| # taz.de -- Zum 250. Geburtstag von Hegel: Der ewig Unzeitgemäße | |
| > Seine Schriften sind erheiternd und erhellend, oft auch dunkel. Ein Essay | |
| > zum Geburtstag des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. | |
| Bild: Philosophen-WG im Hegelhaus in Stuttgart | |
| Zum 250. Geburtstag wird man es wohl sagen müssen: Hegel hat sich | |
| totgesiegt. Seinen Status als Klassiker der Philosophiegeschichte stellt | |
| niemand mehr infrage, einige der einflussreichsten Theorierichtungen der | |
| Gegenwart beziehen sich auf ihn als ihren geistigen Begründer. | |
| Und in zahlreichen Beiträgen zum runden Geburtstag wird seine ungebrochene | |
| Aktualität für unsere Gegenwart und besonders unsere gegenwärtige | |
| politische Lage behauptet: ein Vordenker der liberalen Demokratie, des | |
| Rechts- und des Sozialstaats sei er gewesen, und in seinem Kampf für die | |
| Freiheit habe er auch die Konfrontation mit der restaurativ-repressiven | |
| Staatsmacht seiner Zeit nicht gescheut. | |
| Hegels Welt, das sei immer noch unsere, so wird gesagt, und im Kampf gegen | |
| Rechtspopulismus, neuromantische Fortschrittsfeinde und eine entfesselte | |
| Hirnforschung sollen wir uns auf ihn als Bundesgenossen verlassen können: | |
| Bruder Hegel. | |
| Nun wird man diese Einmütigkeit, die an der Relevanz und Aktualität Hegels | |
| keinen Zweifel aufkommen lassen will, auch als eine Beerdigung erster | |
| Klasse auffassen können. Denn wenn etwas dem Hegel’schen Geist wirklich | |
| entgegensteht, dann ist das allgemeine kopfnickende Zustimmung: Hegels | |
| Philosophie lebt vom Streit, die Schärfe seiner Argumente rührt von der | |
| leidenschaftlichen Auseinandersetzung, und zu Hegels größten Talenten | |
| gehört es, Streit dort zu suchen und zu finden, wo alle anderen nur | |
| Eintracht sehen. | |
| ## Heftige Kämpfe bereits zu Lebzeiten | |
| Es ist nicht immer so gewesen. Hegel und seine Philosophie sind nicht immer | |
| schon auf allgemeine und ungeteilte Zustimmung gestoßen – ganz im | |
| Gegenteil. Bereits zu Lebzeiten hat sich Hegel mit der Romantik und der | |
| politischen Restaurationsideologie angelegt – und wurde von deren | |
| Vertretern heftig bekämpft. | |
| Kurz nach seinem Tod entbrannte in seiner Schülerschaft der Streit zwischen | |
| Rechtshegelianern – die in Hegels Philosophie einen Aufruf zu | |
| staatspolitischem Engagement und institutionellen Reformen vernommen hatten | |
| – und Linkshegelianern, die wiederum an derselben Philosophie die | |
| ungebremste Zersetzungskraft aller alten Autoritäten schätzten. | |
| Im 20. Jahrhundert wurde Hegel dann als Vordenker von Faschismus und | |
| Stalinismus gebrandmarkt, und noch die postmoderne Doxa der 1970er und | |
| 1980er Jahre hat in Hegels Totalitätsbegriff einen latenten Totalitarismus | |
| gewittert, gegen den sie zu Felde ziehen musste. | |
| In der akademischen Philosophie, zumal der | |
| angelsächsisch-sprachanalytischen, galt Hegel lange als Inbegriff des | |
| kontinental-metaphysischen Obskurantismus; die politischen Untertöne – wer | |
| so hermetisch schreibt, der kann nur ein Feind der offenen Gesellschaft | |
| sein … – waren auch hier schwer zu überhören. | |
| ## Hegel, der Held der Marx*istinnen | |
| Die Leidenschaften schlugen aber auch in entgegengesetzter Richtung hoch: | |
| [1][Seit Marx im Vorwort seines „Kapital“ bekannt hat, dass er nur durch | |
| den „toten Hund“ Hegel] eine angemessene Darstellungsform seiner radikalen | |
| Gesellschaftskritik habe finden können, wurde Hegel von Marxist*innen aller | |
| Couleur als eine Art Heiliger Gral verehrt, zu dem man zurücksteigen | |
| musste, um das eigene Verständnis der „dialektischen Methode“ zu | |
| vervollkommnen. | |
| Und tatsächlich gehen fast alle marxistischen Theorieinnovationen des | |
| letzten Jahrhunderts auf eine Rückbesinnung auf Hegel zurück: Von Georg | |
| Lukács und der Kritischen Theorie bis hin zu Jürgen Habermas, von | |
| Jean-Paul Sartre und Henri Lefebvre bis hin zu Slavoj Žižek. | |
| In der Neuen Linken nach 1968 wurde „Hegelmarxismus“ zum Inbegriff | |
| verstiegener, latent doktrinärer „Theoriearbeit“ im „Lesezirkel“; noch… | |
| theoretische Sozialisation des Autors dieser Zeilen wurde in den späten | |
| 1980er Jahren in der entlegenen westdeutschen Provinz von dieser Strömung | |
| geprägt. | |
| Heute finden die ehemals verfeindeten Schulen allenthalben zusammen: Mit | |
| der neopragmatischen Wende hat sich die (post-)analytische Philosophie auf | |
| Hegel zubewegt und Hegels Begriff des Geistes – nach der berühmten | |
| Definition aus der Phänomenologie des Geistes das „Ich, das Wir, und das | |
| Wir, das Ich ist“ – sprachphilosophisch und normbegründend ausgelegt; das | |
| wiederum hat die neuere (post-)marxistische kritische Theorie zur | |
| Ausformulierung einer demokratisch-sozialistischen (oder | |
| sozialdemokratischen) Sittlichkeit inspiriert. | |
| ## Die „Unruhe des Negativen“ | |
| [2][Der dekonstruktive Philosoph Jean-Luc Nancy beobachtet] bei Hegel eine | |
| „Unruhe des Negativen“, die sich in einer endlosen Verzweigung und | |
| Vervielfältigung der Begriffe Bahn bricht, womit er sich wiederum mit einem | |
| Hardcore-Leninisten wie Alain Badiou treffen kann, der bei Hegel überall | |
| die alte maoistische Weisheit des „Eins teilt sich in zwei“ vorgebahnt | |
| sieht. | |
| Und durch die neue internationale Hegel-Konjunktur wird auch der | |
| akademische deutsche Hegelianismus wachgeküsst und feiert seinen [3][Helden | |
| nun als „Philosophen der Freiheit“, wie jüngst Klaus Vieweg] in seiner | |
| voluminösen Biografie. | |
| All das ist überaus inspirierend und interessant zu beobachten. Es drängt | |
| sich allerdings der Verdacht auf, dass Hegel selbst – das Hegel’sche | |
| Denken, seine Werke und Texte – bei all dem kaum noch eine Rolle spielen. | |
| Jede Richtung verfügt über ein Set von Hegel-Gedanken und -Zitaten, auf die | |
| man sich bezieht, und die neue Einmütigkeit rührt auch daher, dass alle ihr | |
| eigenes Set haben und das der anderen in Ruhe lassen. Ohne die Leidenschaft | |
| des Streits aber, die auch einmal Unvereinbarkeiten benennt und stehen | |
| lässt, wirken die Debatten schnell steril. | |
| ## Die Leidenschaft liegt in seinen Texten | |
| Dabei ist es einfach, die Leidenschaft des Hegel’schen Denkens | |
| wiederzufinden: Sie liegt in seinen Texten, und nur dort, und wer an der | |
| Leidenschaft teilhaben will, der muss diese Texte lesen. Das ist allerdings | |
| nicht so leicht. Hegels Gedanken verkörpern sich in einer unverwechselbaren | |
| Prosa, die dicht, drängend und oft dunkel bis zur Unverständlichkeit ist. | |
| Das hat allerdings einen Grund in der Sache selbst, wie es immer wieder | |
| heißt: Hegel führt das Denken an seine Grenzen, indem er jeden Gedanken, | |
| sobald er sich formiert und formuliert, auf seine Genese und Fortführung | |
| bezieht und so den einzelnen Gedanken im Prozess seiner Bestimmung zugleich | |
| auch auflöst. | |
| Die Formalisierung dieser verflüssigenden Gedanken-Bewegung in der | |
| berühmt-berüchtigten Dialektik von These, Antithese und Synthese stellt | |
| bereits eine Verdinglichung des Denkens dar, die sich in den Hegel’schen | |
| Texten selbst übrigens – darauf hat schon Adorno hingewiesen – kaum findet. | |
| Beim Lesen der Texte Hegels werden wir eingeübt in ein Denken, das sich | |
| selbst immer nur als ein vorläufiges, als ein Denken im Werden begreift. | |
| Wer dieses Denken erfahren möchte, der muss sich auf Hegels Gedankenprosa | |
| einlassen – so lautet der geheime Zentralbegriff der Hegel’schen | |
| Philosophie. | |
| ## Leseerfahrungen mit Hegel bei Butler, Malabou und Reichl | |
| Hegel zu lesen kann erhebend sein, erheiternd bisweilen und immer wieder | |
| auch erhellend, aber einfach ist es nie. Wer hier Beistand sucht, der kann | |
| sich an Leserinnen wie Judith Butler, Catherine Malabou oder Rebecca Comay | |
| halten, die sich buchstäblich und im Wortlaut auf Hegels Texte eingelassen | |
| und Protokolle ihrer Lektüren angefertigt haben. | |
| Oder an die aktuelle Ausstellung im Tübinger Hölderlinturm, wo Veronika | |
| Reichl unter dem einfachen und doch vielsagenden Titel „Hegel lesen“ | |
| Leseerfahrungen mit Hegel zusammenstellt und in Form kleiner Geschichten, | |
| anekdotischer Vignetten präsentiert. Wir werden hier mit Lektüren | |
| konfrontiert, die bisher Gedachtes erschüttern und Ungedachtes aufbrechen | |
| lassen; Lektüren, in denen Hegels Denken weitaus plastischer vor uns | |
| ersteht als in allen Biografien und Aktualisierungen. | |
| Wenn Hegel heute aktuell ist, dann als ewig Unzeitgemäßer: Seine Texte | |
| versorgen uns nicht mit Weltbildern und Wertesystemen, sie liefern uns auch | |
| keine handlichen Werkzeuge für den politischen Kampf für oder gegen was | |
| auch immer. Das leisten andere besser und billiger. Für Hegel gibt es hier | |
| und heute keinen wirklichen Ort – aber mit Hegel lernen wir zu begreifen, | |
| was das über unsere heutige Welt aussagt. | |
| 23 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Patrick Eiden-Offe | |
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