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# taz.de -- Adorno-Vorlesungen: Theologisierung von Rassismus
> Um „Eugenische Phantasmen. Behinderung, Macht, Moral“ ging es diesmal an
> der Universität Frankfurt. Referiert hat Historikerin Dagmar Herzog.
Bild: Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein: Mahntafel für die 13720 „Euthanasie�…
Die diesjährigen Adorno-Vorlesungen hielt vom 23. bis 25. Juni die in New
York lehrende [1][Historikerin Dagmar Herzog.] Sie referierte über
„Eugenische Phantasmen. Behinderung, Macht, Moral“ – ein Thema, das in der
deutschen Erinnerungskultur eine geringe Rolle spielt und in der
Wissenschaft fast nur von Außenseitern und Quereinsteigern behandelt wurde.
Wichtig waren dabei die Arbeiten des Frankfurter Theologen und Journalisten
Ernst Klee (1942–2005), der 1983 unter dem Titel „Euthanasie im NS-Staat.
Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ das Standardwerk zur mörderischen
Praxis der Nationalsozialisten und ihrer Komplizen unter Ärzten,
Psychiatern und Juristen vorlegte. Der Dammbruch erfolgte 1920, lange vor
Hitlers Herrschaft.
Damals veröffentlichten der [2][Leipziger Juraprofessor und
Reichsgerichtspräsident Karl Binding] und der [3][Freiburger
Nervenklinikdirektor Alfred Hoche] eine 62 Seiten starke Broschüre mit dem
Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre
Form“.
Die Schrift lieferte die Argumente in der Debatte über unheilbar Kranke und
geistig Behinderte, in der Diktion der beiden Autoren „Blödsinnige“, die
von einer Kommission aus zwei Ärzten und einem Juristen zur Tötung
freigegeben werden konnten. Das Kriterium der Arbeitsfähigkeit, d. h.
„Brauchbarenauslese“, spielte im mörderischen, pimär ökonomisch, aber mit
dem Begriff „Volksgesundheit“ auch rassistisch unterlegten Kalkül, dem rund
300.000 Menschen zum Opfer fielen, eine Schlüsselrolle.
## Der Staat darf töten
Weil Binding die christliche Religion wegen ihrer Ablehnung des
assistierten Suizids scharf angegriffen hatte, fühlten sich Theologen zu
Antworten herausgefordert. Im Bemühen, Gegenargumente gegen Hoche und
Binding zu finden, landeten die Kirchenmänner beim Opportunismus gegenüber
den mörderischen Thesen, die ein Heidelberger Theologieprofessor in den
Satz fasste: „Christen dürfen nicht töten, ein Staat aber schon.“
So wurde lange vor 1933 ein Paradigmenwechsel eingeleitet, aus dem sich die
„abgrundtiefe Hilflosigkeit“ (D. Herzog) der Pfarrer und Anstaltsdirektoren
bei der späteren Umsetzung des NS-Mordprogramms erklärt.
Im Protestantismus gedieh so eine anpassungswillige „Theo-Biopolitik“, die
die Tötung Behinderter zwar ablehnte, aber im Namen eines „sexuellen
Konservatismus“ oder aus rassistischem Wahn von „Erb- und Volksgesundheit“
für die Zwangssterilisierung Behinderter plädierte. Selbst die angesehene
Bodelschwingh’sche Anstalt Bethel reihte sich mit einem „Sterilisationstag�…
ein ins verbrecherische Tun.
Die „Theologisierung von Rassenlehre und Eugenik“ wurde zum Bestandteil des
deutsch-protestantischen Christentums, das Eugenik mit Euthanasie
verknüpfte. Nachwirkungen davon sind auch nach 1945 zu registrieren. So
rechtfertigten Juristen den Mord an Kranken noch 1952 als „Volkshilfe, um
das Volk zu veredeln“.
## Behindertenpolitik in der DDR
[4][Fritz Bauer] scheiterte in Hessen mit dem Vorhaben, die
Verantwortlichen für die 70.000 Opfer der mörderischen T4-Aktion vor
Gericht zu bringen. 1980 lebten noch rund 88.000 Zwangssterilisierte, denen
man Entschädigung und Anerkennung des erlittenen Unrechts verweigerte. Erst
1988 wurden die Urteile als NS-Unrecht anerkannt.
Die Behindertenpolitik in der DDR hatte zwar mit katastrophalen Missständen
als Folge der Mangelwirtschaft zu kämpfen. An drei Beispielen demonstrierte
Herzog jedoch, wie das kompromisslose Engagement Einzelner für Behinderte
etwa mit dem Konzept der „Förderpflege“ Kliniken und Heime aus
Verwahranstalten in humane Einrichtungen verwandelte.
Das beruhte auf der Überwindung des „alltäglichen Mörderdenkens“ (F.
Fühmann), das sich im Horizont der religiös inspirierten Ideen von
„Erlösung“ und „Gnadentod“ für Schwerstkranke bewegt.
Den genuinen Zusammenhang von „Pflegepolitik und Erinnerungspolitik“ machte
Herzog subtil wie beeindruckend deutlich. Wo Erinnerungspolitik um religiös
besetzte Metaphern wie „Gnadentod“, „Erlösung“, „Shoah“ oder „Ho…
zentriert ist, besteht die Gefahr, dass andere Opfer marginalisiert oder
dem Vergessen überantwortet werden wie die Opfer der NS-Morde an
Behinderten.
28 Jun 2021
## LINKS
[1] /US-Psychoanalytiker-erfanden-Gefuehle/!5016819
[2] /Euthanasie-in-der-NS-Zeit-in-Hamburg/!5745271
[3] /Forscher-ueber-Euthanasie-Deportationen/!5711715
[4] /Briefe-von-Fritz-Bauer/!5248093
## AUTOREN
Rudolf Walther
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