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# taz.de -- Rassismuskritische Psychotherapie: Rassismus macht krank
> Zu oft werden Diskriminierungserfahrungen vernachlässigt.
> Therapeut:innen müssen sich fragen: Durch welche Brille schaue ich
> denn selbst?
Bild: Freie Plätze gibt es in der Therapie zu selten – besonders in der rass…
Eine besondere Form der Demenz kursiert in der [1][Psychotherapie]: die
Gesellschaftsvergessenheit. Strukturelle Faktoren wie Armut oder
Diskriminierungserfahrungen zu vernachlässigen ist quasi eine
Berufskrankheit. „Da wir so gut darin ausgebildet sind, das Individuum
wahrzunehmen, glauben wir, den ganzen strukturellen Diskriminierungskontext
weglassen zu können – und das ist natürlich fatal“, sagt Dr. Birsen
Kahraman. Sie ist selbst Therapeutin in München und bietet als Dozentin
Fortbildungen in rassismus- und kultursensibler Psychotherapie für ihre
Kolleg:innen an. Damit möchte sie ihrer eigenen Zunft die Gesellschaft
näherbringen.
Die sieht unter anderem so aus: Mehr als jeder Fünfte in Deutschland wurde
schon einmal rassistisch behandelt, heißt es im Nationalen
Diskriminierungs- & Rassismusmonitor NaDiRa. Und Rassismus macht krank:
Menschen mit Diskriminierungserfahrungen leiden häufiger an Depressionen,
Schizophrenie und Schlafstörungen. In Deutschland mangelt es dazu an
Forschung, die meisten Studien stammen aus den Vereinigten Staaten oder aus
Großbritannien.
Häufig gibt es keinen konkreten Auslöser, keinen einzelnen Übergriff, der
eine Krankheit verursacht. [2][Es ist die ständige Konfrontation mit
alltagsrassistischen Bemerkungen und Handlungen], die an den Betroffenen
nagt – und dass sie dauernd davor auf der Hut sein müssen. Dieser
kontinuierliche Stress kann traumatisieren. Ursachen und Symptome
unterscheiden sich jedoch teilweise von der etablierten Diagnose
„Posttraumatische Belastungsstörung“. Fachleute verwenden deshalb den
Begriff „Racial Trauma“.
## Kontrollmechanismus im Kopf
Bis ins Therapiezimmer schafft es dieses Wissen selten. „Ich finde es aber
wichtig, nicht einzelnen Therapeut:innen Vorwürfe zu machen“, sagt
Kiana Ghaffarizad, Kulturwissenschaftlerin und Lehrerin für therapeutischen
Tanz. Das Problem sei kein individuelles, sondern ein strukturelles. Denn
eine rassismussensible Haltung zu entwickeln sei kein Teil der
therapeutischen Ausbildung.
Ghaffarizad beschäftigt sich an der Pädagogischen Hochschule Freiburg mit
den Konsequenzen. Das Thema ihrer Promotion: Die „(De-)Thematisierung von
Rassismus“ in der Psychotherapie. „Alle Betroffenen, mit denen ich
gesprochen habe, bereiten sich vor einer Sitzung mental darauf vor, dass
ihnen ihre Erfahrung in der Therapie abgesprochen werden könnte“, sagt sie.
Für die Klient:innen entstehe daraus eine Doppelbelastung, weil im Kopf
immer ein Kontrollmechanismus mitlaufe: „Sage ich das jetzt oder nicht?“
„Ich konnte es nie einfach mal fließen lassen“ – so drückte es eine der
Personen aus, die Ghaffarizad für ihre Doktorarbeit interviewte.
Was können Therapeut:innen dagegen tun? Am Anfang muss eine
Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation stehen, findet die
Psychologin Kahraman. „Viele glauben, es sei wichtig, die Kultur des
Klienten zu reflektieren. Doch als Therapeut:in muss man vor allem die
eigene kulturelle Prägung kennen und wissen, durch welche Brille man selbst
schaut.“ Dazu gehöre sich zu fragen, wo man sich selbst unbewusste
rassistische Denkmuster angeeignet hat. Denn das Unwissen darüber sei
häufig der Auslöser für die Relativierung diskriminierenden Verhaltens. Die
eigene soziale Stellung und Privilegien zu hinterfragen: Auch das lerne man
in der bisherigen Ausbildung kaum.
## 15 Anfragen pro Woche
Therapeut:innen sollten ihren Klient:innen auch erklären können, was
Rassismus mit der Psyche macht. „Natürlich spüren Betroffene die Belastung,
emotional und körperlich“, erklärt Kahraman. „Aber keiner sagt ihnen:
‚Rassismus macht ja auch krank‘ oder ‚Das ist ja wirklich auch enorm, was
du da die ganze Zeit schlucken musst‘.“ Bis sich das ändert, werden die
Wartezeiten wohl lang bleiben in den wenigen Praxen, die explizit einen
rassismuskritischen Ansatz verfolgen. In München bei Birsen Kahraman sind
das aktuell mehrere Monate, die meisten Patient:innen könne sie aber
gar nicht aufnehmen, bei oft mehr als 15 Anfragen pro Woche.
Doch es tut sich was: Mit der 2019 beschlossenen Ausbildungsreform wurde
zum ersten Mal festgeschrieben, dass Therapeut:innen die „menschliche
Diversität in der Psychotherapie in Bezug auf Gender, Ethnie
beziehungsweise Kultur, sexuelle Orientierung, Beeinträchtigung und andere
Aspekte“ berücksichtigen können müssen.
Das geschieht nicht zuletzt auf Druck zahlreicher Studierendeninitiativen,
die eigenständig Veranstaltungsreihen durchführen. Die
Psychologiefachschaft der Universität Bremen organisierte letztes Jahr etwa
mehrere Vorträge zur „intersektionalen Psychologie“.
Denn auch Diskriminierungsformen wie Homo- und Transfeindlichkeit werden in
der Therapie zu selten berücksichtigt. Wie groß das Interesse an einer
rassismuskritischen Psychotherapie inzwischen ist, zeigte sich im Januar
auf einer von Birsen Kahramans Fortbildung: Über 400 auszubildende und
praktizierende Psychotherapeuten erschienen zu dem Onlineseminar.
## Wissen aus den 90ern
All das passiert nicht einfach so, nicht aus heiterem Himmel. „Es ist
wichtig, auch zu würdigen, wie viel an jahrzehntelanger Arbeit von
Schwarzen, Migrantischen, Jüdischen und Therapeutinnen of Color, von
Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen da reingeflossen ist“, sagt die
Doktorandin Ghaffarizad. „Auf dieses Wissen kann die jüngere Generation
jetzt zurückgreifen.“
Die afrodeutsche Dichterin und Erziehungswissenschaftlerin May Ayim war so
eine Vorreiterin. Schon Anfang der 1990er Jahre begann sie eine Promotion
zum Thema „Ethnozentrismus und Rassismus in Therapiebereichen“. Zur
Fertigstellung kam es nicht; am 9. August 1996 suizidierte Ayim.
Die noch vor ihrem Tod veröffentlichten Texte sind heute eine wichtige
Bezugsquelle für die Doktorarbeit von Kiana Ghaffarizad: „Es tun sich so
viele Parallelen auf, zwischen dem, was sie vor 30 Jahren schrieb, und dem,
was meine Gesprächspartner:innen mir in den letzten zwei Jahren
erzählten.“
Denn auch wenn die Gesellschaftsvergessenheit einem Bewusstsein für
marginalisierte Gruppen weicht, auch wenn das Therapiezimmer zu einem
sicheren Ort für Betroffene von Diskriminierung wird – vor der Tür wartet
die rassistische Realität. Eine ihrer Interviewpartnerinnen formulierte das
so: „Dann habe ich eben Therapie, aber wenn ich raus in diese scheiß
Gesellschaft gehe, werde ich wieder retraumatisiert. Was soll ich machen?
Ich will nicht ewig in Therapie sein!“
21 Apr 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Anton Benz
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