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# taz.de -- Rassismus und psychische Gesundheit: Ganzheitliche Dekolonisierung
> Viele Antirassismusangebote helfen bei Konfrontationen von außen. Bei
> Critical Wellness dagegen geht es um körperliche und psychische Folgen.
Bild: Rassismus tötet auf viele Arten
Rassismus tötet. Seit Jahren wird dieser Spruch auf Pappschilder für
antirassistische Demonstrationen geschrieben. Ob in den USA, Europa oder
direkt hier in Deutschland, die Liste derer, deren Namen nie in
Vergessenheit geraten dürfen, wird immer länger. Doch Rassismus tötet nicht
nur dann, wenn in der Berichterstattung davon zu lesen ist.
Und Rassismus tötet nicht nur [1][mit Anschlägen] und Waffengewalt, sondern
auch mit gesellschaftlicher Isolation. Die tägliche Spiegelung, kein
vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, aber auch die ständige
Konfrontation mit Vorurteilen und Klischees haben Auswirkungen auf die
Psyche von BPoC. Doch der Zusammenhang zwischen Rassismus und psychischer
Gesundheit ist in Deutschland bislang kaum untersucht.
Verschiedene Studien aus den USA zeigen: Schwarze Frauen leiden häufiger
unter psychischen Krankheiten wie Essstörungen und Burn-out. Zwar kommen
die Studien teils zu unterschiedlichen Zahlen, doch Schwarze Frauen
erkranken psychisch mindestens dreimal häufiger als weiße Frauen. Die
Konfrontation mit Rassismus fordert Schwarzen, Indigenen und People of
Color enorm viel psychische und körperliche Energie ab. Energie und Zeit,
die für Familie, Schule, Arbeit und gesellschaftliches Engagement fehlen,
schreibt die Psychotherapeutin Amma Yeboah in der an der Universität Köln
2017 [2][veröffentlichten Publikation Rassismuskritik und
Widerstandsformen].
Eine, die sich in Deutschland dieser Problematik widmet, ist die
Personalentwicklerin Mariela Georg. Mit „Cricital Wellness“ möchte sie ein
Konzept etablieren, das eine Mischung aus Macht- und Diskriminierungskritik
und Wellness darstellt. Denn beides sind essenzielle Grundsteine für eine
gesunde psychische Verfassung von Menschen mit Diskriminierungserfahrung.
## Um das eigene Wohlergehen kümmern
Die 34-Jährige arbeitet hauptberuflich in der Antidiskriminierungsarbeit,
zusätzlich hat sie sich zur Mediatorin, Fitnesstrainerin und zum
Stresscoach ausbilden lassen. Ihr geht es vor allem darum, Menschen dabei
zu helfen, das eigene Selbstbild zu stärken und Erlebtes zu verarbeiten.
Denn die vielen Antirassismusangebote konzentrieren sich meist darauf, sich
gegen alltäglichen Rassismus zu wehren und Konfrontationen von außen zu
begegnen, und nicht darauf, sich um das eigene Wohlergehen zu kümmern.
„Critical Wellness ist ein ganzheitlicher und bewusst ergriffener Weg hin
zur Dekolonisierung von Kopf und Körper, um Selbstverwirklichung zu
erreichen. Critical Wellness versucht den Spagat zwischen
gesellschaftlicher Partizipation beziehungsweise Aktivismus und dem
persönlichen Wohlergehen, sodass auch marginalisierte Menschen den sozialen
Wandel mitgestalten, es ist ein Prozess und kein Zustand“, sagt Georg der
taz. Es geht um das kritische Bewusstsein darüber, was Rassismus mit einer
Person psychisch und körperlich und mit der Gemeinschaft und dem
persönlichen Umfeld macht. Die Auswirkungen werden auf den verschiedenen
Ebenen betrachtet, um dann Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
## Wellness stand Schwarzen nie zu
Durch puren Zufall kam sie vor einigen Jahren dazu, sich intensiver mit dem
Thema auseinanderzusetzen. Im Jahr 2017 besuchte sie eine Konferenz zum
Thema Schule und Rassismus: „Auf der Konferenz wurden Workshop-Ideen für
den nächsten Tag vorgeschlagen. Jemand schlug [3][Critical Whiteness] vor,
doch zunächst meldeten sich keine potenziellen Teilnehmer:innen. Ich dachte
mir, echt, was ist denn hier los?! Eine Teilnehmerin fragte: Was für ein
Quatsch ist denn Critical Whiteness? Nach so einer langen Konferenz brauche
ich eher Critical Wellness“, sagt Georg. Erst war sie irritiert, dann ließ
sie die Wortkombination nicht mehr los.
Denn Wellness und Erholung standen Schwarzen Menschen nie zu, Erholung war
stets ein Privileg weißer Menschen. Instagram und Youtube sind voll mit
Anleitungen zu einstündigen Yoga– und Meditationssessions oder mit Rezepten
für grüne Smoothies. Der Hashtag #selfcare umfasst bei Instagram knapp 50
Millionen Beiträge. Yoga, Meditation oder Smoothies, all das können
Auszeiten sein, die Menschen helfen können abzuschalten. Für Menschen, die
im Alltag Stress ausgesetzt sind, ist das sicherlich hilfreich, doch kratzt
es letztendlich nur an der Oberfläche. Denn bei der ständigen Konfrontation
mit Diskriminierung hilft ein bisschen Yoga nur bedingt. Stattdessen
brauchen Betroffene Unterstützung bei der Bewältigung ihrer seelischen
Verletzungen.
## Rassismus lässt altern
Auch in der Medizin wird der Critical-Wellness-Ansatz unterstützt. Mehrere
Studien belegen, dass Personen mit Migrationshintergrund besonders vielen
psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind, welche das Risiko für
psychische Erkrankungen erhöhen. Dazu gehören beispielsweise Armut im
Wohnumfeld, Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnsituation, Diskriminierung und
Rassismus. Belastungsfaktoren, welche für viele Migrant:innen
alltägliche Realität darstellen. Medizinische Studien weisen sogar darauf
hin, dass Menschen, die Rassismus erfahren, schneller altern, weil sich
ihre Zellen verändern.
Elizabeth Blackburn bekam 2009 den Nobelpreis für Medizin für die
Entdeckung eines „Unsterblichkeitsenzyms“. Die Forscherin entdeckte mit
zwei weiteren Kollegen, wie die Erbgutträger (Chromosomen) einer jeden
Zelle durch bestimmte Enzyme (Telomerasen) vor Beschädigung geschützt
werden. Sie spielen auch eine Rolle beim Alterungsprozess. Blackburn fand
auch das Enzym Telomerase, das die Schutzhelme der Chromosomen herstellt.
Telomerase kann die Endstücke sogar wieder verlängern.
## Entspannung baut Stress ab
Schon in der frühen Kindheit beeinflussen Erfahrungen wie soziale
Vernachlässigung, Gewalt und Rassismus die Telomere, die Endstücke der
Chromosomen, und zwar langfristig. Freundschaften, Beziehungen oder
Wohngegenden mit großem sozialem Zusammenhalt wirken sich positiv auf die
Telomere aus. Jegliche Art von intensiver Entspannung, wie beispielsweise
Meditation, baut nachweislich Stress ab, und die Konzentration des Enzyms
Telomerase, das die Telomere regeneriert, erhöht sich.
Dieses Wissen setzt Mariela Georg in der Praxis um. Sie gründete 2019 die
Empower-Mental-Schule, während Corona finden ihre Angebote vor allem
digital statt. Sie bietet Workshops zur Bewältigung von Rassismus- und
Sexismuserfahrungen an. Dabei geht es vorrangig darum, den körperlichen,
seelischen und psychischen Spuren von Rassismus nachzugehen. Es gibt
Gruppen- und Einzelgespräche, Workshops, die sich auf Stressprävention
konzentrieren, und Self-Care-Workshops. Dabei geht es vor allem darum, mit
den Teilnehmenden einen personalisierten Self-Care-Plan zu erstellen, damit
sie diesen dann auch nach den Workshops umsetzen können.
## „Was macht Rassismus mit mir?“
„Wenn es um Empowerment geht, sind wir sehr schnell dabei, die Frage nach
dem eigenen Verhalten, der eigenen Reaktion auf Rassismus oder dem Umgang
mit der rassistischen Situation zu beantworten. Zu selten stellen wir die
Frage: ‚Was macht der Rassismus denn eigentlich mit mir?‘, sagt Mariela
Georg.
Ihre Workshops sind eine Kombination aus Sporteinheiten,
Erfahrungsaustausch und Bewältigungsstrategien. Und diese können noch so
einfach erscheinen. Wie ein einfaches Antrainieren von tiefem Ein- und
Ausatmen, nachdem eine Situation oder ein Kommentar verletzend war, bevor
man eine passende Antwort gibt. Das Atmen kann dabei helfen, wieder bewusst
die Kontrolle in einer Situation zu gewinnen. Oft ist auch das schon ein
erster heilsamer Prozess, denn es nimmt der Situation die Hilflosigkeit.
Der Grundsatz von Critical Wellness ist dabei, die Balance zwischen Self
Care und Community Care (wieder-)herzustellen. „Wenn ich mich mit
internalisierten Unterdrückungsformen auseinandersetze, geht es mir besser
und somit auch der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft sich kritisch mit
Diskriminierung auseinandersetzt, geht es mir ebenfalls besser. Doch die
Veränderung sollte bei jeder einzelnen Person beginnen. Wellness ist in
diesem Kontext ein gleichermaßen schmerzvoller wie notwendiger Prozess“,
sagt Georg.
Dabei geht es um einfache Momente der bewussten, regelmäßigen Entspannung
wie Sport, eine Gurkengesichtsmaske oder ein Buch lesen. Der Fokus liegt
auf einer bewussten Reflexion der eigenen Glaubenssätze und von
internalisiertem Rassismus. Und vermutlich liegt dort auch der Kern im
Ansatz von Critical Wellness, den Georg mit einer simplen Frage ausdrückt:
„Wenn morgen die Welt von jeglicher Art und Weise von Rassismus befreit
wäre, wäre dann alles gut?“ Für jemanden mit Rassismuserfahrung kann ich
die Frage klar beantworten: Nein. Denn die Erinnerung, der Schmerz bleibt.
„Ganz genau“, sagt Mariela und fügt hinzu: „Denn dann wäre die Zeit, um…
verarbeiten.“
26 Jul 2021
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-nach-Anschlag-in-Hanau/!5747116
[2] https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-14721-1
[3] /Debatte-Critical-Whiteness/!5066842
## AUTOREN
Malaika Rivuzumwami
## TAGS
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