| # taz.de -- NS-Gedenken in Hamburg: Kirchenbild tiefergelegt | |
| > Nach über 80 Jahren wurde das deutschlandweit größte bekannte | |
| > Nazi-„Kunstwerk“ umgedreht. Es steht nun auf der Rückseite einer | |
| > Hamburger Kirche. | |
| Bild: Herausgeschnitten, gewendet: die Rückwand der Hamburger St.-Nicolaus-Kir… | |
| Da hängt er, der Gekreuzigte, mitten in einer Grube, mit güldenem | |
| Heiligenschein und bei Sonne hell beleuchtet. Seine Gesichtszüge sind | |
| markig und kantig, die Arme muskulös: Dieser Jesus ist kein Geschundener, | |
| sondern ein Siegertyp, ganz gemäß dem [1][NS-Ideal]. Die Grube befindet | |
| sich auf dem Gelände von Hamburgs Evangelischer Stiftung Alsterdorf, wo | |
| Menschen mit und ohne Behinderung leben und arbeiten, den einstigen | |
| Alsterdorfer Anstalten. In der NS-Zeit wurden 511 der BewohnerInnen | |
| deportiert und im Zuge der [2][Euthanasie-Aktion „T4“] ermordet. | |
| In besagter Grube steht seit Kurzem ein besonderes, am 9. Mai eröffnendes | |
| Mahnmal: die komplette Altarrückwand der benachbarten | |
| St.-Nicolaus-Backsteinkirche von 1889 mit besagter Kreuzigungsszene. Und | |
| wenn man an die Reling der Grube tritt, sieht man noch mehr davon: Zwölf | |
| „heilige“ Personen, darunter Martin Luther, Gottesmutter Maria, Johannes | |
| den Täufer, Anstaltsgründer Heinrich Matthias Sengelmann sowie Pastor | |
| Friedrich Lensch, den Schöpfer des Bildes, unterm Kreuz kniend. | |
| Alle zwölf – eine heilige christliche Zahl – ziert ein Heiligenschein. Dazu | |
| kommen aber drei weitere Figuren: ein behindertes Baby, der erste | |
| „Anstaltsbewohner“ Carl Koops und eine Krankenschwester, die einen | |
| behinderten Erwachsenen hält. Diese drei haben keinen Heiligenschein und | |
| damit, so der Subtext, keinen Zugang zum Himmel, sind Menschen zweiter | |
| Klasse und vielleicht gar nicht „Gottes Kinder“. | |
| ## Unbemerkter Skandal | |
| Damit spiegelt das Bild sehr klar die Ideologie des NS-affinen Pastors und | |
| Hobbymalers Lensch, der die Botschaft 1938 nicht bloß aufmalte, sondern in | |
| den Beton fräste, quasi für die Ewigkeit. Fast hätte es geklappt: Lange | |
| blieb der Skandal unbemerkt. Erst in den 1980ern fiel Michael Wunder, | |
| Leiter des Beratungszentrums Alsterdorf und seit Jahren mit der | |
| „Euthanasie“-Aufarbeitung befasst, das Bild auf. Er schrieb ein Buch | |
| darüber und sann auf substanzielle Veränderung. Denn bis dato hatte es bloß | |
| temporäre künstlerische Interventionen gegeben, bei denen Vorhänge oder | |
| Installationen das Bild verdeckten. | |
| ## Ab in die Grube | |
| Aber es hat nicht gereicht. „Je mehr der Gemeinde das Diffamierende des | |
| Bildes deutlich wurde, desto weniger war sie bereit, davor Gottesdienst zu | |
| feiern“, sagt er. „Es entspricht in keiner Weise unserer Vorstellung von | |
| Inklusion.“ Weil man das deutschlandweit größte bekannte erhaltene | |
| NS-Kunstwerk aber nicht zerstören wollte, entschied man sich – finanziert | |
| von Bund und Land –, zu einem drastischen Schritt: Man schnitt die ganze | |
| Kirchenrückwand heraus, wendete sie und setzte sie hinter der Kirche in | |
| jene Grube. | |
| Da kann man es jetzt vom Grubenrand betrachten, sowohl physisch als auch | |
| ideologisch tiefergelegt. Am Geländer sind Erklärungen zu Inhalt, | |
| Geschichte und Aufarbeitung des Bildes angebracht. Bilder und Viten der | |
| Opfer sowie der Alsterdorfer Haupttäter finden sich in Vitrinen auf dem | |
| Plateau. Die benachbarte inklusive Bugenhagen-Schule hat Fotos einer | |
| Auschwitz-Fahrt beigesteuert. Überhaupt ist es ein – natürlich | |
| barrierefreier – kongruenter Ort geworden auf dem hoch gelegenen Gelände, | |
| das 1850 [3][bewusst außerhalb der Stadt] angelegt wurde. Heute ist der | |
| Gedenkort Teil der „Straße der Inklusion“, zu der auch die Kirche sowie in | |
| einem kleinen Backsteinhaus gegenüber das damals erste Gebäude der | |
| Einrichtung gehören. | |
| Auch die Kirche hat durch den Umbau gewonnen: An die Stelle der düsteren | |
| Betonwand ist mit lichtem Vlies bedecktes Glas getreten, durch das man die | |
| Rückseite des Altarbildes sieht. Auch dort wird man die Namen der Opfer | |
| eingravieren. „Wir wollen den Menschen mit Behinderung ihre Würde | |
| wiedergeben“, sagt Wunder. „Dass ein solches Bild hier entstehen konnte und | |
| so lange in der Kirche war, bleibt schambesetzt. Die Erinnerung wird ein | |
| Stachel im Fleisch bleiben.“ | |
| 9 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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