| # taz.de -- Pandemiebekämpfung im Dornröschenschlaf: Hauchdünn und extrafreu… | |
| > Staatliches Engagement gegen Affenpocken? Leider Fehlanzeige: Denn | |
| > bislang sind vor allem schwule und bisexuelle Männer betroffen. | |
| Bild: Christopher Street Day in Stuttgart 2022 | |
| Wenn es um die [1][Bekämpfung einer Pandemie] geht, wünscht man sich | |
| eigentlich Zustände wie in einer Hollywood- oder mindestens | |
| Till-Schweiger-Produktion herbei: Unzählige Menschen in Schutzanzügen | |
| rennen unter irrem Zeitdruck hin und her, Militärhubschrauber sind im | |
| Einsatz und im Zentrum des Geschehens trifft Boy ein Girl und ein Hund muss | |
| auch noch gerettet werden. | |
| Im richtigen Leben piepsen indes nur ein paar altersschwache Faxgeräte auf | |
| langen Behördenfluren, insbesondere, wenn es um MPX geht, „Monkeypox“. Denn | |
| die betreffen (noch) keine Heteropaare, sondern vor allem Männer, die Sex | |
| mit Männern haben. Rund zweieinhalb Monate nach dem ersten | |
| Affenpockennachweis in Deutschland sind dem RKI bis Anfang dieser Woche | |
| rund 3.000 Infektionen übermittelt worden. In fast allen Fällen handelt es | |
| sich um Männer. Bislang seien nur 7 Fälle infizierter Frauen ans RKI | |
| übermittelt worden. | |
| Dass nun die Zahlen etwa in Berlin laut der dortigen Gesundheitsverwaltung | |
| rückläufig sind – die Hauptstadt gilt als einer der internationalen | |
| Hotspots der MPX-Pandemie – liegt [2][eher nicht an einem beherzten | |
| Eingreifen staatlicher Behörden und Institutionen.] Gerade zu Beginn der | |
| Pandemie berichteten Betroffene, dass mitunter über eine Woche verstrich, | |
| bevor sich überhaupt jemand vom Gesundheitsamt meldete. Die Bundeszentrale | |
| für Gesundheitliche Aufklärung verharrte zu Beginn der Pandemie im | |
| Dornröschenschlaf und delegierte das Problem an die Aids-Hilfe, die sich | |
| immerhin zu Wort meldete. Und an der viel [3][zu langsam angelaufenen, | |
| unzureichend munitionierten Impfkampagne] kann es auch nicht liegen – | |
| mitunter reichten die bislang an Schwerpunktpraxen gelieferten und | |
| zwischenzeitlich meist schon zur Neige gegangenen Impfdosen gerade einmal | |
| zur Impfung des gefährdeten Praxispersonals, insbesondere und ausgerechnet | |
| im Hotspot Berlin. | |
| Nein, im Fall von MPX wurden bislang weder Hubschrauber eingesetzt noch | |
| Volkswirtschaften angehalten. Stattdessen greift die queere Community | |
| notgedrungen auf erlernte Techniken und Ressourcen zurück, Stichwort: | |
| Risikomanagement. Wer die Zahl seiner Sexualpartner reduziert, hat ein | |
| deutlich niedrigeres Risiko, sich mit den Pocken anzustecken. Daher sieht | |
| man in den üblichen Cruisinggebieten derzeit vor allem ältere Männer, die | |
| noch über eine einfache oder gar doppelte Pockenimpfung aus Kindertagen | |
| verfügen und vergleichsweise geschützt sind oder wenigstens auf einen | |
| milderen Verlauf hoffen können. Die beim Aufkommen der Pandemie in den | |
| Medien zum Teil mit einer gewissen Angstlust thematisierten Sexpartys | |
| scheinen gleichfalls weniger besucht, und bei den schwulen Datingportalen | |
| fällt auf, dass viele Profile derzeit deaktiviert oder auf „Suche derzeit | |
| nicht“ eingestellt sind. Andere verabreden sich zu vorübergehend exklusiven | |
| sexuellen Arrangements, vergleichbar mit den „Covidfamilien“ während der | |
| Lockdownzeit. | |
| ## Unbeschwertheit und Angstlosigkeit? | |
| Böse erwischt es nun vor allem die „Generation PrEP“, also jene Jahrgänge, | |
| die mittels präventiver Einnahme antiviraler Medikamente den Schrecken von | |
| Aids entrinnen konnten, zumal es sich dabei längst um eine gut zu | |
| kontrollierende Infektion handelt. Ähnlich wie in den siebziger Jahren, der | |
| Zeit zwischen Syphilis und Aids, konnten die PrEPys ihre Sexualität bislang | |
| relativ unbeschwert entdecken und genießen – wenn man davon absieht, dass | |
| sie wie alle anderen in den Covidlockdown mussten und ihnen gerade der Rest | |
| des Planeten um die Ohren fliegt. Und doch war es schön, diese | |
| Unbeschwertheit und Angstlosigkeit zu erleben, mit der sie dem klobigen, | |
| unerfreulichen Hygieneartikel Kondom entsagen konnten, der den älteren | |
| Jahrgängen mittels Todesandrohung ans Herz gelegt worden war. | |
| Doch Kondome schützen so wenig vor MPX wie MPX eine zwangsweise den Tod | |
| bringende Erkrankung wie Aids ist – in den meisten Fällen haben die bisher | |
| betroffenen Menschen keine schweren Symptome. Und die Zeiten haben sich | |
| geändert, denn sie sind bislang vor allem besser geworden für queere | |
| Menschen in den westlichen Ländern – eine hoffentlich nur vorübergehende | |
| Beschränkung sexueller Freiheiten, um die eigene Gesundheit und die anderer | |
| zu erhalten, ist gewiss zu verkraften. Doch die Generation PrEP muss nun | |
| noch eine andere, zunächst eher subkutan spürbare Erfahrung machen, nämlich | |
| dass es trotz aller Fortschritte noch immer ein „Wir“ und „die anderen“ | |
| gibt. Wer den MPX-Diskurs in den sozialen Medien verfolgt, wird rasch | |
| bemerken, dass es den (heterosexuellen) Menschen in dieser Öffentlichkeit | |
| vor allem darum geht, dass MPX nicht von der Minderheit auf die Mehrheit | |
| übergreifen – und genauso war es im Übrigen auch in der Hochzeit von Aids: | |
| Es ging darum, die Mehrheitsgesellschaft vor einer Infektionskrankheit zu | |
| schützen, die sich an den sogenannten Rändern der Gesellschaft ausgebreitet | |
| hatte, unter schwulen Männern, Fixer*innen, Prostituierten. | |
| Der eigentliche gesellschaftliche Umgang mit der MPX-Pandemie wird sich | |
| erst zeigen, wenn nicht mehr nur MSM betroffen sind, also Männer, die Sex | |
| mit Männern haben. Diese Woche zum Beispiel wurde die erste Infektion eines | |
| Kindes in Deutschland gemeldet, es lebt mit zwei infizierten Personen | |
| zusammen. | |
| Was wird passieren, wenn erstmals bekannt werden sollte, dass ein queerer | |
| Kindergärtner MPX in eine Kita getragen hat? Vielleicht kommen dann endlich | |
| Hubschrauber zum Einsatz. Doch zugleich wird man sehen, ob der hauchdünne | |
| Firnis der Homosexuellenfreundlichkeit tatsächlich auch extrareißfest | |
| ist. | |
| 12 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /WHO-zu-Affenpocken/!5869721 | |
| [2] /Affenpocken-in-Deutschland/!5862222 | |
| [3] /Affenpocken-Impfstoff-fehlt-in-Berlin/!5870284 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
| ## TAGS | |
| Mpox | |
| Pandemie | |
| Homosexualität | |
| Weltgesundheitsorganisation | |
| Mpox | |
| Pandemie | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gefährliche Variante von Mpox: EU-Kommission will Impfstoffe senden | |
| Eine neue Variante von Mpox besorgt Mediziner und Experten weltweit. Die | |
| EU-Kommission kündigt Hilfe an, die WHO berät in einem Notfallausschuss. | |
| MPX-Virus in Berlin: Warten auf den Impfstoff | |
| Berlin ist Hotspot für Neuinfektionen mit dem MPX-Virus. Die | |
| Impfbereitschaft ist groß, aber derzeit wird nicht genug geliefert. | |
| Karl Lauterbach will Ausbruch eindämmen: Affenpocken-Impfstoff bestellt | |
| Tödliche Verläufe sind bei den Affenpocken selten. Trozdem kauft die | |
| Bundesregierung 200.000 Impfstoff-Dosen, um die Krankheit einzudämmen. | |
| Medizinprofessor über Impfgeschichte: „Pockenimpfungen waren umstritten“ | |
| Bereits im 19. Jahrhundert waren viele impfkritisch. Professor Philipp | |
| Osten leitet das Institut für Medizingeschichte und zieht Parallelen zu | |
| heute. | |
| Mehr Infektionen, weniger Aufklärung: Aidshilfe kommt zu kurz | |
| Obwohl die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Berlin steigt, werden die Gelder | |
| für Aufklärung und Betreuung der Infizierten stetig gekürzt. Dabei bräuchte | |
| man heute viel mehr Präventionsarbeit, kritisiert die AIDS-Hilfe. |