| # taz.de -- Kunst auf Rezept: Impressionismus gegen Depressionen | |
| > Beim „Social Prescribing“ können Ärzt*innen ihren Patient*innen | |
| > Kulturangebote vermitteln. Gut. Aber wäre ein einfacherer Zugang zu | |
| > Kultur nicht wirksamer? | |
| Bild: In Sehnsucht verweilen, den Gedanken nachhängen, die Seele baumeln lasse… | |
| Einsamkeit erhöht das Risiko zu sterben genauso wie täglich 15 Zigaretten | |
| zu rauchen. Sie prägt das menschliche Gehirn so, dass man sie sogar auf | |
| Scans sehen kann. Sie führt zu Bluthochdruck, zu Depressionen und | |
| Angststörungen. | |
| Das wirkt sich auch auf das Gesundheitssystem aus: Einsame gehen öfter zum | |
| Arzt, sind mehr krank, brauchen häufiger psychologische oder | |
| psychotherapeutische Behandlung. Das ist teuer. Und in einem System, in dem | |
| Ärzt*innen über Überlastung klagen und Patient*innen oft monatelang | |
| auf einen Termin warten müssen, ist das ein echtes Problem. | |
| Helfen könnte ein Konzept, das schon in Großbritannien und Kanada | |
| erfolgreich erprobt ist. Dort verschreiben Ärzt*innen ihren | |
| Patient*innen, die unter Einsamkeit und psychischen Erkrankungen | |
| leiden, immer öfter auch Museumsbesuche – zusätzlich zu klassischen | |
| Maßnahmen wie Medikamenten oder Psychotherapien. | |
| ## Bald auch in Deutschland | |
| Impressionismus gegen Depressionen, Rokoko gegen Angststörungen, | |
| Barockgemälde gegen Einsamkeit? Klingt vielleicht erst mal absurd, aber die | |
| Studienlage zeigt, dass Kunst heilsam sein kann. Die Auseinandersetzung mit | |
| ihr verbessert Depressionen, hilft bei Angststörungen, kann bei Alzheimer | |
| und anderen degenerativen Erkrankungen sogar den kognitiven Verfall | |
| verlangsamen. Am besten wirkt sie, wenn Patient*innen in einer Gruppe | |
| ins Museum gehen und wenn sie anschließend auch selbst kreativ werden | |
| können. | |
| Auch die Weltgesundheitsorganisation beschäftigt sich seit 2019 mit der | |
| Wirkung von Kunst und Kultur. Sie können helfen, schwierige Gefühle zu | |
| bewältigen, Empathie zu empfinden für das, was andere spüren, und darin | |
| Ausdruck für das eigene Leid zu finden, schwere Krankheiten zu verarbeiten | |
| und den Genesungsprozess zu fördern. | |
| Und mit ein bisschen Glück und der richtigen Ärzt*in könnten | |
| Patient*innen auch in Deutschland vom „Social Prescribing“, | |
| profitieren: An der Berliner Charité startet in diesem Jahr ein Projekt, in | |
| dem das sogenannte [1][Soziale Rezept] vorangebracht werden soll. 150 | |
| medizinische Versorger in ganz Europa sind Teil eines Netzwerks, die | |
| Europäische Kommission unterstützt das Projekt mit fast 7 Millionen Euro. | |
| Kunst auf Rezept ist es nicht ganz, aber Ärzt*innen können ihre | |
| Patient*innen an Link Worker überweisen, die sie wiederum je nach | |
| Bedürfnis zu weiteren Angeboten vermitteln: Tanz- oder Kochkurse, | |
| Töpferstunden, Strickrunden, eine Museumsgruppe. Insbesondere ältere, | |
| allein lebende Menschen, LGBTIQ-Personen sowie Geflüchtete und | |
| Migrant*innen sollen im Fokus stehen. | |
| ## Kultur ist kein Nice-to-have | |
| Ein vielversprechender Ansatz. Damit Patient*innen von Kunst, Kultur | |
| und Gemeinsamkeit profitieren können, muss es sie allerdings geben. Anstatt | |
| dass soziale und kulturelle Angebote finanziert werden, werden die Mittel | |
| gerade an allen Stellen gekürzt. Große Aufmerksamkeit gab es für die | |
| drastischen Kulturkürzungen im Berliner Sparhaushalt unter dem regierenden | |
| Bürgermeister Kai Wegner, aber die Hauptstadt ist mit solchen Maßnahmen | |
| nicht allein. Auch im Bundeskulturhaushalt wurde zuletzt gekürzt, bei den | |
| Posten, die sonst der freien Szene zugutekämen. | |
| Der Zugang zu Kultur ist zudem ungerecht verteilt. Museen, Theater, Opern, | |
| Konzerthäusern sind in den großen Städten, na klar. Auf dem Land muss man | |
| lange suchen, bis man sein Soziales Rezept einlösen kann. Aber das größte | |
| Gefälle kommt nicht durch die Stadt-Land-Unterschiede, sondern durch Armut. | |
| Menschen, die ohnehin schlechtere Chancen haben, wenn sie krank werden, | |
| deren Lebenserwartung sowieso schon geringer ist, können sich den Museums-, | |
| Theater- oder Konzertbesuch seltener leisten. | |
| Auch wenn dieses Soziale Rezept die Barrieren senken kann, ändert das noch | |
| nicht, dass ärmere Personen im Alltag durch Care-Arbeit und mehrere Jobs | |
| schlichtweg keine Zeit dafür haben. Niedrigere Eintrittspreise und mehr | |
| kulturelle Angebote könnten eine regelmäßige Teilhabe ermöglichen und so | |
| verhindern, dass [2][Einsamkeit] oder Depressionen überhaupt entstehen. | |
| Im Vergleich zu dem, was das Gesundheitssystem kostet, sind die Ausgaben | |
| für Kunst und Kultur fast lächerlich gering. Kultur ist kein Nice-to-have, | |
| sondern lebensnotwendig. Und man sollte nicht erst krank werden müssen, um | |
| dazu Zugang zu bekommen. | |
| [Anm. d. Red.: In einer vorangehenden Version des Textes hieß es, mit dem | |
| Sozialen Rezept könnten Ärzt*innen kulturelle Angebote wie Museumsbesuche | |
| direkt verschreiben. Das ist nicht richtig. Stattdessen werden [3][im | |
| Projekt an der Charité verschiedene Angebote über sogenannte Link Worker | |
| vermittelt].] | |
| 1 Apr 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/wenn_antistr… | |
| [2] /Weihnachten-und-Einsamkeit/!6054290 | |
| [3] https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/wenn_antistr… | |
| ## AUTOREN | |
| Luisa Faust | |
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