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# taz.de -- Buch über Postmoderne und Antisemitismus: Ein Versagen der Theorie?
> Hat die postmoderne Theorie den Antisemitismus befördert? Bruno Chaouats
> viel beachtetes Buch gibt eine differenzierte Analyse.
Bild: Da geht was durcheinander: Pro-Palästina-Demo an der Humboldt Uni zu Ber…
[1][Am 2. Juli protestierten 70 Hochschullehrende mit einer Stellungnahme
gegen Antisemitismus an deutschen Universitäten]. Dass ein solcher Protest
notwendig ist, zeigt die beschämende Situation von jüdischen Lehrenden,
Forschenden und Studierenden in Deutschland.
Wenn die Verurteilung von [2][Antisemitismus an deutschen Bildungs- und
Forschungseinrichtungen] keine Selbstverständlichkeit mehr ist, wirft das
in aller Dringlichkeit die Frage auf, in welchem Verhältnis das, was dort
getrieben wird, zum Antisemitismus steht.
Es ist daher sehr erfreulich, dass in der Edition Tiamat nun Bruno Chaouats
bereichernde Studie „Ist Theorie gut für die Juden?“ in deutscher
Übersetzung von Christoph Hesse erschienen ist. Chaouat, Professor für
französische Literatur an der Universität Minnesota, geht hier der Frage
nach, warum die in den USA unter dem Label French Theory versammelten
Theorien der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus, die Kultur- und
Geisteswissenschaften bis heute wesentlich beeinflussen, angesichts eines
erstarkenden Antisemitismus versagt haben.
Chaouat behauptet nicht, die French Theory sei für das Erstarken des
Antisemitismus verantwortlich. Er belegt aber in überzeugender
Auseinandersetzung mit Texten von Giorgio Agamben, Enzo Traverso, Judith
Butler und anderen, dass die French Theory „strukturell schlecht gerüstet“
ist, um dem erstarkenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen. Vielmehr
habe sie „angemessene Antworten auf das Wiederaufleben des Antisemitismus
verhindert“ und ihn „unfreiwillig befördert“.
## Doktorand bei Lyotard
Chaouats Studie überzeugt vor allem dadurch, dass er sehr differenziert
argumentiert. Das hängt damit zusammen, dass seine Arbeit in Teilen auch
eine Aufarbeitung der eigenen intellektuellen Biografie ist: Einst
Doktorand bei [3][Jean-François Lyotard], war Chaouat begeisterter Anhänger
der Dekonstruktion.
Gerade die besondere Rolle, die hier einem idealisierten Diaspora-Judentum
zugesprochen wurde, zog ihn an: Geprägt von den Vorstellungen, die sich der
französische Philosemitismus von den Juden machte, wurden die Juden der
Diaspora zu „einer Art innerem Äußeren der abendländischen Kultur“
idealisiert, das „Ordnung, Staatsgebiet und Grenzen“ untergrabe.
Sich selbst „als ein Prinzip von Marginalität und irreduzibler Differenz zu
betrachten“, was ja das zentrale Motiv der sich damals auf ihrem Höhepunkt
befindlichen Dekonstruktion bildete, faszinierte den jungen Chaouat. Er
erinnert sich, durchaus nostalgisch, aber nicht ohne Distanz, an eine
„glückliche Epoche“, „in der die jüdische Differenz irgendwie mit der
Derrida’schen différence zusammenfiel“, Lektüre und Dekonstruktion
französischer Literatur als jüdische, gar rabbinische Praxis galten.
## Idealisierung der Juden
Doch führte gerade diese Idealisierung der Juden zum Versagen der French
Theory angesichts des Antisemitismus. Von den mit Differenz,
Grenzüberschreitung und Deterritorialisierung identifizierten Juden der
Diaspora wurden bald die den Weg der Reterritorialisierung wählenden Juden
abgespalten, die zionistischen.
Während – in einer Verkehrung antisemitischer Zuschreibungen ins Positive –
das nationalstaatliche Ordnung und Grenzen zersetzende Diaspora-Judentum
affirmiert wurde, erklärte man den Zionismus, der zum Schutz jüdischen
Lebens gerade auf nationalstaatliche Souveränität setzt, zum reaktionären
Anachronismus.
Die Zerschlagung des jüdischen Staats erscheint so als legitimes Ziel, wie
Chaouat unter anderem in seiner überzeugenden Kritik an Judith Butlers „Am
Scheideweg“ zeigt. Kein Wunder also, dass eine solche Theorie vor dem
gegenwärtigen Antisemitismus, der sich antizionistisch gibt, versagt oder
gar zu seiner Verbreitung beiträgt.
Und doch verteidigt Chaouat bei aller Kritik die ursprünglichen Motive der
Dekonstruktion gegen die antiintellektuelle Ablehnung eines auf Komplexität
und Nuanciertheit zielenden Denkens und die Regression dieses Denkens
selbst.
## Kein Ende der Theorie
Er hält daran fest, dass etwa Derrida sich Vereinfachungen, wie sie von
einigen seiner heutigen Adepten verbreitet werden, entschieden
entgegengestellt hätte: „Das Ende der Theorie“, das Chaouat in seinem
Vorwort zur deutschen Ausgabe aus dem Januar 2024 konstatiert, sei ganz
sicher „schlecht für die Juden“. Die von der Theorie geforderte Ambivalenz
im Denken steht im Gegensatz zu dem, was an den Universitäten derzeit zu
beobachten ist. Chaouats inspirierendem Buch wäre also insbesondere dort
große Beachtung zu wünschen.
15 Oct 2024
## LINKS
[1] https://profs-against-antisemitism.de/
[2] /Proteste-an-der-Columbia-University/!6004757
[3] /100-Jahre-Jean-Francois-Lyotard/!6026027
## AUTOREN
Benjamin Schlodder
## TAGS
Theorie
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