# taz.de -- Kampf gegen Diskriminierung: Die neue Unerbittlichkeit | |
> Der Kampf gegen Diskriminierung hat zwei Gesichter: notwendigen | |
> Widerstand und überschießenden Exzess. Das macht ihn zutiefst ambivalent. | |
Bild: Raleigh im Juni: Demonstranten ziehen eine Figur von einem Konföderierte… | |
Die Intensivierung des Kampfes gegen Diskriminierung, das Ringen um | |
Political Correctness und Identitätspolitik – all diese Aufladungen, die | |
wir derzeit beobachten, haben die Tendenz, sich auf eine Frage zuzuspitzen: | |
Bist du dafür oder dagegen? | |
Aber diese Art der Fragestellung ist irreführend. Denn sie verdeckt, dass | |
es zwei Kämpfe, zwei Gesichter dieser Auseinandersetzung gibt. Das eine ist | |
das Gesicht des Kampfes gegen Ungerechtigkeit. [1][Zu diesem Gesicht | |
gehören etwa die derzeitigen US-Demonstrationen, die an der Polizeigewalt | |
den grassierenden Rassismus aufzeigen]. Und dazu gehört auch das Echo | |
dieses Aufschreis, das in Europa nachhallt als neues Bewusstsein der | |
eigenen verdrängten Kolonialgeschichte. | |
Zugleich gibt es das andere Gesicht dieses Kampfes. Jenes, wo es nicht um | |
Rechte, sondern um Meinungen geht. Hier ufert der Einspruch aus. Hier | |
bekommt er dogmatische, ja fanatische Züge. Das Eintreten gegen Rassismus, | |
gegen Diskriminierung ist also gespalten. Man könnte auch sagen: Es ist | |
zutiefst ambivalent. Diese Ambivalenz, diese zwei Gesichter treten auch | |
noch gleichzeitig auf. Ja, sie gehen teilweise sogar ineinander über. Und | |
oft ist es schwierig, die Grenze zu ziehen. Und dennoch. | |
Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen dem Kampf gegen manifesten | |
Rassismus, Diskriminierung, Gewalt – und jenen gegen einen unterstellten. | |
Man ist fast versucht zu sagen: Es gibt einen rationalen und einen | |
irrationalen Kampf. Das ist der Unterschied zwischen notwendigem Widerstand | |
und überschießendem Exzess. | |
## Wo der Verdacht ausreicht | |
Derzeit präsentieren sich beide Varianten als Herabstoßen alter Autoritäten | |
von ihrem Sockel – metaphorisch und wörtlich. Es ist wichtig, hier | |
festzuhalten: Der Unterschied liegt nicht darin, ob man gegen große | |
Autoritäten oder gegen kleine Wörter – wie etwa das N-Wort – vorgeht. Auch | |
in Wörtern, Abbildern, Filmen finden sich sedimentierte Hierarchien und | |
Abwertungen. Sie dienen den kleinen diskriminierenden Alltagsentladungen. | |
Der Exzess aber liegt woanders. Er setzt dort ein, wo ein Verdacht | |
ausreicht, wo Meinungen geahndet werden. Ahnden – das ist das entscheidende | |
Stichwort. Der wahre Exzess beginnt dort, wo an die Stelle der alten | |
Autoritäten nicht einfach Freiheit, Gleichberechtigung, Inklusion tritt – | |
sondern eine neue Autorität. Eine, die Vergehen ahndet. Diese neue | |
Autorität ist nicht personalisiert. Sie hat keinen Sprecher. Keine Adresse. | |
Hier wird die Grenzziehung zusätzlich erschwert. Denn beide Formen von | |
Antirassismus funktionieren über dieselbe Art von Politik: eine | |
deregulierte Politik. Dereguliert heißt, sie tritt plötzlich auf. | |
Unerwartet. Dereguliert heißt, dass es keine institutionelle Organisation | |
gibt: Die politischen Energien treten unkanalisiert und eruptiv auf. Das | |
macht ihre Vehemenz aus. | |
## Streng. Strafend. Unnachgiebig. Das neue Über-Ich | |
Dereguliert heißt auch, dass es keinen vorexistierenden politischen Akteur | |
gibt. Es sind Einzelne, die sich zu Netzwerken formieren, zu Gruppen, zu | |
Massen, zu einem Hashtag. Diese Hashtag-Politik hat keine geregelten Formen | |
der Konfliktaustragung. Keine vorgegeben Orte der Auseinandersetzung. Dort | |
aber, wo der Exzess beginnt, dort kippt sie: von einer heterogenen, | |
dezentralen, führerlosen Bewegung in ihr Gegenteil: in die Implementierung | |
eines neuen gesellschaftlichen Über-Ichs. | |
Auch Kulturen haben, so Freud, ein solches Über-Ich. Das ist jene Instanz, | |
die genau das leistet, was der Exzess an Political Correctness betreibt: | |
Beobachtung, Kontrolle, Urteil, schlechtes Gewissen, Tabus, Ahndung der | |
Abweichung vom Ideal. Streng. Strafend. Unnachgiebig. Mit einer Tendenz zum | |
Ausufern. Es war ein schönes Stück – gesellschaftlicher, kultureller, | |
politischer – Arbeit, das alte Über-Ich mit seinen Normierungen und | |
Vorschriften abzubauen. | |
Umso erstaunlicher ist das Aufrichten einer neuen strafenden Instanz. Im | |
Exzess zeigt sich das wilde Begehren, die Sehnsucht nach einer neuen | |
Unerbittlichkeit. Hier kippt die liberale Freiheit und offenbart ihre | |
Kehrseite: ein neues kollektives Über-Ich. | |
29 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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