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# taz.de -- Antisemitismus unter Coronaleugnern: Kitt der Demonstranten
> Unter Relativierungen wie „Covidioten“ wächst eine gefährliche Bewegung
> heran. Sie bildet den Nährboden für antisemitische Gewalt.
Bild: Demonstration gegen Coronamaßnahmen im August in Berlin
Eine Demokratie lebt vom Widerspruch. Auch außerparlamentarische Opposition
gegen jede politische Entscheidung muss möglich sein. Doch so einfach ist
es bei den „Hygiene-Demonstrationen“ nicht. Es handelt sich nicht um
„Anti-Corona Proteste“. Protesten gegen das tödliche Virus würden sich
sicher knapp 82 Millionen Menschen in Deutschland anschließen. Auch
„Hygiene-Demonstrationen“ trifft den Kern der Mobilisierung nicht. Trotz
der Lockerung der Maßnahmen im Sommer und der Rückkehr einer „neuen
Normalität“ gingen die Demonstrationen nicht nur weiter, sie
radikalisierten sich auch.
Lange wurde wieder von „besorgten Bürgern“ gesprochen. Inzwischen sollte
jeder:m Beobachter:in klar sein, dass weder das Coronavirus an sich noch
die Maßnahmen der Regierung im Fokus stehen. Die Forderung nach dem Sturz
unseres politischen Systems ist dort inzwischen omnipräsent. Damit lässt
sich nun bestätigen, wovor Kritiker:innen schon frühzeitig gewarnt haben:
(struktureller) Antisemitismus wurde zum Kitt, der viele der heterogenen
Demonstrationsteilnehmer:innen zusammenhält.
Vier Aspekte untermauern diese These: Verschwörungsideologien,
Erinnerungsabwehr, die Heterogenität der Anwesenden und (neu-)rechte
Hegemonie. Verschwörungsideologien können in so gut wie allen Fällen als
antisemitisch verstanden werden. Komplexe Vorgänge werden auf üble
Machenschaften einzelner Personen(gruppen) vereinfacht. Diese werden dann
als das Unheil schlechthin verstanden – klassische Strukturelemente des
Antisemitismus. Diesen Mächten steht in diesem Denken oft das “gute Volk“
gegenüber. Es soll hinters Licht geführt, verkauft oder vernichtet werden.
Vergleiche mit Anne Frank oder Sophie Scholl wiederum sind auf die, wie es
Samuel Salzborn bezeichnet, „größte Lebenslüge der Bundesrepublik“
zurückzuführen: Die Vorstellung, dass es eine ehrliche und kritische
Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zustimmungsdiktatur und
dem Fortwirken von Ideologien wie Antisemitismus gegeben habe. Der
Vergleich mit Opfern der Shoa oder Widerstandskämpfer:innen entspringt dem
Bedürfnis nach einem Schlussstrich und einer „Wiedergutwerdung“ (Eike
Geisel) Deutschlands.
## Demonstrant:innen durch gemeinsamen Feind geeint
Auch die Heterogenität der Teilnehmer:innen, die schon den Namen
„Anti-Corona-Querfront“ herbeiführte, ist ein hilfreiches Indiz. In
Deutschland diente der Antisemitismus für unterschiedliche
Interessengruppen als Klammer. Völkische Denker:innen nutzten ihn, um die
unterschiedlichen Nationalismen zu einen. Und auch für die
nationalsozialistische Ideologie wurde er zum zentralen Element der Werdung
der Volksgemeinschaft.
Die unterschiedlichen Interessen treten hinter dem eschatologischen
Endkampf zurück. Ernst Simmel dachte, dass Juden dabei „die Rolle des
absoluten Feindes“ haben, gegen den sich Antisemit:innen als
„Abwehrbewegung“ verstehen. Die Demonstrationen erscheinen als heterogen,
aber in ihrem Selbstverständnis werden die Teilnehmenden durch ihren
gemeinsamen Feind geeint.
Ein Blick auf die zentralen Persönlichkeiten und die Strategien
(neu-)rechter Bewegungen lässt deutlich erkennen, warum Rechtsradikale und
-extreme hier an Boden gewinnen. Götz Kubitschek gilt als Vordenker der
Neuen Rechten in Deutschland. Seine Strategie des Loslösens vom klassischen
Nationalsozialismus hat der radikalen Rechten viel Auftrieb beschert.
Wie die Neue Rechte, haben auch aktive Neo-Nazi-Strukturen neue
Kommunikationsformen gefunden. Beispielsweise wenn es um die vermeintliche
„jüdische Weltverschwörung“ geht. In diesem Weltbild überschneiden sich …
Illusionen der radikalen Rechten mit denen der verschwörungideologischen
Teilnehmenden der aktuellen Proteste. (Strukturellen) Antisemitismus oder
Rechtsradikalismus will bei den Demonstrationen in Berlin und Leipzig
niemand gesehen haben.
## Kosmopolitisch, Deep State und Hochfinanz
Dabei tauchen in den Narrativen der „Querdenker“ regelmäßig drei Begriffe
auf: kosmopolitisch-globalistisch, Deep State (tiefer Staat) und
Hochfinanz. Sie finden sich auf Transparenten von Demonstranten oder in
Chatgruppen auf Telegram. Und sie haben Tradition, wie ein Blick in die
Vignetten der Sammlung Wolfgang Haney ab 1880 verrät.
Der Satz „Die Juden haben keine rechte Heimat. Sie haben etwas
Allgemein-Europäisches-Kosmopolitisches; sie sind Nomaden. Bismarck.“ stand
bereits 1909 auf einer Postmarke. Auf einer frühen NSDAP-Klebemarke von
1918: „Die internationale Solidarität kann nicht flöten gehen – konnte
nicht flöten gehen – sie war noch nie da. Vorhanden war immer nur die
Solidarität der jüdischen Führer, der internationalen Volksbegaunerer.“
In diesen Narrativen werden seit langem Wörter wie kosmopolitisch,
globalistisch, internationalistisch oder heimatlos mit Jüdinnen:Juden
verknüpft und Bilder „jüdischer Macht“ reproduziert. Auch der
völkisch-antisemitische Publizist Theodor Fritzsch schrieb, was heutzutage
möglicherweise der QAnon-Verschwörungsideologie und der Idee vom Deep State
zuzuordnen wäre: „Der Jude arbeitet am inneren Ausbau des Staates mit wie
die Made am inneren Ausbau des Apfels.“ Und das NSDAP-Mitglied Gottfried
Feder prägte unter anderen den Begriff der „jüdisch-internationalen
Hochfinanz“.
Diese Begriffe finden sich zuhauf in Telegramgruppen radikaler Rechter,
Esoteriker:innen, [1][Impfgegner:innen], fundamentalistischer Christ:innen.
Sie fungieren als Dog-Whistling und bleiben meist ohne juristische
Konsequenzen durch Paragraf 130 StGB. Das machen sich Antisemit:innen aller
Couleur zu nutzen. Unter Relativierungen wie “besorgte Bürger“,
[2][„Covidioten“ oder „Schwurbler“] wächst hier eine gefährliche Bewe…
heran, die den Nährboden für antisemitische Gewalt bietet.
29 Dec 2020
## LINKS
[1] /Impfgegner-und-die-Coronapandemie/!5735702
[2] /Medienkonsum-am-rechten-Rand/!5737274
## AUTOREN
Monty Ott
Ruben Gerczikow
## TAGS
Verschwörungsmythen und Corona
"Querdenken"-Bewegung
Antisemitismus
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Schlagloch
Kolumne Die Mendel'schen Regeln
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Lesestück Recherche und Reportage
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