähnlichkeiten zu | |
Nazideutschland aufwies. Einige der Premierminister der Apartheid haben in | |
Nazideutschland studiert, darunter Balthazar Johannes Vorster. Auch hier | |
geht es mir um den Mangel an Wissen: Wir verwenden manchmal Worte auf eine | |
nachlässige Art, weil es richtig klingt, weil es Ungerechtigkeit gibt. Und | |
wir denken, dass diese Ungerechtigkeit als Völkermord oder als Apartheid | |
bezeichnet werden muss. Ich bin keine Politikwissenschaftlerin, aber ich | |
denke, es gibt andere Worte, um zu beschreiben, was in Israel und Palästina | |
geschieht. | |
27 Aug 2022 | |
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[1] https://www.jhbholocaust.co.za/ | |
[2] /Tagebuecher-junger-Juden-und-Juedinnen/!5870207 | |
## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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