# taz.de -- Buch „Nachtgedanken“ von Wallace Shawn: Der Wahnsinn der Spezie… | |
> Bittere Zeitdiagnose: Die „Nachtgedanken“ des Drehbuchautors und | |
> Schauspielers Wallace Shawn sind auf Deutsch erschienen. | |
Bild: Bekennender Marxist: Wallace Shawn | |
Wallace Shawn lebt ein gutes Leben. Bücher, Theater, Filme und Musik | |
begleiten den New Yorker Schriftsteller und Schauspieler, seit er denken | |
kann. Auch Zeit für intensive Gespräche und gutes Essen gehören zu dem | |
Lebensstil, den der 76-Jährige seiner Herkunft aus einem kulturbeflissenen | |
Elternhaus in Midtown Manhattan verdankt. | |
Zweifel am Anrecht auf die Privilegien seiner Schicht sind dennoch sein | |
Lebensthema. Seit er als ältester Sohn von William Shawn, dem legendären | |
einstigen Redakteur des Edelfedern-Magazins The New Yorker, von kritischen | |
Lehrern mit Skepsis gegenüber der Wohlfühlexistenz geimpft wurde, später in | |
Harvard Geschichte, Philosophie und Politik studierte und als Lehrer mit | |
Armut und bewaffneten Befreiungsbewegungen im lateinamerikanischen | |
Hinterhof der USA konfrontiert wurde, treibt ihn das moralische Dilemma um. | |
Von der Frage, auf wessen Rücken und mit welchen gewalttätigen Konsequenzen | |
der Wohlstand der Weißen ausgekostet wird, handeln die meisten seiner | |
Stücke und Drehbücher, wobei sich seine Figuren meist nur hauchdünn vom | |
angeschlagenen Selbst ihres Autors unterscheiden. | |
## Bekennender Sozialist und Marxist | |
Shawn ist bekennender Sozialist und Marxist, ein politisch wacher Kopf, der | |
Aufstände und Gewaltausbrüche als Klassenkämpfe wahrnimmt. Die subjektive | |
Seite zwingt ihn, sich mitzuteilen, das flaue Bauchgefühl, dem weißen | |
Menschenschlag anzugehören, der sich zu sehr um sich selbst dreht und eines | |
Tages zum Abdanken und Abgeben genötigt werden wird. | |
„Nachtgedanken“ heißt ein womöglich bühnentauglicher Essay, den Wallace | |
Shawn 2017 im ersten Jahr des Donald-Trump-Regimes schrieb, ohne ihm mehr | |
als die Nebenbemerkung über die „verrückte Obsessivität“ seines Gesichts… | |
gönnen. In kaum weniger krisenhaften Zeiten ist der Text jetzt als | |
handliche Taschenbuchlektüre, von Joachim Kalka flüssig übersetzt, im | |
Berliner Alexander Verlag erschienen, wo zuvor auch Shawns Stück „Das | |
Fieber“ und sein berühmtes Drehbuch zu Louis Malles Film „Mein Essen mit | |
André“ erschienen ist. | |
„Nachtgedanken“ ist die sinistre Kopfreise eines unschwer als der Autor | |
kenntlichen Ich-Erzählers, der seine bittere Zeitdiagnose ein weiteres Mal | |
zuspitzt. Wie in dem „Fieber“-Monolog, in dem ein nervöser Weltbürger in | |
Lateinamerika zwischen die Fronten von Aufständischen und der brutalen | |
Staatsgewalt gerät, führen auch Shawns „Nachtgedanken“ den Gemütszustand | |
eines politisch wachen Zeitgenossen vor, der über seine Albträume | |
nachgrübelt, von Nachrichtenbruchstücken und Fernsehbildern verfolgt wird | |
und die darin sichtbare reale Gewalt reflektiert. | |
## Shawn setzt auf rhetorisches Understatement | |
Der „Wahnsinn“ der Spezies Mensch, die den Planeten zerstört, „beunruhig… | |
ihn. Shawn zieht rhetorisches Understatement vor und erreicht damit eine | |
umso größere Intensität. Auch die moralischen Maßstäbe seiner elterlichen | |
Erziehung „beunruhigen“ ihn, das ständige „pling pling“ von „recht�… | |
„falsch“ hat ihm Schuldgefühle eingeimpft, obwohl er sich als „sozialer | |
Absteiger“ vom Upper-Class-Gehabe der Elterngeneration emanzipierte. | |
Autobiografisches deutet Shawn nur an. Voyeuristische Blicke hinter die | |
Fassade überließ er seinem jüngeren Bruder, dem Komponisten Allen Shawn, | |
der das Doppelleben des Vaters mit einer anderen Frau in seinen Memoiren | |
aufdeckte, ebenso das Verschwinden einer autistischen Schwester, die die | |
Eltern im Heim unterbrachten und nie wieder erwähnten. | |
Kult wurde Wallace Shawn mit dem Film „Mein Essen mit André“, seinem | |
hinreißenden Streitgespräch mit dem Theatermann André Gregory, das Louis | |
Malle 1981 nach Shawns Drehbuch in einem New Yorker Restaurant inszenierte. | |
Shawn verkörpert sich selbst als erfolgloser Stückeschreiber, der sich | |
vehement zum Bleiben und Weitermachen bekennt, während der | |
Broadway-Regisseur André Gregory vom Aussteigen schwärmt. | |
## Inzwischen ein gefragter Sidekick in Film und Serien | |
Was war „richtiger“, Gregorys Pilgerreise zu den bizarren Ritualen des | |
polnischen Theatergurus Grotowski oder Shawns Beharren auf dem | |
künstlerischen Stoff, der um die Ecke im eigenen Quartier zu finden ist? | |
Ironie der Geschichte: Shawn startete nach diesem Meisterstück und seiner | |
Hauptrolle in Louis Malles „Vanya auf der 42. Straße“ eine | |
Schauspielkarriere. Mit Glatze, „funny Face“ und unverwechselbaren Lispeln | |
wurde seine rundliche Erscheinung in mehr als sechzig Filmen und Serien ein | |
gefragter Sidekick. Das sichert bis heute den künstlerischen Spagat als | |
Autor ab. | |
Bücher lesen und „glücklich sein“ war sein Jugendtraum. Heute provoziert … | |
die „Glücklichen“, zu denen er sich zählt, nennt die Zivilisation vulgo | |
Kapitalismus, Konsumismus und Waffengewalt ein Konstrukt aus Privilegien, | |
das vergessen macht, dass Bildung, Kultur, Demokratie, „nette Familien“ und | |
Alltagsbehaglichkeit der Armut und Ungleichverteilung dieser Welt | |
geschuldet sind. Aus der Sicht eines Mannes, der sich des kommenden Endes | |
der weißen Dominanz bewusst ist, legt er seine Ängste offen, ohne ins | |
Lamento zu verfallen. | |
30 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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