# taz.de -- Wie Corona Ich-Bezogenheit zeigt: Solidaritätskollaps | |
> Wer Solidarität fordert, diese selbst aber willentlich unterlässt, darf | |
> sich über verlorenes Vertrauen seitens eigener Bürgerinnen nicht wundern. | |
Bild: Geflüchtete in dem zerstörten bosnischen Zeltlager Lipa | |
Kaum ein Wort war im Jahr 2020 so wichtig wie Solidarität: Haltet euch an | |
Hygieneregeln! Geht nicht raus! Schult eure Kinder zu Hause! Unterlasst | |
alles, damit Menschen nicht sterben und das Personal in den Krankenhäusern | |
geschont wird! | |
Das eigene Handeln und Leben in Relation zu anderen zu setzen, ist nun | |
leider etwas, das viele verlernt haben. Corona macht die Deformation dessen | |
deutlich, was wir noch immer gerne „Gesellschaft“ nennen: Eine Ansammlung | |
von Ich-Fanatikern. Keine Empathie, solange man sich nicht selbst in | |
Sicherheit gebracht hat. | |
So hat Deutschland mit der Agenda 2010 Armut produziert, weil es aus der | |
Rolle des „kranken Mannes in Europa“ rauswollte. Produziert hat es andere | |
Krankheiten. Individuelle. Einzelschicksale, die wenig Lobby haben, Kinder | |
alleinerziehender Mütter, die noch weniger Lobby haben. Die Debatten über | |
die Kürzungen, die Präsident Macron vorantreiben wollte, bekommt man selbst | |
in Deutschland mit, weil die Franzosen das neoliberale Primat noch nicht | |
akzeptiert haben. Der Unmut in der Bevölkerung war so groß, dass Macron auf | |
das Tête-à-Tête der Reichen in Davos verzichten musste. In Deutschland | |
hingegen geschah der Abbau leise, wie von Geisterhand. | |
In dieser Atmosphäre aus Kälte und Apathie ist das Beschwören von | |
Solidarität, wie Corona sie fordert, vergeblich. Wer kann, will sein | |
Vergnügen, es ist schließlich „sein Leben“ – das Primat des Egoismus z�… | |
Und während die Solidarität ausgehöhlt wurde, entstand eine | |
Parallelgesellschaft aus Millionären und Multimillionären. In diesem | |
Coronajahr 2020 besaßen Mitte des Jahres Millionäre gemeinsam 65 Billionen | |
Euro. Mehr als 100.000 neue Millionäre gibt es allein in Deutschland, so | |
der [1][World Wealth Report] dieses Jahres. Die reichsten 10 Prozent | |
besitzen inzwischen mehr als 56 Prozent des gesamten Vermögens, eine Zahl, | |
an der sich Gerechtigkeitsfragen gut messen lassen. | |
## Gerechtigkeitsfrage neu | |
Die Frage ist derzeit nicht, ob der Staat viel verteilt, das tut er. Die | |
Frage ist, von wem er sich das Geld, das er verteilt, nimmt. Und welche | |
Vermögen unangetastet bleiben. In Zeiten der Neuverschuldung angesichts von | |
Corona und der Klimakrise muss Solidarität die Gerechtigkeitsfrage neu | |
stellen. In einer Gesellschaft, in der die meisten denken – auch wenn es | |
nicht stimmt – sie hätten sich alles selbst erkämpft und die Reichsten | |
kommen einfach so davon, wird Solidarität als Handlungsmaxime nicht | |
umsetzbar sein. | |
Natürlich gibt es auch gelebte Solidarität, wie den Einsatz jener, die in | |
den Krankenhäusern für zu wenig Gehalt für andere ihre Gesundheit | |
riskieren; es gibt jene, die auf andere achten und ihr Privatleben maximal | |
reduzieren. Doch hier geht es um das, was derzeit an Dysfunktionalität | |
sichtbar wird: etwa an den Grenzen Europas. Hier endet die viel beschworene | |
Solidarität von 2020. | |
Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten kämpfen für Menschen auf der | |
Flucht, für humanitäre Hilfeleistungen – doch wieder steht Europa vor | |
Bildern von Menschen an den eigenen Grenzen, die verdeutlichen, dass nicht | |
einmal mehr der Anspruch auf vorausschauendes politisches Handeln erhoben | |
wird. | |
## Nicht jedes Leben | |
Wie glaubwürdig ist eine Politik, die Solidarität beschwört, den Lockdown | |
verhängt, „weil jedes Leben zählt“, aber vor den Grenzen Europas Menschen | |
dahinsiechen und Ratten an Kinderkörpern knabbern lässt? Kam denn das so | |
überraschend? Eine europäische Politik, die so selbstbewusst versagt, | |
verspielt ihre Glaubwürdigkeit. Auch deshalb bleiben politische Ansprachen | |
oft wirkungslos: Die moralische Autorität ist längst verspielt. Wer solches | |
Elend zulässt, dem glaubt man keine Sätze wie: „Jedes Leben zählt.“ Man | |
vermutet wirtschaftliche Interessen dahinter, man wittert Manipulation. | |
Die Unterlassungen der Politik haben zu viel Inhumanität zur Schau | |
gestellt. Teile der Menschen, die sich von Verschwörungsfantasien haben | |
anziehen lassen, hängen in einem Vertrauensvakuum fest, das die passive | |
europäische Politik mitkreiert hat. Es bringt nichts, diese Kritik nur als | |
„Elitenfeindlichkeit“ zu beschreiben und nicht nach den tieferen Ursachen | |
dieses Vertrauensverlusts zu fragen. Die Angreifbarkeit der Eliten ist | |
Produkt ihrer eigenen Handlungen. Ein Eindruck, der etwa seit der Rettung | |
der Banken entstand: Man macht keine Politik für die Bürgerinnen und Bürger | |
mehr. Die Krise der repräsentativen Demokratie besteht auch darin, dass | |
viele glauben, die gewählten Repräsentanten kümmerten sich mehr um die | |
Vernetzung unter den Eliten als um die Repräsentierten. | |
Der Zulauf, den Verschwörungsmythen 2020 haben, ist auch so zu begründen, | |
dass viele Antworten suchen auf die Wut, die von dieser empfundenen | |
Ungerechtigkeit ausgelöst wird. Gleichzeitig sind viele nicht gebildet | |
genug, sich diese Wut vernünftig zu erklären, Fakten von Lügen zu | |
unterscheiden; natürlich kann man diese Menschen verhöhnen. Man kann aber | |
auch fragen, was aus den Bildungskampagnen geworden ist, die es einmal gab: | |
Kultur für alle, Bildung für alle. Im digitalen Zeitalter geht es natürlich | |
auch um Medienkompetenz. | |
## Lipa und das Biest | |
Aus Bosnien kommen nun die neuesten Bilder des europäischen | |
Solidaritätskollapses: „Lipa“ heißt der Ort. „Lipa“ nennt man im | |
dalmatinisch-kroatischen Dialekt „die Schöne“. „Die Schöne“ wird zum … | |
für das Hässliche. Für die Fratze der Werte, die Europa beschwört. Von | |
Kroatien erwartet die EU genau das: Das brutale Sichern der Außengrenzen. | |
Auch das wissen alle, sagen tut es niemand. | |
Lipa, das kleine Dorf in Bosnien, ist nur ein Symptom; ein weiteres Glied | |
in einer Kette aus unsolidarischem Handeln, von politischem und | |
wirtschaftlichem Versagen. Unter den neuen Millionären findet sich nicht | |
einer, der es für nötig hielte, mit der Macht seines Geldes etwas zu tun. | |
2021 sollte das Jahr werden, in dem die politische Klasse wieder lernt, | |
Verantwortung zu übernehmen. Und das heißt, auch die Reichsten zur | |
Solidarität aufzufordern – und diese auch durchzusetzen. | |
30 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://worldwealthreport.com/ | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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