# taz.de -- Nach dem Anschlag von Utøya: Zehn verlorene Jahre | |
> 77 Menschen verloren 2011 bei den Anschlägen in Norwegen ihr Leben. | |
> Während das Land der Opfer gedenkt, dreht sich die Debatte um | |
> Versäumnisse. | |
Bild: Gedenken an das Attentat vor 10 Jahren: Eineinhalb Stunden lang jagte der… | |
STOCKHOLM taz | 77 einzelne Glockenschläge werden am 22. Juli um 19 Uhr vom | |
Glockenspiel des Rathauses in Oslo ertönen. Das Leben in der norwegischen | |
Hauptstadt und im ganzen Land soll dann einige Minuten still stehen im | |
Gedenken an die 77 Menschen, die einer der folgenreichsten | |
rechtsextremistischen Terroranschläge im Europa der Nachkriegszeit das | |
Leben gekostet hat. | |
Am 22. Juli 2011 hatte der Attentäter Anders Breivik erst eine Bombe im | |
Osloer Regierungsviertel gezündet. Acht Menschen starben. Dann erschoss er | |
auf der Insel Utøya, auf der ein Sommerlager der Jungsozialisten stattfand, | |
67 Jugendliche. Weitere 66 verletzte er teilweise schwer, zwei starben auf | |
der Flucht. Eineinhalb Stunden lang jagte der Massenmörder seine Opfer, er | |
richtete sie regelrecht hin. | |
[1][Zum zehnten Jahrestag der Terrortaten] werden zahlreiche | |
Gedenkveranstaltungen stattfinden. Um für diese Veranstaltungen die | |
Sicherheit erhöhen zu können, wurde für die normalerweise unbewaffnete | |
norwegische Polizei für die Zeit vom 18. bis zum 23. Juli vorübergehende | |
Bewaffnung angeordnet. Bei der öffentlichen Debatte der vergangenen Monate, | |
die auch mit Buchneuerscheinungen und neuen Dokumentarfilmen geführt wurde, | |
stand vor allem eine Frage im Mittelpunkt: Was haben wir gelernt? | |
Norwegens Antwort vor zehn Jahren auf den brutalen Rechtsterror hatte | |
international Aufsehen und Bewunderung ausgelöst. Das Land reagierte mit | |
Blumen. Drei Tage nach den Anschlägen gingen in Oslo 200.000 Menschen zu | |
einem „Rosenzug“ auf die Straße. Man habe „die Straßen mit Liebe gefül… | |
sagte Kronprinz Haakon. Hass wolle man mit Zusammenhalt beantworten. | |
## Kurs der Versöhnung | |
Und Ministerpräsident Jens Stoltenberg, Vorsitzender der Sozialdemokraten, | |
versprach: „Mit Offenheit, Demokratie, Festigkeit und Kraft holen wir | |
unsere Geborgenheit zurück.“ Dem Terror werde es nicht gelingen, Norwegen | |
zu verändern. Stoltenberg, mittlerweile Nato-Generalsekretär, wurde für | |
diesen Kurs der Versöhnung, der den Zusammenhalt der Nation an die erste | |
Stelle setzte, hoch gelobt. | |
Der Terrorist ist eigentlich keiner von uns, lautete damals eine stetig | |
wiederkehrende Botschaft: Er hat keine Wurzeln in der norwegischen Politik. | |
Er hat uns alle angegriffen. Er hat die Demokratie angegriffen, nicht nur | |
eine Partei oder eine Politik. | |
Aber stimmte das wirklich? Ja, er hatte das ganze Land angegriffen. Vor | |
allem aber hatte er eine ganz bestimmte Politik angegriffen. Und ein Blick | |
in das 1.500 Seiten lange wirre „Manifest“ des Terroristen zeigt, von wem | |
er sich hatte inspirieren lassen. Manche der von ihm zitierten Aussagen | |
stammten auch von norwegischen PolitikerInnen. | |
Er war ja nicht vom Himmel gefallen, der Terrorist. Viele Jahre lang und zu | |
einer Zeit, zu der er seine Terrortaten bereits plante, hatte er seine | |
politische Heimat bei der rechtspopulistischen Fortschrittspartei gesucht | |
und gefunden. Dieser migrationsfeindlichen, teilweise rassistischen Partei | |
hatte zwei Jahre vor der Tat fast ein Viertel der NorwegerInnen die Stimme | |
gegeben. Damalige Parteichefin war Siv Jensen, die nach der Tat von einem | |
„Alptraum“ sprach und ihre eigene Hetze mit Sätzen wie dem von der | |
„schleichenden Islamisierung Norwegens“ vergessen machen wollte. | |
## Verwelkte Rosen | |
„Der Weg zu Hass und ideologisch motiviertem Terror beginnt immer mit | |
Gedanken und Worten, die andere Menschen entmenschlichen“, schrieb Raymond | |
Johansen, Sozialdemokrat und Bürgermeister von Oslo, in der vergangenen | |
Woche und fragte: Wäre es spätestens dann, als die Rosen verwelkt waren, | |
nicht an der Zeit gewesen, „die Auseinandersetzung mit der Ideologie des | |
Terroristen und seiner Gesinnungsfreunde zu führen“? | |
Diese Auseinandersetzung gab es seinerzeit nicht. Es blieb bei der Linie: | |
keine Schuldzuweisungen. Der „Zusammenhalt der Nation“ war wichtiger. | |
Stoltenberg griff persönlich Parteifreunde an, die auf die | |
ausländerfeindliche und rassistische Rhetorik der Fortschrittspartei | |
hinwiesen. | |
Der damalige Jungsozialisten-Vorsitzende Eskil Pedersen wurde dafür | |
kritisiert, dass er fragte, ob sich nicht auch aus Worten eine | |
Verantwortung für Taten ergebe. Ihm wurde vorgeworfen, nicht nur | |
politisches Kapital aus dem Terroranschlag zu schlagen, sondern auch die | |
Meinungsfreiheit einschränken zu wollen. Man solle doch Worte und Handlung | |
nicht verwechseln – oder Hass mit Gewalt. | |
„Diejenigen, die zu erschießen dem rechtsextremen Terroristen nicht | |
gelungen war, sollten nun bloß nicht versuchen an die Einwanderungshetze zu | |
erinnern“, formuliert es Snorre Valen, Ex-Abgeordneter der Linkspartei: | |
„Lektionen, die absolut grundlegend für jeden sind, der auch nur den | |
geringsten Einblick in die Entstehung politischer Gewalt in der | |
Vergangenheit hat, sollten in der norwegischen politischen Debatte nicht | |
gelten. Denn das könnte ja unbehagliche Wahrheiten aufdecken.“ Man habe so | |
getan, „als ob ein Aufruf zum Bürgerkrieg gar nichts mit einem Bürgerkrieg | |
zu tun hat“. | |
## Damalige Versäumnisse | |
Es brauchte zehn Jahre und [2][einen weiteren Terroranschlag 2019] auf die | |
Al-Noor-Moschee in Bærum, bevor die Sozialdemokraten endlich ihre damaligen | |
Versäumnisse offen benennen. Nein, es könne nicht reichen, „angesichts | |
eines solchen politisch motivierten Angriffs nur mit Wärme und Offenheit zu | |
reagieren“, heißt es mit deutlicher Anspielung auf die Stoltenberg-Linie im | |
Vorwort des Buchs „Aldri tie, aldri glemme“ („Nie schweigen – nie | |
vergessen“), das die Parteijugend der Sozialdemokraten nun veröffentlicht | |
hat. | |
Auch Jonas Gahr Støre, unter Stoltenberg Außenminister und sein Nachfolger | |
im Amt des Parteichefs, benennt darin die Folgen dieser Versäumnisse. Zehn | |
Jahre nach dem 22. Juli „begegnen wir wieder und wieder“ den gleichen | |
Aggressionen und dem gleichen Hass: „Worte sind Taten. Was du sagst, | |
bedeutet etwas.“ Wenn führende Politiker sich „problematisch ausdrücken�… | |
dürfe man nicht nur mit einem Achselzucken reagieren. | |
Achselzucken war unter der Koalition der konservativen „Høyre“ mit der | |
Fortschrittspartei (2013 bis 2019) die übliche Reaktion von | |
Ministerpräsidentin Erna Solberg, wenn es rassistische oder | |
fremdenfeindliche Ausfälle von führenden VertreterInnen der | |
Rechtsaußenpartei gab oder wenn ihre Justizministerin Konspirationstheorien | |
verbreitete. Ein Anlass, diese politische Zusammenarbeit in Frage zu | |
stellen, war dies für Solberg nicht. | |
Doch auch die Sozialdemokraten können sich nicht aus der Verantwortung | |
stehlen. Auch sie ließen eine ernsthafte ideologische Auseinandersetzung | |
mit den Rechtspopulisten vermissen und überließen der Fortschrittspartei | |
allzu kampflos das Feld. Offenbar fürchteten sie, dass ein entschiedener | |
Kurs gegen deren migrationsfeindliche Linie dazu führen könnte, | |
Wähler*innen aus den eigenen Reihen zu verschrecken. | |
## Pläne für Propagandavideo | |
Es war dieser Umgang mit den Rechtspopulisten, der zu dem „vergifteten | |
politischen Klima in Norwegen“ beigetragen habe, schreibt Ali Esbati in | |
seinem Buch „Etter rosetogene“ („Nach den Rosenzügen“). Der schwedische | |
Reichstagabgeordnete der Linken war selbst beim Terrorangriff auf Utøya. Er | |
sollte dort einen Vortrag halten. Der Terrorist hatte gehofft, auch Esbatis | |
damalige Partnerin, die Verfasserin Marte Michelet, dort anzutreffen. In | |
seinen Unterlagen fand man Pläne für ein Propagandavideo, das er auf der | |
Insel drehen wollte und das die Hinrichtung von Michelet, einer scharfen | |
Kritikerin des rechtsradikalen Milieus, dokumentieren sollte. | |
Nach dem 22. Juli ging die Hetze einfach weiter, konstatiert eine | |
Kommentatorin im liberalen Osloer Dagbladet. Schlimmer noch: Das, was der | |
Terrorist in seinem rechtsextremen „Manifest“ formuliert habe, finde sich | |
mittlerweile in den Kommentarspalten von Medien wieder. Ihre berechtigte | |
Frage: „Wie konnten wir nur hier landen?“ | |
Die politisch Aktiven unter den 495 Überlebenden von Utøya sahen sich in | |
den letzten Jahren Schikanen, Hetze und Drohungen ausgesetzt und mussten | |
sich vorwerfen lassen, sie würden die Terrortat instrumentalisieren und die | |
„22. Juli-Karte ausspielen“. „Widerlich und beängstigend“ konstatierte… | |
„konservative „Aftenposten“, die diesen Hass und diese Hetze dokumentiert… | |
„Das erinnert uns an die Verpflichtung, mit aller Kraft die Denkweise zu | |
bekämpfen, die diesen Massenmörder erschaffen hat.“ | |
Zum ersten Jahrestag des 22. Juli hatte Ministerpräsident Stoltenberg 2012 | |
Bilanz gezogen: „Der Täter hat verloren, das Volk hat gesiegt.“ So ein Satz | |
wird heute wohl kaum wiederholt werden. Die Jungsozialisten-Vorsitzende und | |
Utøya-Überlebende Astrid Heim kritisiert die Stille, die dem 22. Juli | |
folgte: „Die hilft uns nicht, aus unserer Geschichte zu lernen oder gegen | |
extreme Einstellungen aufzustehen.“ | |
Laut einer aktuellen Umfrage meint auch eine Mehrheit der Norweger*innen, | |
es sei nach dem 22. Juli nicht genug gegen den Rechtsextremismus getan | |
worden. Der norwegische Verfassungsschutz sieht im Rechtsextremismus | |
aktuell die größte Gefahr für die Sicherheit des Landes. | |
22 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /10-Jahre-nach-dem-Attentat-von-Utya/!5781958 | |
[2] /Rechtsextremer-Terror-in-Norwegen/!5698133 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
## TAGS | |
Norwegen | |
Anders Breivik | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Rechtsextremismus | |
Gedenken | |
Anders Breivik | |
Norwegen | |
Polizei Berlin | |
Rechtsextremismus | |
Anders Breivik | |
Anders Breivik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Utøya-Attentäter vor Gericht: Nichts als ein Kübel Hass | |
In Norwegen hat eine Verhandlung über einen Bewährungsantrag des | |
verurteilen Massenmörders begonnen. Der Rechtsextreme nutzt das als Bühne. | |
Terror in Norwegen: Attentat mit Pfeil und Bogen | |
Im norwegischen Kongsberg hat ein Däne mindestens fünf Menschen getötet und | |
mehrere verletzt. Der Geheimdienst spricht von einer „Terrorhandlung“. | |
Fahrer begeht offenbar gezielt 13 Unfälle: Rechtsextreme Unfallfahrt? | |
Ein 32-Jähriger soll am Donnerstagabend in Berlin mit einem Transporter | |
gezielt andere Autos angefahren haben. Eine Frau wurde verletzt. | |
10 Jahre nach dem Attentat von Utøya: „Sie hat gelernt, damit zu leben“ | |
Jede Person muss Verantwortung übernehmen, um Hass entgegenzutreten, sagt | |
Laila Gustavsen. Ihre Tochter überlebte das Utøya-Attentat schwer verletzt. | |
„Utøya 22. Juli“ startet in Deutschland: Jeder Schuss rekonstruiert | |
„Utøya 22. Juli“ soll den Betroffenen die Hoheit über die Geschehnisse | |
zurückgeben. Erik Poppes Film verweigert Anders Breivik das Wort. | |
Breiviks Haftbedingungen in Norwegen: Was heißt menschlich behandeln? | |
Ein Gericht verhandelt erneut über die Haftbedingungen von Anders Behring | |
Breivik. 2011 hatte der Rechtsextremist 77 Menschen ermordet. |