| # taz.de -- Linke Medien und die Polizei: Eine vertane Chance | |
| > Die Institution Polizei gilt als sakrosankt. Medien wie die taz sollten | |
| > aber die herrschenden Verhältnisse hinterfragen. | |
| Bild: Macht, kaputt: Horst Seehofer und ein bei den Ausschreitungen in Stuttgar… | |
| Dieser Text ist Teil einer innerredaktionellen Debattenreihe der taz, | |
| ausgelöst durch die Kolumne [1][„All cops are berufsunfähig“]. Als | |
| pluralistisches Haus verschweigen wir diese Kontroverse um die Arbeit der | |
| Polizei und unsere unterschiedlichen Blickwinkel auf diese nicht. Es werden | |
| weitere, konträre Texte folgen. Die Beiträge lesen Sie auf unserer | |
| Webseite: [2][taz.de/kolumnendebatte]. | |
| Für einen Augenblick sah es so aus, als könnte die deutsche Gesellschaft | |
| eine Debatte über die strukturellen Probleme der Polizei – Rassismus, | |
| Gewalt und Straflosigkeit – führen. Eine Debatte, die normalerweise | |
| überwiegend innerhalb der Linken und ihrer Medien, also auch der taz | |
| stattfindet. Befeuert durch die Black-Lives-Matter-Proteste in den USA war | |
| zu hoffen, dass sie auch den bürgerlichen Politikbetrieb und die | |
| Feuilletons für eine Weile beschäftigen würde. | |
| In dem Moment allerdings, als die Kritik von der SPD-Vorsitzenden Saskia | |
| Esken aufgegriffen wurde, entpuppte sich diese Erwartung als Illusion. | |
| Innenminister und Politiker*innen aller Parteien, Leitartikler*innen und | |
| die Polizei höchstselbst, machten deutlich, dass sie nicht vorhaben, sich | |
| mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Es gebe keinen strukturellen | |
| Rassismus, keine übertriebene Polizeigewalt – stattdessen müssten „unsere | |
| Polizisten“, wie sie von Horst Seehofer bis Cem Özdemir genannt werden, vor | |
| „Generalverdacht“ geschützt werden. Esken wurde zum Kotau gezwungen. Auf | |
| Demos gegen rassistische Polizeigewalt wurden junge Menschen, darunter | |
| viele BPoC (Black and People of Color), verprügelt. | |
| Alle, die regelmäßig negative Erfahrungen im Umgang mit der Polizei machen | |
| – Nichtweiße, sozial Ausgegrenzte, politische Aktivist*innen oder | |
| Fußballultras, an denen neue Polizeitaktiken oft zuerst erprobt werden – | |
| mussten das als dickes „Fuck you“ verstehen. Sie bleiben allein zurück mit | |
| ihren Ängsten vor anlasslosen Kontrollen, gewalttätigen Übergriffen und | |
| sich vor Gericht gegenseitig deckenden Polizist*innen. | |
| ## Eine berechtigte Wut | |
| Aus dieser Zurückweisung entsteht Wut, berechtigte Wut, die sich | |
| artikulieren muss. Die sich nach Ruhe sehnende Mehrheitsgesellschaft kann | |
| froh sein, wenn sich diese Wut nur in der taz Bahn bricht und nicht auf der | |
| Straße. Und die taz sollte es zu schätzen wissen, wenn Betroffene in ihr | |
| die Möglichkeit sehen, sich zu äußern. | |
| Doch Rainer Wendt, Horst Seehofer und all die anderen geben sich nie | |
| zufrieden. Sie toben, wie immer, wenn ihr Instrument der | |
| Herrschaftssicherung infrage gestellt wird. Zwei Ereignisse nutzen sie | |
| geschickt: [3][den unzweifelhaft ironischen Text der taz-Kolumnist*in | |
| Hengameh Yaghoobifarah] und die [4][Jugendkrawalle in Stuttgart]. | |
| Erstere sei eine „diskursive Grenzverschiebung“ hieß es, als ob nicht die | |
| gesellschaftliche Rechte von Sarrazin bis Höcke seit Langem Menschen ihre | |
| Würde absprechen. Zweiteres sei eine „nie dagewesene Dimension an Gewalt“ … | |
| eine Behauptung, die schon beim Blick auf den Überfall von [5][200 Nazis | |
| auf Leipzig-Connewitz], bei dem massenweise Läden zerstört wurden oder die | |
| Angriffe auf die Polizei bei Hogesa in sich zusammenfällt. | |
| Egal welch geistiger Müll zur Verteidigung der Polizei verbreitet wird, von | |
| Stammtischen oder aus den Redaktionsstuben von Springer und anderen gibt es | |
| Anfeuerung statt Aufklärung. Die herrschenden Polizeifreunde geraten noch | |
| nicht einmal unter Rechtfertigungsdruck, wenn sie offensichtlich lügen – | |
| wie Olaf Scholz, der wider besseren Wissens und unzähligen Stunden | |
| Videomaterials behauptete, beim G20-Gipfel in Hamburg habe es keine | |
| Polizeigewalt gegeben. | |
| ## Die Polizei, das wehrlose Opfer? | |
| In diesen Kreisen ist die Polizei stets das wehrlose Opfer. In so einem | |
| Diskurs sind tatsächliche Fortschritte innerhalb des Polizeiapparats kaum | |
| thematisierbar, weil sie sofort als Argument gegen notwendige Kritik | |
| gedreht werden. Aber ja, ein dreitägiges Zuschauen wie [6][bei den Pogromen | |
| von Rostock-Lichtenhagen] ist heute nicht mehr vorstellbar. Und auch | |
| besteht kein Zweifel daran, dass in den USA die Zustände ganz andere sind. | |
| Nun ist es also wieder einmal gelungen, die wichtige Debatte über die Rolle | |
| der Polizei und ihrer notwendigen Regulierung einfach abzubrechen und durch | |
| das Thematisieren von Scheinproblemen zu ersetzen. Auf der Agenda steht nun | |
| die scheinbare Sorge um die Menschenwürde, mit der vor allem die Würde von | |
| Polizist*innen gemeint ist; wohlgemerkt aufgrund eines überspitzten Textes, | |
| während eben diese Besorgten sonst ungerührt Menschen in Polizeiwachen oder | |
| dem Mittelmeer verrecken lassen. | |
| Die Institution Polizei ist sakrosankt. Das mag man mit deutscher | |
| Obrigkeitshörigkeit erklären, ist aber auch eine Folge der Mutlosigkeit, | |
| dagegen anzugehen. Und es ist eine Folge des Versagens vieler | |
| Medienschaffender. Polizeimeldungen werden als alleinige Quellen behandelt, | |
| selbst wenn sie als Eigen-PR erkennbar sind. Mit den [7][Zahlen verletzter | |
| Polizist*innen] oder angeblichem Widerstand von Demonstrant*innen wird | |
| Politik gemacht – und fast alle spielen mit. | |
| Die Befugnisse der Polizei werden erweitert, von Eingrffsmöglichkeiten bei | |
| dem Konstrukt der [8][„drohenden Gefahr“] bis zur Erhebung von [9][Gebühren | |
| für Polizeieinsätze] – fast ohne öffentliche Debatte. Das Machtgefälle | |
| zwischen der Polizei und den von ihr Getriezten wird schon gar nicht in den | |
| Blick genommen. | |
| ## Keine Kompromisse | |
| Es sollte daher Aufgabe von Medien wie der taz sein, keine Kompromisse zu | |
| machen, wenn es darum geht, die herrschenden Verhältnisse zu hinterfragen. | |
| Gelingen kann das nur, wenn man sich weder die Narrative bestimmen lässt | |
| noch um die Anerkennung in bürgerlichen Kreisen ringt. Deren | |
| Eintrittsregeln lauten: Gewalt ist, zumindest hierzulande, reflexhaft aufs | |
| Schärfste zu verurteilen, ohne nach den Ursachen fragen zu dürfen. Sowie: | |
| Weder ist physische Polizeigewalt ein Problem, noch existiert strukturelle | |
| Gewalt in Form von Rassismus und Ausbeutung. | |
| Wer das akzeptiert, verabschiedet sich von linken, staatskritischen | |
| Positionen und lässt die gesellschaftlich Ausgegrenzten und | |
| Systemkritiker*innen allein. Will die taz deren Stimme sein, muss sie ihren | |
| Blick auf Macht- und Gewaltstrukturen schärfen. Herrschaftskritik und | |
| Solidarität sind zugleich der Kern dessen, was linke Politik bestimmt. Im | |
| Wissen darum hat sich die taz gegründet – und die souveräne Haltung dazu | |
| ist auch heute ihre Daseinsberechtigung. Die Bürgerlichen haben ihre eignen | |
| Medien. | |
| Es geht also um Stärke, wenn man sich nicht die Empörung derjenigen | |
| aufzwingen lässt, die ein grundlegend anderes Gesellschaftsbild vertreten. | |
| Niemand in der Linken und niemand in der taz sollte sich schämen, nur weil | |
| andere das aus Eigeninteresse wollen. | |
| Erik Peter ist Redakteur der taz Berlin. Spezialgebiet: Krawall und | |
| Remmidemmi. | |
| 27 Jun 2020 | |
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