# taz.de -- Rassistische Forschung in Kiel: Die Tradition der Schädel-Messer | |
> Auch nach der Nazizeit wirkten NSDAPler am Kieler Institut für | |
> Anthropologie als Professoren. Ihr Denken war verwurzelt in der | |
> Rassen-Ideologie. | |
Bild: Im 18. Jahrhundert etablierte Johann Blumenbach die Praxis, Schädelforme… | |
BREMEN taz | Weggebombt hatten alliierte Fliegerverbände die zweifelhafte | |
Einrichtung im August 1944. Aber aufgehört zu sein, hat das einstige | |
Anthropologische Institut der Universität Kiel erst viel später. Gleich | |
nach dem Krieg hatte sich, gegen den erklärten Willen der medizinischen | |
Fakultät, der bisherige Direktor Hans Weinert mit Lügen, irreführenden | |
Unterlassungen und juristischen Mitteln den Lehrstuhl und den Weiterbetrieb | |
bis 1955 gesichert. | |
Und offenbar hielten auch danach noch immer genügend Leute das, was dort | |
getrieben wurde, für Wissenschaft: Sein 1968 gestorbener Nachfolger Johann | |
Schaeuble war zuvor SA-Dozent für Rassenlehre gewesen. Dessen Erbe trat | |
dann sein berühmtester Schüler an, Hans Wilhelm Jürgen Weise. | |
Der erste Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hatte 1960 | |
bei Schaeuble mit einer Arbeit über „Asozialität als biologisches und | |
sozialbiologisches Problem“ habilitiert, die auch 1940 gut angekommen wäre. | |
Unter seiner Ägide diffundierte das Institut dann in den 1990ern in einen | |
archäologischen Zweig und einen, der sich Industrie-Anthropologie nennt. | |
Die überlieferten Archivalien und Dokumente aus der Frühzeit sind so | |
dürftig, als hätte hier jemand sehr gründlich geputzt. Das erschwert zu | |
sagen, wo die vermeintlichen Forschungsergebnisse dieses 1924 von Otto | |
Aichel gegründeten Instituts eingesickert sind. | |
## Ein Keller für die Leichen | |
In einem klotzigen Klinkerbau der 1870er hatte es 1929 eine feste Bleibe | |
bekommen. Zuvor war es quasi in Untermiete bei der Anatomie einquartiert | |
gewesen. [1][Neben ein paar Kellergelassen für die Zentralheizung und die | |
Leichen] hatte man nun im zweiten Stock unter anderem zwei Labors, eine | |
Dunkelkammer sowie das Röntgenzimmer zur Verfügung. | |
In der Beletage aber waren die Institutsleitung, der Hörsaal und, als | |
Prunkstück, die 16 großen Sammlungsschränke mit Rasseschädeln | |
untergebracht. Die hatte der in Chile als Kind deutscher Diplomaten | |
geborene, in Celle aufgewachsene Gründungsdirektor teilweise selbst in | |
Südamerika, na, sagen wir mal, erworben. „Die Einrichtung ist nach jeder | |
Richtung hin recht vollständig“, teilte er in einem Aufsatz stolz der | |
Fachwelt mit. | |
Das Interesse an diesem Standort war groß. Denn Anthropologie war nicht nur | |
für Aichel identisch mit „Rassenbiologie“, wie er 1929 bekannte. | |
Befremdlicherweise [2][beteuert Medizinhistoriker Karl-Werner Ratschko noch | |
2013], der Kieler Professor habe auch „ernstzunehmende anthropologische | |
Forschung“ durchgeführt. | |
Dabei hatte Aichel als Auftrag seiner Disziplin ausdrücklich die Suche nach | |
„Klarheit über die rassenmäßige Zusammensetzung des Volkes, über den | |
Einfluß von Auslese und Siebung, über Beziehung von Rasse und Befähigung“ | |
[3][bestimmt]. Ihr „Endziel“ sei, „den Weg zur Erhaltung des wertvollen | |
Erbgutes“ zu finden. Also „Eugenik, die gemeinhin als Rassenhygiene | |
bezeichnet wird“, hieß es in der Rede zur Institutseröffnung. Im Jahr 1932 | |
[4][konkretisiert Aichel, was das heißt]: „Schädlinge“ seien ohne Rücksi… | |
„an der Fortpflanzung zu hindern“, schreibt er im Aufsatz „Die | |
Rassenforschung“. | |
An der Arbeit des Instituts lässt sich exemplarisch zeigen, wie man etwas | |
erforscht, das es nicht gibt: Man versachlicht den Gegenstand zu | |
„anthropologischem Material“ und erhebt an diesem sinnlos, aber planvoll | |
Daten, bis es in der Ausdeutung dieser Realitätssplitter in die Welt tritt | |
– als Wissen. In diesem Fall wurden vor allem Schädel vermessen und | |
verglichen. | |
Außerdem, aber das war dann eher eine Spezialität von Weinert, musste an | |
anthropologischem Lebendmaterial (weiblich) [5][durch Befühlen der Brüste] | |
die Zugehörigkeit zur semitischen Rasse ausgeschlossen werden, eine im | |
Erfolgsfall kostenpflichtige Untersuchung. Dieses Geschäftsmodell ließ | |
Weinert im Zusammenspiel [6][mit Hans Calmeyer] zum Judenretter avancieren. | |
Die Arbeit in Kiel hatte einen regionalen Schwerpunkt. Man suchte hier das, | |
was Profi-Rassisten als nordischen Typus bezeichneten: Aichel brauchte | |
Befunde für sein Hauptwerk, „Der deutsche Mensch“, das pünktlich 1933 | |
erschien, sodass die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie ihn prompt zu | |
ihrem Führer machte. Die nötigen Messungen führten seine Assistenten durch. | |
## Engagement für Zwangssterilisierungen | |
Sie schwärmten also Ende der 1920er aus, [7][gingen auf Helgoland, in | |
Schwansen, Eiderstedt, Dithmarschen und an der Schlei von Hof zu Hof,] | |
knipsten die Dörflmenschen frontal und im Profil, bestimmten deren | |
Schulterbreite, Arm- und Beinlänge sowie den Jugomandibular-, den | |
transversalen Nasofacial-, aber auch den Kefalofacialindex. Und noch viel | |
mehr. | |
Um die Abweichung der Resultate von den geplanten Kopfform-Vorgaben zu | |
heilen, erfand man einen neuen Unter-Typus, den nordisch-fälischen, der | |
sich durch ein „abgesunkenes Hinterhaupt“ auszeichne und selbstredend auch | |
nordisch war. Also arisch. | |
Glück für die Landbevölkerung. Denn bis zu seinem Tode 1935 engagierte sich | |
Aichel am Kieler Erbgesundheitsobergericht für Zwangssterilisierungen. Auch | |
sein Nachfolger Hans Weinert propagierte diese, zumal wenn es um Schwarze | |
Menschen ging. | |
Er starb 1967 in Heidelberg, zwölf Jahre nach seiner Emeritierung. Noch | |
2012 hatte der Paderborner Salzwasser-Verlag sein 1944 gedrucktes Werk „Der | |
Ursprung der Menschheit“ erneut herausgebracht. Die Nationalbibliothek hat | |
[8][es in der Sachgruppe 570 einsortiert], Biowissenschaften, Biologie. | |
21 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.jstor.org/stable/29535505?searchText=%22Otto+Aichel%22+Kiel&… | |
[2] https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-50941-7 | |
[3] https://www.jstor.org/stable/29535506?searchText=%22Otto%2BAichel%22%2BKiel… | |
[4] https://books.google.de/books?id=hwqICbdJUZcC&printsec=frontcover&h… | |
[5] https://macau.uni-kiel.de/receive/macau_mods_00000778?lang=de | |
[6] /Hans-Georg-Calmeyer/!5607579 | |
[7] https://www.beirat-fuer-geschichte.de/zeitschriftenarchiv.html?&no_cach… | |
[8] https://d-nb.info/1024863190 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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