# taz.de -- Medizinprofessor über Impfgeschichte: „Pockenimpfungen waren ums… | |
> Bereits im 19. Jahrhundert waren viele impfkritisch. Professor Philipp | |
> Osten leitet das Institut für Medizingeschichte und zieht Parallelen zu | |
> heute. | |
Bild: Pockenimpfungen in Paris im Jahr 1905 | |
taz: Herr Osten, Corona ist in der globalen Öffentlichkeit seit dem frühen | |
Frühjahr ein Fakt: Hat es je eine schnellere Entwicklung eines Impfstoffes | |
gegeben? | |
Philipp Osten: Rekord ist, wie schnell der RNA-Impfstoff so weit war, dass | |
eine klinische Arzneimittelprüfung beginnen konnte: im April 2020. Wobei | |
man anfügen muss, dass in Deutschland eine geordnete Arzneimittelprüfung | |
erst seit dem Contergan-Skandal existiert. | |
Als schwangere Frauen dieses Beruhigungsmittel rezeptfrei kaufen konnten | |
und vielfach Kinder mit körperlichen Fehlbildungen zur Welt brachten. | |
Vor 1961 konnten Firmen und Apotheken ohne staatliche Prüfung jede | |
beliebige Substanz von einem Tag auf den anderen auf den Markt bringen. Nur | |
die Produkthaftung sollte die Arzneimittelsicherheit gewährleisten. Lange | |
hatten MedizinerInnen und StatistikerInnen eine Zulassungsbehörde nach | |
britischem oder amerikanischem Vorbild gefordert. | |
Die Politik lehnte ab? | |
Ja. Ihr Argument: Die chemische Industrie in Deutschland sollte sich nach | |
dem Krieg ungehindert erholen. 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs | |
war Deutschland drittgrößter Pharmaproduzent der Erde und hatte eine bis | |
dahin unvorstellbare Arzneimittelkatastrophe verursacht. Bis 1972 dauerte | |
es, ehe sich Wissenschaft, Wirtschaft und Politik auf die im Prinzip noch | |
heute übliche Arzneimittelprüfung geeinigt hatten, die schrittweise Tier- | |
und Menschenexperimente vorsieht. | |
Ist die EU-weite Impfung seit Ende dieses Jahres ein purer Erfolg? | |
Die Verteilung über die EU erfolgt nach Bevölkerungsgröße und nicht nach | |
Wirtschaftskraft oder dem Standort der Hersteller. Dass nationalistische | |
Rangeleien um Impfdosen ausblieben, ist bemerkenswert. Die europäische Idee | |
würde in diesen Tagen glänzen, wäre da nicht zeitgleich der beispiellose | |
Zivilisationsbruch in den Flüchtlingslagern an den südlichen Außengrenzen. | |
Welche Epidemie war Anlass für die Entwicklung des ersten Impfstoffs? Seit | |
wann gibt es überhaupt die kurierende Technik des Impfens? | |
Die erste Impfung in Europa gab es gegen die Pocken, Ende des 18. | |
Jahrhunderts. Eine hoch ansteckende Krankheit, an der etwa 20 Prozent der | |
Infizierten starb. Mit dem Ausbau des Handels und der Etablierung von | |
entwickelten sich die immer häufigeren Pockenepidemien zum Skandal des 18. | |
Jahrhunderts. Ab 1750 zog die Seuche mit grausamer Regelmäßigkeit durch | |
Stadt und Land. Da die Pocken in den Amerikas unbekannt gewesen waren, | |
töteten sie, von den europäischen Eroberern eingeschleppt, auf einen Schlag | |
20 Prozent der damit konfrontierten Bewohner des Kontinents. | |
Wie lange hat es gedauert, Stoffe gegen Epidemien zu entwickeln, etwa gegen | |
die Pocken? | |
Es brauchte immer sehr viele Jahre, bei allen Epidemien. In Westafrika und | |
im nördlichen Indien impften Heilkundige bei Pockenepidemien Kindern das | |
Sekret aus Pockenbläschen von Menschen mit einem günstigen | |
Krankheitsverlauf. Mit einem Messer wurde das Kontagium unter die Haut | |
geritzt, in China wurde es in die Nase eingebracht. Alle so Geimpften | |
erkrankten an den Pocken, aber nur etwa zwei Prozent starben daran. Ein als | |
Sklave nach Boston verschleppter Afrikaner berichtete 1706 von dieser | |
Methode, auch in der Türkei etablierte sie sich. In unseren Breiten populär | |
wurde die Praktik erst 1721, als die britische Schriftstellerin und Frau | |
des britischen Botschafters beim Osmanischen Reich, Mary Wortley Montagu, | |
der Royal Society drüber berichtete | |
Wie entwickelte sich die Recherche nach den zu Impfenden – es gab ja im | |
frühen 19. Jahrhundert allenfalls Kirchenregister für die Bürger und | |
Bürgerinnen? | |
Bayern und Hessen waren 1807 die ersten Staaten, die eine Impfplicht gegen | |
die Pocken einführten. Dazu wurden Kirchenbücher in staatliche Impflisten | |
überführt, so entstanden die ersten zentralen Melderegister. Impfärzte | |
unterstanden dem Innenministerium. Leibärzte der Fürsten waren nun auch für | |
die Körper der Untertanen zuständig. Bei der Impfung hatte der größte Teil | |
der Bevölkerung erstmals Kontakt zu Ärzten. Medikalisierung und die | |
Implementierung von Gouvernmentalität gingen Hand in Hand. | |
Es gibt, in Sachen Corona, viele, die sich heutzutage dagegen wehren, | |
geimpft zu werden. Ist das ein neues Phänomen – oder war dies bei früheren | |
(Langzeit-)Epidemien ebenso der Fall? | |
Schon gegen die Kuhpockenimpfung gab es massive Widerstände. Einige | |
Skeptiker setzten die Impfung mit einem tierischen Erreger mit Sodomie | |
gleich. Bemerkenswert ist, dass bereits Mitte des 19 Jahrhunderts | |
antisemitische Hetz-Flugblätter verfasst wurden, die sich gegen die | |
Pockenimpfung wandten. Fast alle Ressentiments gegen die Aufklärung | |
vereinigten sich in der Impfgegnerschaft. | |
In Schweden gab es vor wenigen Jahren eine Impfkampagne, die für viele | |
Menschen sehr misslich ausfiel – sie erkrankten an Narkolepsie, der | |
Schlafkrankheit. Sind Impfängste nicht verständlich? | |
Dieser Fall betraf 2015 über 1500 Menschen in skandinavischen Ländern und | |
Irland, die gegen Grippe geimpft worden waren. In dem Impfstoff Pandremix | |
gab es hohe Konzentrationen eines Antikörpers gegen einen Neuro-Rezeptor. | |
In Studien an gesunden ProbandInnen war das nicht aufgefallen. Dass | |
WissenschaftlerInnen aus dieser Tragödie gelernt haben, nutzt den | |
Betroffenen wenig. Ein Argument gegen das Impfen ergibt sich daraus jedoch | |
nicht, eine „echte“ Grippe hätte weit mehr Schlechtes bewirkt. | |
Gab es je sichere Impfstoffe? | |
Impfstoffe sind die am meisten verbreiteten Arzneimittel, selbst | |
statistisch gesehen sehr seltene Zwischenfälle bedeuten eine Katastrophe. | |
Deshalb sind die Anforderungen so hoch. Maximale Sicherheit bedeutet, alle | |
technischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Aber wir können nur diejenigen | |
Fehler identifizieren, die mit wissenschaftlichen Methoden von heute | |
sichtbar sind. Institutionen, die erkennen, dass ihr Wissen begrenzt ist, | |
würde ich indes vertrauen. | |
Belegt die Historie der Entwicklung von Impfstoffen die Verlängerung der | |
durchschnittlichen Lebenserwartung? | |
Vor der Einführung der Kuhpockenimpfung erlebte im ländlichen Raum etwa die | |
Hälfte der Kinder ihren fünften Geburtstag nicht. Auch die Behandlung der | |
Diphterie hat sich massiv in den Statistiken niedergeschlagen. Bei den | |
Masern ist das anders. In ärmeren Stadtbezirken starben 20 Mal mehr | |
infizierte Kinder daran als in wohlhabenden. Die Ursache waren | |
Mangelernährung und Vorerkrankungen. Innerhalb von zehn Jahren halbierte | |
sich mit Beginn der Weimarer Republik die Säuglingssterblichkeit. Zur | |
Kaiserzeit war sie mit über 20 Prozent (!) die höchste in Europa gewesen. | |
Fürsorgeeinrichtungen und kommunale Sozialpolitik brachten den Durchbruch, | |
Impfungen gehörten ebenso dazu wie Wohnungsbau, Mutterschutz und die Hebung | |
des Lebensstandards. | |
Sollte es eine Impfpflicht geben? | |
Nein. Gute Information und niederschwellige Verfügbarkeit vorausgesetzt, | |
werden sich genügend Menschen impfen lassen. Daher wäre die Anwendung von | |
Zwang ein unnötiger Exzess. | |
Können Sie das Impfen gegen die Ansteckung mit Corona empfehlen? | |
Die Impfung nicht zu empfehlen, bedeutet das Sterben von Menschen mit | |
Vorerkrankungen oder hohem Alter zu befördern. Als Historiker ordne ich | |
impfskeptische oder -ablehnende Strömungen in die sozialdarwinistischen | |
Diskurse des 20. Jahrhunderts ein. | |
Ist es aus Ihrer Sicht epidemiologisch klug, in puncto Impfung gegen Corona | |
mit den Ältesten zu beginnen, außerdem mit den Pfleger:innen, Ärzt:innen | |
etc.? | |
Klar! Noch wissen wir ja nicht, ob die Impfungen nur schwere Erkrankungen | |
verhindern oder ob sie auch die Weitergabe des Virus unterbinden. Deshalb | |
ist das Konzept, erst die besonders gefährdeten Gruppen zu impfen, genau | |
richtig. | |
Wüssten wir, dass die Impfung auch die Ansteckung verhindert, wäre nicht | |
das Alter, sondern die Zahl der Kontakte das wichtigste Kriterium. Dann | |
wären nicht ältere Menschen, sondern die BesucherInnen von | |
Massenveranstaltungen die idealeren Impflinge. | |
Man impfe sich nicht für sich, sondern für andere, die Schwachen: Stimmt | |
dieser Satz? | |
Wenn die Impfung die Weitergabe der Infektion verhindert kann, bilden die | |
Geimpften einen unsichtbaren Ring um die Nicht-Geimpften. Gültig ist dieser | |
Satz besonders für Säuglinge und Menschen mit Immunschwächen – die können | |
nicht geimpft werden. Sie sind abhängig von der Impfbereitschaft, in diesem | |
Sinne: von der Solidarität ihres Umfelds. | |
29 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Lesestück Interview | |
Affenpocken | |
Schlagloch | |
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