# taz.de -- taz-Kolumne über Polizei: Die Welt ist nicht schwarz-weiß | |
> Welche Bedeutung hat die Frage, wer spricht? Kaum etwas ist für junge | |
> KollegInnen wichtiger als Identität – und das verändert den Journalismus | |
> stark. | |
Bild: Schwarz-weißes Sprechgefängnis | |
Gleich dreimal kam die taz am Montag in den ARD-„Tagesthemen“ vor. Kein | |
Text der vergangenen Jahre hatte [1][so explosive Wirkung] wie die | |
[2][„Müll“-Kolumne] der deutsch-iranischen Autor*in Hengameh Yaghoobifarah. | |
Und schon sehr lange hat sich die Redaktion nicht mehr so gestritten. | |
Nach dem Erscheinen hagelte es interne Distanzierungs- wie | |
Solidarisierungsbekundungen. Und schon bald kam ein Einwurf, der | |
unzutreffend war, aber zeigte, worum es ging: „Interessant finde ich, dass | |
sich bisher ausschließlich Weiße gegen Hengameh positionieren“, schrieb | |
eine Kollegin. Doch tatsächlich verlief der Streit nicht zwischen PoCs – | |
Persons of Color – und Weißen, sondern zwischen intersektional Denkenden, | |
meist jungen KollegInnen, für die Identität eine zentrale politische | |
Kategorie ist, und dem Rest der Redaktion. | |
Es ist eine Generationenfrage, die den Journalismus tief verändern wird. | |
Die taz hat nur noch nie offen darüber gesprochen. Und das ist gerade ihr | |
eigentliches Problem. | |
Gelegenheit hätte es etwa 2018 gegeben, als PoCs auf Twitter teils | |
erschütternde Diskriminierungserfahrungen schilderten. Sie benutzten den | |
Hashtag #MeTwo – angelehnt an die feministische #MeToo-Kampagne, nur eben | |
für MigrantInnen, also Menschen aus zwei Kulturen. | |
Nicht alle waren beeindruckt. taz-Kolumnist Friedrich Küppersbusch | |
muffelte: „[3][Bei #MeDreiundfuffzig wird’s öde]. Wenn auch die | |
Linkshänder, Laktoseunverträglichen und gehässig missverstandenen | |
Innenminister ihr Elend an der Welt an ihrer Diskriminierung festgemacht | |
haben“ und „beleidigt in der Ecke sitzen“. | |
Die taz-Online- und Social-Media-Redakteurin Juliane Fiegler war entsetzt: | |
Sie könne „echt nicht glauben, das macht mich fast sprachlos, dass diese | |
Zeilen einfach durchgegangen sind und niemand ganz laut NEIN, STOPP! | |
gerufen hat“, schrieb sie. Auch sie sei für Meinungsvielfalt. Aber hier | |
gehe es um Rassismus-Erfahrungen. „Und sorry: Zum Thema Rassismus finde ich | |
persönlich nur EINE Meinung ok.“ | |
In diesen Sätzen steckt, wo die Differenzen liegen: In der Frage, was es | |
genau bedeutet, wer spricht. Vor allem jüngere KollegInnen halten dies | |
heute für entscheidend. Das zeigte auch der Tweet einer Kollegin vom | |
Samstag: Sie hätte sich „gewünscht, dass all die White Privilege People“ | |
nichts zu der „Müll“-Kolumne gesagt hätten. „Den Diskurs sollten diejen… | |
führen, die wirklich etwas zu struktureller Diskriminierung zu sagen | |
haben.“ | |
Einige KollegInnen sahen ein „Redeverbot“ für Weiße anrollen. Ein Irrtum. | |
Denn natürlich wird niemandem verboten zu reden. Erwartet wird vielmehr, | |
sich der Auffassung anzuschließen, nichts zum Diskurs beizutragen zu haben, | |
wenn man keine eigenen Erfahrungen hat – und deshalb freiwillig zu | |
schweigen, anders also als Küppersbusch. So soll die gesellschaftliche | |
Auseinandersetzung stärker von Benachteiligten bestimmt werden können und | |
sich die Dinge deshalb zum Besseren verändern mögen. | |
Und deswegen „darf“ eine PoC-Autorin wie Hengameh Yaghoobifarah in den | |
Augen intersektional Denkender auch „alles“, wie es hieß. Wer ihr das | |
abspricht – und etwa an der Kolumne herummäkelt –, ist kein guter „ally�… | |
Verbündeter der Diskriminierten, sondern verteidigt seine Privilegien. Und | |
wer ihr das abspricht und selber PoC ist, ist in dieser Lesart ein „token“, | |
also von Weißen manipuliert. Entscheidend ist die Zugehörigkeit zu einem | |
privilegierten oder zu einem unterdrückten Kollektiv. Aus Letzterem soll | |
Definitionsmacht erwachsen – das Recht also, zu bestimmen, was | |
diskriminierend ist. Rassistisch etwa ist demnach, was von einer – im | |
Zweifelsfall einzigen – PoC so empfunden wird. Für intersektional Denkende | |
ist dies zwingend. | |
Die meisten von ihnen kamen ab etwa 2005 an die Universität und wurden dort | |
politisch sozialisiert, als Identität, Repräsentation und Privilegien zu | |
zentralen Begriffen wurden. Dies geht zurück auf TheoretikerInnen wie den | |
im Mai gestorbenen tunesisch-französischen Soziologen Albert Memmi, der | |
Rassismus früh als Werkzeug zur Verteidigung individueller Privilegien | |
deutete. | |
Dies prägte, erst kaum beachtet, ab den 1990er Jahren Teile der deutschen | |
Erziehungswissenschaften, vor allem die Erwachsenenbildung, später dann | |
Teile der Queer Studies, der Sozial- und Kulturwissenschaft, der | |
Ethnologie, Critical Race Studies und Critical Whiteness. Seit etwa 2010 | |
hat intersektionales Denken akademische Hochkonjunktur. | |
Es verbreitete sich derartig schnell, dass seine AnhängerInnen das selber | |
nicht gemerkt haben. Mit dem Verweis auf an Identität gekoppelte Expertise | |
werden heute Diversity-Quoten eingefordert, die „ganz neue Perspektiven“ | |
einbringen sollen. | |
Faktisch sind PoC noch immer überall da deutlich unterrepräsentiert, wo | |
viel Geld verdient und wichtige Entscheidungen getroffen werden. | |
Gleichzeitig aber sind Unis, Stiftungen, Beratungsstellen, NGOs, Teile des | |
öffentlichen Dienstes und viele Medien heute voller junger AkademikerInnen, | |
die intersektional denken. Dies ist vielerorts nicht marginalisiert, | |
sondern teils längst hegemonial. Und auch dies sind Schaltstellen | |
gesellschaftlicher Macht. Zu sehen war dies jetzt auch daran, wie wuchtig | |
die Solidarisierung mit Hengameh Yaghoobifarah war. | |
Ältere LeserInnen und RedakteurInnen der taz tun sich damit teils schwer. | |
Einige sehen ihre blinde Flecken, im Weltbild und im eigenen Handeln. | |
Andere sind verunsichert, fürchten Rassismusvorwürfe und fragen sich, wo | |
und wie sie als Weiße mitreden sollen, wenn von ihnen eigentlich nur | |
erwartet wird, „sich über den eigenen Rassismus zu bilden“. Und wieder | |
andere finden, dass die Fixierung auf „Privilegenreflexion“ und Identität | |
viele wichtige Fragen unter den Tisch fallen lässt. Oder sie stoßen sich | |
daran, dass für die Vorstellung gemischter politischer Organisierung und | |
Solidarität in der intersektionalen Vorstellung von Antirassismus wenig | |
Platz ist. | |
Umgekehrt werfen jüngere KollegInnen den Älteren vor, Anstoß an der | |
„Müll“-Kampagne zu nehmen, weil sie „ihre“ taz beschädige, nicht aber… | |
rassistischen oder sexistischen Karikaturen, die nur andere verletzen. Für | |
sie ist solch zweierlei Maß Ausdruck weißen Privilegs. Und das wollen sie | |
nicht durchgehen lassen. | |
Was mit der politischen Fixierung auf Privilegien zu gewinnen ist, ist | |
nicht ausgemacht. Diese zielt vor allem auf die Subjekte. Veränderung soll | |
zum einen über moralische Anrufung und die daraus folgende Bereitschaft | |
kommen, unrechtmäßige Vorteile abzutreten. In einer „neoprotestantischen | |
Selbstdisziplinierung“ sollen Weiße ihre Besserstellung aufgeben und | |
„Machtverhältnisse aktiv verlernen“, sagt der Soziologieprofessor und | |
Mitgründer der Gruppe „Kanak Attak“, Vassilis Tsianos, dazu. „Die | |
Organisationsfrage wird nicht gestellt, die Eigentumsverhältnisse werden | |
nicht angetastet.“ | |
Auch Kritik am Staat ist bestenfalls sekundär. Denn der andere Weg, über | |
den intersektional Denkende Veränderungen herbeiführen wollen, ist von | |
oben: Institutionell verankerte Diversity soll nominell Unterprivilegierten | |
– bei denen es sich allerdings ausnahmslos um AkademikerInnen handelt – | |
Zugänge zur Macht verschaffen. „Reformeliten ohne soziale Bewegungen“, sagt | |
Tsiannos. | |
Eines der Felder dieser Auseinandersetzung sind die Medien. Neben der | |
stärkeren Repräsentation von Minderheiten steht dabei dreierlei im Raum, | |
was aus teils guten Gründen gefordert, bislang aber kaum offen verhandelt | |
wird. | |
Erstens: Meinungen sollen unterschiedlich behandelt werden, je nachdem, wer | |
sie äußert. Wer unterdrückt wird, hat erst mal recht. Dafür stehen | |
Imperative, die etwa bei #MeTwo zu hören waren: Nicht relativieren, nicht | |
infrage stellen, nicht anzweifeln. Am besten gar nichts sagen. Nur zuhören. | |
Wie viele es sich auch bei der „Müll“-Kolumne wünschten. Zum „nicht | |
kritisieren“ ist es da nicht weit. Für Journalismus, der ohne zu | |
kritisieren nutzlos ist, ist das heikel, für den gesellschaftlichen Dialog | |
auch. | |
Zweitens: Expertise, die auf eigener Erfahrung gründet, hat Vorrang. Heute | |
ist ausgemacht, dass eine Talkrunde über Rassismus ohne PoCs inakzeptabel | |
ist. Das Schlagwort lautet: Erkenntnisbarrieren. Aber was heißt das für | |
andere Felder? | |
Drittens: Diskriminierten soll Sicherheit vor Verletzungen garantiert | |
werden. Für den Journalismus heißt dies, sprachliche Gewalt zu unterbinden. | |
Das bekannteste Beispiel ist die Ächtung des verletzenden N-Worts. Die | |
Implikationen gehen allerdings darüber hinaus: Wenn der Gewaltbegriff | |
tendenziell der sozialen Aushandlung entzogen und der individuellen | |
Definitionsmacht übertragen wird, ist er zwangsläufig entgrenzt. Auch ein | |
Satz wie der eingangs geschilderte von Küppersbusch kann dann als | |
rassistisch ausgelegt werden – und müsste folglich gestrichen werden. | |
Extrem heikel. | |
Dieser Generationenkonflikt wurde in der taz bisher kaum thematisiert. Eine | |
Ausnahme ist ein [4][Text des Kollegen Ambros Waibel] aus dem Jahr 2018. Da | |
hielt er der „Alterskohorte 50+“, die „gewiss stets engagiert“ war, vor, | |
den Jungen „politisch ein Riesendesaster hinterlassen“ zu haben. Er empfahl | |
diesen, Jungen „ausnahmsweise mal zu(zu)hören“. Und damit hatte er nicht | |
unrecht. Denn wären frühere Generationen Linker erfolgreicher gewesen, | |
müssten viele Kämpfe heute gar nicht mehr geführt werden. | |
24 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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