| # taz.de -- 10 Jahre nach dem Attentat von Utøya: „Sie hat gelernt, damit zu… | |
| > Jede Person muss Verantwortung übernehmen, um Hass entgegenzutreten, sagt | |
| > Laila Gustavsen. Ihre Tochter überlebte das Utøya-Attentat schwer | |
| > verletzt. | |
| Bild: Gedenken nach den Anschlägen auf Utoya und in Oslo im Juli 2011 | |
| taz: Frau Gustavsen, Ihre Tochter Marte wurde [1][vor zehn Jahren auf | |
| Utøya] bei dem rechtsextremen Attentat durch zwei Schüsse schwer verletzt. | |
| Sie hat eine Niere verloren und längere Zeit im Rollstuhl gesessen. Wie | |
| geht es ihr heute? | |
| Laila Gustavsen: Ihr geht es so weit ganz gut. Sie wird ihr ganzes Leben | |
| lang unter den Folgen ihrer Verletzungen leiden, aber sie hat gelernt, | |
| damit zu leben. Marte hat beeindruckende Fortschritte gemacht und nimmt | |
| diese Herausforderung an – körperlich und mental. Sie hat mehrere Jahre | |
| studiert und im vergangenen Jahr ihren ersten Job bekommen. Das war ein | |
| großer Moment für mich. | |
| Wie hat dieser Anschlag Ihr Familienleben verändert? Ist das zu Hause noch | |
| ein Gesprächsthema? | |
| Schwer zu sagen, denn der Anschlag ist zu einem Teil von uns geworden. Im | |
| Alltag sprechen wir nicht so oft darüber. Aber jedes Jahr vor dem 22. Juli | |
| überkommt mich so ein Gefühl von Dankbarkeit, aber auch tiefer Trauer. | |
| Dankbarkeit, weil meine Tochter überlebt hat, aber auch Trauer angesichts | |
| von 77 Menschen, die an diesem Tag getötet wurden. | |
| Bei unserem [2][ersten Treffen im Herbst 2011 im norwegischen Parlament] | |
| haben Sie gesagt: Offenheit, Respekt und Toleranz seien der Kern der | |
| norwegischen Gesellschaft. Sie würden immer für diese Werte eintreten. | |
| Würden Sie das heute genauso sagen? | |
| Auf jeden Fall. Doch bei einigen Kommentaren in sozialen Medien, die sich | |
| noch in den Grenzen der Meinungsfreiheit bewegen, stoße ich mit meinem | |
| Verständnis von Toleranz an Grenzen. Denn da gibt es viel Rassismus und | |
| Intoleranz. Dieses Problem sehen wir in vielen europäischen Staaten. | |
| LGBTQ-Menschen verlieren ihre Rechte und die Zustimmung zu rechten Parteien | |
| wächst. Diese Gratwanderung in Sachen Meinungsfreiheit ist für alle eine | |
| Herausforderung. Ich bin der Meinung, dass jede/r Einzelne eine größere | |
| Verantwortung übernehmen muss, um Rassismus und Hass entgegenzutreten, mit | |
| Worten und Argumenten. | |
| Auch der damalige sozialdemokratische Regierungschef Jens Stoltenberg | |
| setzte dem Hassverbrechen ein Plädoyer für mehr Demokratie, Offenheit und | |
| Menschlichkeit entgegen und schaffte es, die Menschen zu vereinen. Wo steht | |
| die norwegische Gesellschaft heute? | |
| Norwegen ist immer noch ein Land, in dem die Menschen den Institutionen des | |
| Staats großes Vertrauen entgegenbringen. Doch dieses Vertrauen wird durch | |
| wachsende soziale Ungleichheiten untergraben. Wenn wir mehr Demokratie | |
| wollen, müssen wir uns Strategien ausdenken, die diese Unterschiede | |
| verringern und eine Gesellschaft schaffen, in der alle die gleichen | |
| Möglichkeiten haben. | |
| Das heißt, Sie stimmen der These zu, dass die heutige Gesellschaft tief | |
| gespalten ist. Spielt auch der Anschlag von 2011 da eine Rolle? | |
| Zweifellos. Die knallharte Tatsache ist doch, dass Breivik einer von uns | |
| ist. Er ist Norweger, ein weißer Mann, der im Westen von Oslo aufgewachsen | |
| ist. Der letzte Terrorakt (der Anschlag erfolgte im August 2019, Anm. d. | |
| Red.), als ein Mann seine chinesischstämmige Adoptivschwester getötet hat | |
| und in einer Moschee Menschen erschießen wollte, folgte demselben Muster. | |
| Bis jetzt ist jeder Terroranschlag in Norwegen aus der rechten Ecke | |
| gekommen. Das muss immer betont werden. Wie übrigens auch der Umstand, | |
| [3][dass Breiviks Ziel die Sozialdemokratische Partei war]. Das ist in der | |
| Debatte der letzten zehn Jahre komplett untergegangen. Die AUF | |
| (Jugendorganisation der Sozialdemokraten, Anm. d. Red.) war das | |
| Anschlagsziel. Breivik wollte die Sozialdemokraten an ihrem verwundbarsten | |
| Punkt treffen, der Jugend. | |
| Apropos untergegangen: Einige Opfer beziehungsweise deren Angehörige | |
| beklagen, dass ihr Schicksal nicht mehr im öffentlichen Diskurs vorkommt. | |
| Sie fühlen sich vergessen. Ist diese Kritik berechtigt? | |
| Ich finde ja. Aber kommen wir noch einmal auf die AUF und die | |
| Sozialdemokratische Partei zurück. Die AUF wurde sogar dazu aufgefordert, | |
| Verantwortung dafür zu übernehmen, wie die Debatte zu führen sei, so nach | |
| dem Motto: Über Immigration müsse doch viel offener gesprochen werden. | |
| Stellen Sie sich einmal vor: Jedes Mal, wenn du über Terror und Politik | |
| sprichst, wird dir vorgeworfen, du würdest die „Utøya-Karte“ spielen. | |
| Dieser Mechanismus hat zu einer kollektiven Narkose geführt, doch | |
| mittlerweile wird zumindest darüber diskutiert. Das ist sehr wichtig, | |
| sowohl für die individuelle, als auch für die kollektive Erinnerung. | |
| Wie sieht sie aus, diese kollektive Erinnerung? | |
| Wirklich alle erinnern sich daran, wo sie an diesem Tag waren und was sie | |
| gemacht haben. 77 Menschen sind gestorben. Sie hatten 144 Eltern, 576 | |
| Großeltern. Geschwister, Klassenkamerad*innen, Onkel und Tanten. | |
| Freund*innen und Kolleg*innen. Wir sind ein kleines Land. In jedem Bezirk | |
| Norwegens gab es jemanden, der betroffen war. Viele jungen Menschen waren | |
| seitdem in Oslo und auf Utøya. Das ist extrem wichtig, denn es hilft der | |
| jungen Generation zu verstehen. | |
| Seit 2019 gibt es in Oslo ein Denkmal, das an die Opfer erinnert. Auf Utøya | |
| selbst brauchte es erst eine Gerichtsentscheidung, um das möglich zu | |
| machen. Können Sie die Argumente der Gegner*innen verstehen, die Angst | |
| vor Schaulustigen und der ständigen Konfrontation mit der Tat haben? | |
| Es gab nicht viele Gegner*innen, doch sie haben viel Aufmerksamkeit | |
| bekommen. Ich verstehe, dass es da unterschiedliche Meinungen geben kann, | |
| aber solche öffentlichen Orte sind essenziell für die Menschen, um zu | |
| gedenken und den Opfern Respekt zu zollen. Keinen Gedenkort auf Utøya zu | |
| haben, das ist für mich nicht vorstellbar. Das wäre so, als ob es keine | |
| solchen Stätten für den Zweiten Weltkrieg oder die Opfer der Angriffe in | |
| den USA vom 11. September 2001 gäbe. | |
| Auch andere Länder, wie zum Beispiel Deutschland, wurden in der jüngsten | |
| Zeit wiederholt von Anschlägen Rechtsradikaler erschüttert. Was könnten | |
| sie von Norwegen lernen? | |
| Die Frage sollte vielmehr sein, was können wir voneinander lernen. | |
| Rechtsterrorismus und rechte Verschwörungstheorien sind zu einem globalen | |
| Phänomen geworden. Deshalb ist auch eine globale Zusammenarbeit das Gebot | |
| der Stunde, um dagegen vorzugehen. | |
| Im kommenden September stehen in Norwegen Parlamentswahlen an. Wird dieser | |
| zehnjährige Jahrestag und die Debatten, die darüber geführt werden, einen | |
| Einfluss auf die Wahl haben? | |
| Da werden andere Themen wichtiger sein. Zum Beispiel Arbeit, Einschnitte in | |
| den Sozialstaat und die wachsende Ungleichheit in der norwegischen | |
| Gesellschaft. | |
| Die Anschläge von 2011 waren für Norwegen eine Zäsur. Welchen Umgang mit | |
| diesem Ereignis würden Sie sich für die Zukunft wünschen? | |
| Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich würde mir grundlegende Veränderungen | |
| der Debattenkultur in den Medien wünschen. Warum sind die Kommentarspalten | |
| voll von wütenden weißen Männern? Wir müssen uns fragen, wie die Medien | |
| selbst, aber auch Organisationen der Zivilgesellschaft da gegensteuern | |
| können. Wir brauchen eine Debattenkultur und eine Demokratie, wo die | |
| Menschen das Gefühl haben, dass ihre Meinungen ernst genommen werden, sich | |
| aber auch alle Seiten wiederfinden. | |
| Noch eine persönliche Frage: Sie waren lange Zeit in der Arbeiterpartei | |
| politisch aktiv, haben sich aber aus der Politik zurückgezogen. Warum? | |
| Ich war diese Vereinfachungen in den politischen Debatten einfach leid. | |
| Auch die Erwartungen an die Rolle von Politiker*innen haben mich | |
| ermüdet. Da stehen doch meistens Konflikte im Vordergrund. Dass ich jetzt | |
| im akademischen Bereich arbeite, war nach 2013 für mich die bessere Wahl. | |
| In diesem Job gibt es mehr Raum für offene Reflexion. | |
| 21 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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