# taz.de -- 6 Monate nach Anschlag in Oslo und Utøya: Der Tag, der alles verä… | |
> Lailia Gustavsens Tochter wurde bei den Anschlägen in Oslo schwer | |
> verletzt. Trotzdem plädiert die Abgeordnete weiter für eine offene | |
> Gesellschaft. | |
Bild: "Wir wissen noch gar nicht, was wirklich passiert ist": Trauer in Oslo im… | |
OSLO taz | Vor dem Dom im Stadtzentrum steckt ein herzförmiger roter | |
Luftballon, der an einem Holzstab befestigt ist, im Boden. Daneben liegen | |
Tannengebinde, Blumen und bereits etwas vergilbte Fotos, die immer noch der | |
Feuchtigkeit und den kalten Temperaturen trotzen. Die Aufnahmen zeigen | |
einige der Opfer von Utøya. | |
Auf der kleinen Insel hatte Anders Breivik am 22. Juli vergangenen Jahres | |
69 Teilnehmer eines sozialdemokratischen Jugendlagers mit gezielten | |
Schüssen regelrecht niedergemetzelt. Wenige Stunden zuvor hatte der | |
rechtsradikale Fanatiker und selbsternannte Retter Norwegens einen | |
Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel verübt. Dabei waren acht | |
Menschen getötet und mehrere Dutzend verletzt worden. Im November wurde der | |
32-Jährige in einem umstrittenen rechtspsychiatrischen Gutachten für | |
unzurechnungsfähig erklärt. | |
Ein hoch aufgeschossener schlanker Mann in einer schwarzen Lederjacke tritt | |
mit gesenktem Kopf vor die Gedenkstätte. Plötzlich beginnt er zu zittern, | |
Tränen laufen ihm über das Gesicht. Kurze Zeit später in einer nahe | |
gelegenen Kneipe und nach dem ersten Schnaps, dem innerhalb der nächsten 30 | |
Minuten noch mehrere folgen, bricht aus Aage, wie er sich vorstellt, seine | |
ganze Verzweiflung heraus. | |
Immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt erzählt er vom 22. Juli - dem | |
Tag, an dem seine Nichte Nura auf Utøya ihr Leben verlor. Mehrmals in der | |
Woche komme er in den Dom, um sie zu betrauern. Das verschaffe ihm | |
Erleichterung. | |
Dann hält er inne. "Ich kann nicht verstehen", sagt der 49-Jährige, "warum | |
jemand das Leben so vieler junger Menschen einfach auslöscht. Ich darf das | |
nicht denken, aber am liebsten würde ich Breivik umbringen." Opfer und | |
Hinterbliebene seien überwiegend sich selbst überlassen, das Hilfsangebot | |
für seine Schwester habe sich auf einen einzigen Anruf beschränkt. | |
"Das Schlimmste aber ist", sagt er und sein Körper verkrampft sich, "wir | |
wissen noch gar nicht, was am 22. Juli wirklich passiert ist. Und die | |
Politiker lügen, um die Polizei zu schützen. Ich will aber endlich die | |
ganze Wahrheit wissen." | |
## Größte Katastrophe seit dem II. Weltkrieg | |
Mit diesem Ansinnen steht Aage nicht allein. Der 22. Juli 2011 ist in | |
Norwegen zu einer Chiffre geworden und steht für die größte nationale | |
Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwar bemüht sich derzeit eine | |
Untersuchungskommission um eine Klärung der Vorgänge. Dennoch bezweifeln | |
viele Norweger, dass sie jemals in allen Einzelheiten erfahren werden, was | |
sich tatsächlich am 22. Juli abgespielt hat. | |
Dabei ist die Frage, warum der Attentäter Anders Breivik über eine Stunde | |
lang auf Utøya unbehelligt wüten konnte, bevor die Polizei eingriff, nur | |
eine von vielen, die die Menschen umtreiben. Debattiert wird über eine | |
Bewaffnung der Polizei, den Einsatz des Militärs im Landesinneren zum | |
Schutz von Regierungsgebäuden, mehr Befugnisse für die Geheimdienste, eine | |
stärkere Überwachung des Internets sowie eine Einschränkung von | |
Bürgerrechten. | |
Kurzum: Auf dem Prüfstand steht das ganze Konzept einer größtmöglichen | |
Offenheit der Gesellschaft, für das der sozialdemokratische | |
Ministerpräsident Jens Stoltenberg unmittelbar nach dem "Massaker" bei | |
seinen Landsleuten noch so vehement geworben hatte. | |
## Am Anfang teilnahmslos | |
"Damit hat er den Nerv der norwegischen Gesellschaft getroffen. Das ist | |
unser Kern: Offenheit, Respekt und Toleranz", sagt Lailia Gustavsen. Die | |
kleine, etwas vollschlanke Frau mit kurz geschnittenem schwarzem Haar, die | |
viel und gerne lacht, sitzt für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei im | |
norwegischen Parlament. "An diesem Credo habe ich niemals gezweifelt und | |
das tue ich auch heute nicht." | |
Ob das die Mehrheit der Norweger auch jetzt noch so sehe, da sei sie sich | |
jedoch nicht mehr sicher. "Es ist menschlich nachvollziehbar, in einer | |
Situation wie nach dem 22. Juli Wut und Hass zu empfinden", sagt die | |
39-Jährige. Doch dürften negative Gefühle in der Politik nicht die Oberhand | |
gewinnen. | |
Wut und Hass zu empfinden, dazu hätte auch Lailia Gustavsen selbst allen | |
Grund. Ihre 18-jährige Tochter Magda wurde bei dem Attentat auf Utøya durch | |
zwei Schüsse in den Rücken schwer verletzt. Sie verlor eine Niere, wurde | |
mehrfach operiert und sitzt jetzt im Rollstuhl. "Aber sie trainiert jeden | |
Tag und ich bin optimistisch, dass sie irgendwann wieder laufen kann", sagt | |
Lailia Gustavsen. | |
Der persönliche Schicksalsschlag habe sie anfangs zur Beobachterin | |
politischer Debatten gemacht, berichtet sie. Es sei ihr absurd vorgekommen, | |
über Verkehrswegepläne und eine Verbesserung der Infrastruktur zu | |
diskutieren. "Aber jetzt bin ich wieder zurück", sagt sie. Und fügt nach | |
einer kurzen Pause hinzu: "Seit dem 22. Juli engagieren sich viel mehr | |
Menschen als vorher politisch. Der Begriff Demokratie hat jetzt mehr | |
Inhalt." | |
## Politisierung der Jugend | |
Die plötzliche Politisierung vor allem junger Norweger als Folge der | |
Anschläge macht sich auch bei der sozialdemokratischen Jugendorganisation | |
AUF (Arbeidaranes Ungdomsfylking) bemerkbar. Die AUF ist Veranstalterin des | |
alljährlichen Jugendsommerlagers auf Utøya. Die Spitze des linken | |
Nachwuchses residiert im zehnten Stock eines Hochhauses in der Youngstorget | |
2 A im Zentrum Oslos. | |
Der Chef der AUF, Eskill Pedersen, bittet in sein Zimmer. Der 27-Jährige | |
studierte Politikwissenschaftler, der einem Journal für erfolgreiche junge | |
Führungskräfte entsprungen sein könnte, kann nur mühsam verbergen, dass er | |
Treffen wie dieses als lästigen Pflichttermin empfindet. "Seit dem 22. Juli | |
sind über 4.000 neue Mitglieder zu uns gestoßen. Das ist großartig, wir | |
können da von einer echten Politisierung sprechen", sagt er und beginnt | |
routiniert sein Programm abzuspulen. | |
Die meisten Norweger seien zu einem normalen Alltagsleben zurückgekehrt, | |
Norwegen solle eine offene Gesellschaft bleiben, gleichzeitig gelte es | |
jetzt aber Diskussionen zu führen, die Politiker hätten ihr Augenmerk | |
bisher zu wenig auf den Terrorismus von rechts gerichtet. | |
## Schreiben als Selbsthilfe | |
Bei der Frage, wie sich die Anschläge auf ihn persönlich ausgewirkt hätten, | |
bröckelt die selbstsichere Fassade. "Ich fühle jeden Tag eine große Trauer | |
und muss akzeptieren, dass der 22. Juli einen Großteil meines Lebens | |
ausmacht. Ich glaube jedoch, dass ich fast so bin wie vorher, und das ist | |
mein größter Sieg", sagt Pedersen. | |
Er selbst befand sich am 22. Juli auf Utøya und gehört zu den wenigen, die | |
noch in Sicherheit gebracht werden konnten - ein Umstand, den norwegische | |
Medien teils mit Empörung kommentierten. Er berichtet von einer Flugshow | |
aus Anlass des 200. Geburtstages der Universität Oslo. "Ich hörte einen | |
großen Lärm, sah aber zunächst nicht, dass Flugstaffeln ganz tief über der | |
Stadt flogen. Und dann war plötzlich nur noch Angst." | |
Fünf Minuten Fußweg von der AUF-Zentrale entfernt erhebt sich das | |
Regierungsviertel oder vielmehr das, was davon noch übrig ist. Viele | |
Fassaden sind von Rissen überzogen, geborstene Fensterscheiben durch | |
Holzplatten ersetzt. Das Areal ist weiträumig mit Eisengittern abgesperrt, | |
darin stecken vereinzelt Blumen. | |
Die Zukunft des Viertels ist unklar. Während manche für eine | |
Wiederinstandsetzung plädieren, weigern sich viele Regierungsmitarbeiter, | |
an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Wieder andere sprechen sich | |
dafür aus, die Gebäude in ihrem halb zerstörten Zustand zu belassen, als | |
Mahnmal für den 22. Juli. | |
## Ein Buch über die Erfahrungen | |
"Dieser Tag war der schlimmste meines Lebens, obwohl er für mich noch gut | |
endete", sagt Erik Sönstelie, ein mittelgroßer Mann mit grauen Haaren, der | |
langsam und pointiert spricht und durch seine zurückhaltende Art besticht. | |
Der Mitarbeiter eines Verlags war nach den ersten Meldungen über den | |
Anschlag in Oslo gerade auf dem Weg in das Regierungsviertel, als ihn ein | |
Anruf seiner Tochter aus Utøya erreichte. Sie teilte ihm mit, dass auf der | |
Insel geschossen werde. Sönstelie hielt das zuerst für einen schlechten | |
Scherz. | |
Nach einem zweiten Anruf seiner Tochter, sie laufe um ihr Leben und | |
versuche sich durch einen Sprung ins Wasser zu retten, raste er in Richtung | |
Utøya. Geschlagene zwei Stunden wartete er mit rund 60 Müttern und Vätern | |
auf dem Festland, bis er endlich Gewissheit bekam: Seine Tochter Siri Marie | |
hatte das Attentat unverletzt überlebt. | |
Die junge Frau hat inzwischen in Großbritannien ein Studium aufgenommen und | |
versucht, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. "Sie hat regelmäßig | |
Albträume, dass auf sie geschossen wird. Und sie fühlt sich schuldig, weil | |
sie überlebt hat, viele ihrer Freunde jedoch getötet wurden", sagt | |
Sönstelie. | |
Unter dem Titel "Jeg lever pappa. 22. Juli - dagen som foraudret oss ("Ich | |
lebe, Papa. Der 22. Juli, der Tag der alles veränderte") haben er und seine | |
Tochter ihre Erfahrungen und die von 50 weiteren Betroffenen in einem Buch | |
beschrieben. | |
Viele der überlebenden Opfer hätten unmittelbar nach dem Attentat versucht, | |
Stärke zu zeigen. Jetzt, Monate danach, zeige sich, wie tief die Wunden | |
seien, wie allgegenwärtig Albträume und Schuldgefühle. Für Sönstelie ist | |
dieses Projekt eine Art Selbsttherapie gewesen. "Das, was am 22. Juli | |
passiert ist", sagt Sönstelie, "war sinnlos. Jetzt geht es darum, diesem | |
Sinnlosen doch noch einen Sinn zu geben." | |
13 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
Barbara Oertel | |
## TAGS | |
Rechtsextremismus | |
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