# taz.de -- Schuldige und Schuldkomplexe: Phasen des Zusammenzuckens | |
> Die Angst vor Corona weicht gerade anderen Ängsten. Auch alte Reflexe | |
> schnappen wieder zu. Klar ist: Stärkere Mächte sind nicht per se die | |
> Schlechten. | |
Bild: Menschen, die freiwillig einen gelben Stern tragen, jagen mir eine gräss… | |
Gefühlsmäßig geht’s ja seit März rund. In meinem Kopf, aber wenn ich mich | |
so umgucke, auch all around the world. Klar, jeden treibt was anderes an | |
und um, für mich gab es bisher drei Phasen: Erst kam die Angst. Nicht um | |
mich, aber um meine Eltern, um all die Menschen in meinem Umfeld, die ich | |
von Covid-19 unmittelbar bedroht sah. | |
Eine auf andere projizierte Todesangst war das, sie war immer da und ließ | |
mich nachts nicht schlafen, bis sie irgendwann verblasste und Phase zwei | |
einsetzte: euphorische Ruhe. All das pandemieverordnete Weniger, wurde mir | |
klar, ist, zumindest für mich, ein existenzielles Mehr. Weniger Gewusel, | |
weniger Monologe, die einem andere ungefragt ins Ohr drehen, mehr Zeit für | |
alles Mögliche. Klar, ich schämte mich dafür, als Luxus zu empfinden, was | |
andere in tiefe Einsamkeit und wirtschaftlichen Ruin treibt. Der Euphorie | |
war die Scham egal, aber dann kam Phase drei: die Scham. | |
Nicht mehr nur die über meinen Shutdown-Egoismus, sondern mehr und mehr | |
über einige Mitmenschen, die glauben (und das auch gern in jede Kamera | |
rotzen), dass es doch verdammt noch mal Leute geben muss, [1][die an dieser | |
insgesamt doch recht misslichen Lage schuld sind]. | |
Ohne Schuldige, (am besten irgendwelche leicht zu dämonisierenden | |
Stärkeren) scheint es, ist das alles für einige mal wieder nicht zu | |
ertragen, und wenn es nicht Merkel allein ist, [2][dann mindestens Bill | |
Gates] und – na ja, Sie wissen schon. | |
Könnten mir die paar Tausend Spinner nicht egal sein? Nein, hier schließt | |
sich der Kreis zu Phase eins: Menschen, die freiwillig einen gelben Stern | |
tragen, in dem statt des Worts „Jude“ „ungeimpft“ steht, jagen mir | |
unerträgliche Angst ein, weil sie eben nicht einfach den Verstand verloren | |
haben, sondern vielmehr – zur monströsen Karikatur geronnen – das auf die | |
Spitze treiben, was wir Deutschen (ich sag das jetzt mal so pauschal, weil | |
ich mich einschließe, Ausnahmen sind natürlich ausgenommen) seit | |
Jahrzehnten praktizieren: Schuldabwehr. | |
Ich würde – steile These, ich weiß – mal behaupten, keiner, der in den | |
vergangenen 75 Jahren hier aufgewachsen ist, hat sich nicht mit der Frage | |
der Kollektivschuld beschäftigt, mit der Verantwortung, die die | |
Vergangenheit für uns heute bedeutet, und irgendeinen Schluss für sich | |
daraus gezogen. Allermeistens in bester Absicht. Die Schlüsse reichen von | |
wortreicher Wiedergutmachungsrhetorik bis hin zu Über-Empathie mit | |
bestimmten Menschengruppen; ich würde sagen, alles fast immer getrieben vom | |
Wunsch, endlich gut zu sein. Offene Schuldabwehr findet man eigentlich nur | |
bei echten Nazis. | |
Und trotzdem finden sich Impulse zur Schuldumkehr und antisemitische | |
Grundmuster – trotz all unserer Anstrengungen – auch weit weit entfernt von | |
Spinnern und Nazis. Sie finden sich bei Menschen, denen ich ein eigentlich | |
gutes Herz und gute Absichten unterstelle, ja, wahrscheinlich fände ich | |
sie, wenn ich gründlich nachguckte, auch in meinem eigenen Kopf. | |
## Muss man diskutieren | |
Sie finden sich etwa in der jüngsten Debatte über die Frage: Darf ein | |
[3][postkolonialer Philosoph Israels Politik gegenüber den Palästinensern | |
schlimmer finden als das Apartheidregime in Südafrika?] Oder: Wird Israels | |
neue Regierung jetzt das Jordantal annektieren? Muss man diskutieren, keine | |
Frage. Was mich zusammenzucken lässt, ist der scharfe, unerbittliche | |
Tonfall, der in Debatten über andere Nationen fehlt. | |
Es ist die selbstverständliche Abwertung, mit der Israel seine militärische | |
Stärke vorgeworfen wird, als wäre die nicht traurig notwendig. Stärke, die | |
man anderen Ländern, selbst Iran, sehr wohl zugestehen möchte. Es ist die | |
manische Fixierung, mit der auf Israels Verhalten gestarrt wird, während | |
Menschenrechtsverletzungen seitens seiner Nachbarländer, teils ohne Furor | |
zu erregen, durchgehen. | |
Über derlei Ungleichheit zusammengezuckt, habe ich also diese Woche an | |
Delphine Horvilleurs fabelhafte „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“ | |
gedacht, in deren Vorwort die französische Rabbinerin schon in wenigen | |
Sätzen das Muster umreißt, das auch – mal leiser, mal lauter – die | |
deutschen Debatten über Israel mitprägt: Anders als der Rassismus, der „den | |
Anderen“ abwertet, wirft der Antisemitismus den „Anderen“ vor, mehr zu | |
haben. Selbst mehr Leid: „Wenn sie (die Juden), schwer getroffen wieder | |
aufstehen“, schreibt Horvilleur, „rufen sie es ihrem Henker in Erinnerung | |
und zwingen ihn, sie noch mehr dafür zu hassen, schwerer als er selbst | |
gelitten zu haben. Sogar hier verfügen sie über ein ‚Mehr‘, das uns etwas | |
vorenthält: In jenem Überschuss an sichtbarem Leid, das uns die Frage | |
aufdrängt, weshalb nicht auch wir die Ehre einer tränenreichen | |
Vergangenheit gehabt haben.“ | |
Klar, um individuelle Schuld am Holocaust geht es 75 Jahre später nahezu | |
nicht mehr. Wer aber glaubt, der Stärkere sei immer und per se der | |
Schlechte und der Schwächere immer einwandfrei zu identifizieren, macht es | |
sich viel zu leicht, wenn es um Israel und Antisemitismus geht. | |
24 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ariane Lemme | |
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