# taz.de -- 100 Tage nach dem Massaker von Utöya: Keine Terror-Klage gegen Bre… | |
> Immer wieder neue Ungereimtheiten: Der Attentäter von Norwegen kann nicht | |
> wegen terroristischer Taten angeklagt werden, weil das Gesetz noch gar | |
> nicht in Kraft ist. | |
Bild: Die Thorbjørn stand während des Massakers für die Polizisten nicht zur… | |
STOCKHOLM taz | 100 Tage sind seit den Terroranschlägen in Norwegen | |
vergangen. In diesen 100 Tagen sind beständig neue Einzelheiten über | |
offensichtliche Ermittlungsversäumnisse an den Tag gekommen. Am Dienstag | |
wurde auch noch bekannt, dass der Attentäter Anders Breivik gar nicht | |
aufgrund eines Terrorparagrafen angeklagt werden kann, der eine | |
Höchststrafe von 30 Jahren Haft anstelle der bei Mord üblichen 21 Jahre | |
vorsieht. Das 2009 vom Parlament verabschiedete Antiterrorgesetz konnte | |
bislang noch nicht in Kraft treten, da es an die Einführung eines bislang | |
nicht eingerichteten Computersystems geknüpft ist. | |
Das soll sich zwar nun schleunigst ändern, wird aber im Breivik-Prozess | |
keine Rolle mehr spielen. "Ein Gesetzesverstoß ist nicht begangen, wenn das | |
Gesetz noch nicht gilt", bestätigt Justizstaatssekretärin Astrid | |
Aas-Hansen. Breivik, der nach Auskunft seines Anwalts bei seinen bislang | |
rund 120 Stunden Verhören alle faktischen Handlungen zugegeben hat, sich | |
aber trotzdem für nicht schuldig hält, dürfte daher "nur" Anklage wegen | |
77-fachen Mordes erwarten. | |
Dieser Prozess soll im April 2012 beginnen. Das hierfür notwendige | |
psychiatrische Gutachten über die Schuldfähigkeit des Attentäters soll Ende | |
November vorliegen. | |
Währenddessen mehren sich Fragen nach einer Vermeidbarkeit des Blutbads auf | |
Ütøya. So wurde dieser Tage bekannt, dass ein Sicherheitsbeamter im | |
Regierungsviertel bereits acht Minuten nach der gezündeten Autobombe der | |
Polizei meldete, man habe den mutmaßlichen Attentäter auf Video einfangen | |
können. | |
Eine sofortige öffentliche Fahndung hätte verhindern können, dass Breivik | |
überhaupt bis nach Ütøya hätte gelangen können, ist Opferanwalt Arne Seland | |
überzeugt. Tatsächlich vergingen dreieinhalb Stunden, bis man diese Spur | |
verfolgte. | |
Noch weitaus mehr hätte auf Ütøya anders laufen können. Seit langem schon | |
geisterte "Thorbjørn" durch Blogs und Internetforen. In den vergangenen | |
Tagen fand diese Spur auch den Weg in die traditionellen norwegischen | |
Medien. "Thorbjørn" ist der Name der Fähre, die die Insel Ütøya mit dem | |
Festland verband. | |
## Das Schiff fehlt | |
Doch wo blieb dieses Boot, nachdem es Breivik zur Insel transportiert und | |
an Land gesetzt hatte? Bei den späteren Rettungsversuchen fehlte das | |
Schiff. Da pendelten Urlauber des nahen Campingplatzes unter Einsatz ihres | |
Lebens mit ihren Privatbooten zwischen Festland und Insel. | |
Und der eineinhalb Stunden nach Breivik anrückenden Polizei stand die Fähre | |
auch nicht zur Verfügung. Die versuchte bekanntlich mit einem völlig | |
unterdimensionierten Schlauchboot, nach Utøya überzusetzen. | |
Die "Thorbjørn" legte - laut Polizeiermittlungen - drei Minuten nach Beginn | |
des Massakers von der Insel ab - und "verschwand". An Bord des 50 Personen | |
fassenden Bootes befanden sich neben der dreiköpfigen Besatzung nur der | |
Jungsozialisten-Vorsitzende Eskil Pedersen und fünf weitere Jugendliche. | |
"Thorbjørn" steuerte nicht ans Land, sondern fuhr eine halbe Stunde lang | |
auf dem See Tyrifjorden, bevor der Kapitän sie weit entfernt von Ütøya ans | |
Ufer setzte. Man habe aufgrund der Polizeiuniform des Attentäters den | |
Verdacht eines Staatsstreichs gehabt, erklärte Pedersen später. "Wir | |
wollten nicht Filmhelden spielen", sagt ein weiterer Juso, der sich mit der | |
Fähre rettete. | |
## Die Wahrheit muss raus | |
Das Thema anzusprechen, heiße gleichzeitig, die Menschen auf der | |
"Thorbjørn" zu kritisieren, und das wolle man nicht, sagt ein | |
Jungsozialist, der auf Ütøya überlebte: "Wir waren in dieser Situation alle | |
gezwungen, als Erstes an unsere eigene Sicherheit zu denken." Und Sven Egil | |
Omdal von der Zeitung Stavanger Aftenblad meint: "Manche Fragen braucht man | |
nicht zu stellen. Manche Wahrheiten muss man nicht kennen." | |
"Die Wahrheit muss heraus, auch wenn sie für unsere Organisation unangenehm | |
ist", erklärt dagegen der Ütøya-Überlebende Jorid Holstand gegenüber | |
Aftenposten. Hätte die Fähre vor Ort zur Verfügung gestanden, hätten mehr | |
Menschen gerettet und die Polizei schneller übersetzen können, schreibt ein | |
Rettungsdienstmitarbeiter an die Untersuchungskommission. Die werde sich | |
deshalb nun offiziell mit der Rolle der "Thorbjørn" befassen, erklärte die | |
Kommissionsvorsitzende Alexandra Bech Gjørv. | |
1 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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