# taz.de -- Sehenswerte Ausstellungen in Norwegen: Häuser an der Nordsee | |
> Zwei norwegische Ausstellungen verbinden Wasser, Natur und | |
> menschengemachte Eingriffe in diese. „House of Commons“ in Moss und „The | |
> Ocean“ in Bergen. | |
Bild: Installation des japanischen Künstlers Ai Arakawa in Bergen: Radioaktive… | |
Die Pandemie schwebt über allem, wie ein böser Geist. Einerseits ganz | |
konkret, wenn man bei der Einreise nach Norwegen seine Impfnachweise | |
vorlegen und einen bangen Moment vor dem Grenzbeamten ausharren muss, bis | |
man ins Land gelassen wird. Andererseits auch recht vage, aber nicht | |
weniger drängend. | |
Wie geht es weiter? Auf welche Weise werden die Auswirkungen der Pandemie | |
unser Zusammenleben verändern und in der Zukunft auf die Art und Weise | |
einwirken, wie wir [1][Gemeinschaft] erleben und Gemeinsinn entwickeln | |
werden? | |
Fragen nach der Zukunft der Gemeinschaft stehen auch im Mittelpunkt zweier | |
Ausstellungen in Norwegen. Die haben miteinander gemein, dass die Kuratoren | |
beider Projekte ihre Ansätze zwar lokal herleiten, aber dann weit über | |
ihren gegebenen Tellerrand blicken, auch wenn sich dies nicht immer einfach | |
gestaltet. | |
## Verwerfungen in Moss | |
In der Kunsthalle der alten Hansestadt Bergen eröffnete vor Kurzem die | |
Ausstellung „The Ocean“, kuratiert vom Direktor der Kunsthalle, Axel | |
Wieder. Und die Théo-Mario Coppola zugeschriebene 11. Ausgabe der Momentum | |
Biennale ist unter dem Titel „House of Commons“ in der Kleinstadt Moss zu | |
sehen, vierzig Bahnminuten von Oslo entfernt. Dort ist die Lage | |
kompliziert: Der [2][Kurator] wurde wenige Tage vor der offiziellen | |
Eröffnung gefeuert, weil er wohl nicht rechtzeitig Texte zum | |
Ausstellungskonzept vorlegen konnte. | |
Nun stellt sich die Frage, ob er nun als Kurator genannt werden darf oder | |
soll. Darüber gibt es nun handfesten Streit. Eine unschöne Debatte entspann | |
sich aufgrund von Vorwürfen und Gegenvorwürfen. | |
Die Fallhöhe der Ausstellung wird durch ihren Titel nicht geringer: „House | |
of Commons“ bezieht sich gleichermaßen spielerisch auf das [3][Unterhaus | |
des englischen Parlaments], aber auch auf eine Arbeit der norwegischen | |
Künstlerin Marianne Heske, die 1980 eine norwegische Holzkate aus dem 18. | |
Jahrhundert im Centre Pompidou in Paris installiert hatte und anschließend | |
wieder an ihren Ursprungsort zurückschickte. Vor sechs Jahren installierte | |
sie diese Kate erneut, diesmal vor dem norwegischen Parlament und unter dem | |
Titel „House of Commons“. | |
## In Auftrag gegebene Werke | |
Aber dürfen die Organisatoren die Ausstellung tatsächlich ohne den Kurator | |
realisieren? Wessen Verfehlungen hatten denn nun zuerst „irreparable | |
Schäden“ ausgelöst? Und welche Verpflichtungen hat die Organisation der | |
Biennale der Öffentlichkeit und den hier „Praktiker*innen“ genannten | |
Künstler*innen gegenüber, gerade auch in Auftrag gegebene Werke auch zu | |
zeigen? Ist das überhaupt noch eine Ausstellung? | |
Zehn der 27 eingeladenen Teilnehmer*innen forderten umgehend die | |
Wiedereinsetzung des Kurators, sieben bestanden letztlich darauf, dass ihre | |
Arbeiten aus der Ausstellung entfernt werden sollten, als sie von den | |
Vorgängen erfahren hatten. Heikel, die Sache. Nach der Wiedereröffnung der | |
Biennale ging es den Organisatoren in Moss vornehmlich darum, das Vertrauen | |
des verunsicherten Publikums zurückzugewinnen. | |
Insofern ist es naheliegend, dass das, was man nun dort zu sehen bekommt, | |
lückenhaft erscheint. Gerade die Vermittlung einzelner Werke und bestimmter | |
Entscheidungen ist schwierig, wenn ein Statement des Kurators fehlt. Warum | |
zum Beispiel sind in den zugegeben wunderschönen Rohholzpavillions des | |
mexikanischen Architekturkollektivs S-AR mit den Videos von Daisuke Kosugi | |
und Siri Hermansen, Arbeiten installiert, die jeweils auf den Zweiten | |
Weltkrieg Bezug nehmen? | |
## Paradigmenwechsel gefordert | |
Was bedeutet das, wenn in der ersten dürftigen Ankündigung ein | |
Paradigmenwechsel gefordert wurde und Änderungen hinsichtlich „aktueller | |
und historischer Herrschaftsformen, die aus Kapitalismus, Kolonialismus, | |
Rassismus, Patriarchalismus und Geschlechternormativität resultieren“? | |
Der Lebensbaum im wunderschön gestickten Wandteppich des philippinischen | |
Künstlers Cian Davrit ist eine perfekt plakative Illustration dieses | |
Ansatzes: Wurzelstränge, mit „Kapitalismus“ und „Bürokratie“ bezeichn… | |
bringen Äste mit den Begriffen „Militarisierung“ oder „Hunger“ hervor.… | |
weitere Textilarbeit ist der explizit als antifaschistisches Statement zu | |
verstehende Wandteppich „Etiopia“, 1935 von Hannah Ryggen gewebt, als | |
Protest gegen die damalige italienische Invasion Äthiopiens unter dem | |
faschistischen Duce Benito Mussolini im selben Jahr. | |
Es wäre nicht ohne Ironie, wenn ausgerechnet eine Ausstellung, die sich mit | |
Pathos das Thema Zusammengehörigkeit einerseits und horizontale Strukturen | |
andererseits auf die Fahnen geschrieben hat, nun genau an der Umsetzung | |
dieser Werte scheitern würde. Noch dazu in der Idylle der unter Naturschutz | |
stehenden Landschaft der norwegischen Insel Jeløya, wo sie in einem im | |
klassizistischen Stil gebauten Gutshaus untergebracht ist. | |
## Flora und Fauna | |
Es beherbergt nicht nur die Galleri F15, wo der größte Teil der Ausstellung | |
zu sehen ist, sondern in einem Wirtschaftsgebäude neben einer kleinen | |
Ausstellung zu lokaler Flora und Fauna auch eine von Studierenden | |
erarbeitete Präsentation zur Geschichte der Landschaftsgestaltung rund um | |
den Hof. | |
So lässt sich nachvollziehen, dass eine vor Kurzem gesetzte Eiche an genau | |
der Stelle steht, wo bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs über Jahrhunderte | |
eine Eiche stand, die nach 1940 von den deutschen Besatzern gefällt wurde, | |
weil sie den Flakschützen der Wehrmacht die Sicht in den Fjord versperrte. | |
Details wie dieses helfen den idyllischen Eindruck [4][historisch | |
einzuordnen] und stellen mehr als nur eine Fußnote dar. | |
Ein besonders spannendes Projekt von Studierenden liegt in den Räumen der | |
Kunsthall Bergen aus. Eine gut hundertseitige Zeitung der Bergen School of | |
Architecture (BAS) untersucht das „lange und oszillierende Vermächtnis der | |
Beziehungen zum Meer“ der Provinz Vestland. Das Oszillieren entsteht durch | |
den Kontrast zwischen den Beschreibungen der Nordsee als einem auf extreme | |
Weise (Fischfang, Ölförderung, Tourismus, Verkehr) industriell | |
erschlossenem Gewässer einerseits. | |
## Blaue Ökonomie | |
Andererseits vor dem Hintergrund der „blauen Ökonomie“, die eine Ausbeutung | |
der Ozeane unter den Bedingungen der Nachhaltigkeit erst am Anfang sieht: | |
Die Förderung von raren Mineralien aus Manganknollen am Meeresgrund der | |
Tiefsee, Algen als Nahrungsquelle, neue Energiequellen. | |
Über Jahrhunderte hat sich die Stadt Bergen über ihre Beziehung zur Nordsee | |
definiert, und so bildet diese Zeitung, die mit ihrem umfangreichen | |
Informations- und Bildmaterial sowohl den Abwrackprozess von | |
Bohrplattformen wie Aspekte der Lachszucht beinhaltet, den analytischen | |
Hintergrund zur Ausstellung. Sie erstreckt sich nicht nur auf die | |
Kunsthalle, sondern dehnt sich auch an fünf Punkten in das Stadtgebiet von | |
Bergen aus. | |
So etwa bei der Performance von Ei Arakawa, der dafür radioaktiv | |
verstrahltes Wasser aus Fukushima sammelte und es in einer beinahe | |
karnevalesken Parade von Studierenden der Kunst und der Architektur durch | |
ein System von Rinnen nur fast bis ins Meer leiten ließ. Nur Zentimeter | |
bevor das strahlende japanische ins vermeintlich weniger kontaminierte | |
norwegische Wasser gelaufen wäre, wurde es von den Studierenden wieder | |
aufgefangen und zurückgetragen. Das alles unter den Augen des Künstlers, | |
zugeschaltet per Video auf einem mobilen Gerät in den Händen des | |
Kunsthallen Direktors, Axel Wieder. | |
Ausgangspunkt dieses Parallelwasserkreislaufs war eine Backsteinskulptur | |
des Dänen Per Kirkeby, die hier fröhlich zweckentfremdet wurde. Wenigstens | |
wird sie mal nicht als öffentliches Pissoir benutzt, meinte eine | |
schmunzelnde Passantin. Noch ein Wasserkreislauf! Letztlich auch ein | |
Hinweis auf Humor, der etwas Distanz schafft. Denn auch in Bergen lief | |
nicht alles rund: Die Installation zahlreicher neuer, extra für „The Ocean“ | |
konzipierter Arbeiten hat Wieder und das Team der Kunsthalle an ihre | |
Grenzen gebracht. | |
So etwas sei ihm noch nie passiert, erklärt der Direktor: „Da stehst du da, | |
mit dem Künstler am Handy, und diskutierst: Soll das so oder so?“ Letztlich | |
wurde die Eröffnung um eine Woche verschoben, und nun ist die Schau endlich | |
zu sehen. Sie zeigt, was wir seit der Pandemie am eigenen Leibe erfahren | |
haben: Die hohe See trennt uns nicht, sie verbindet uns. | |
15 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Schlaegel | |
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