# taz.de -- Vertriebenenmuseum in Berlin eröffnet: Fallen vermieden, Irritatio… | |
> Das „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zeigt die | |
> Flucht von Menschen aus vielen Jahrzehnten – und sorgt für kontroverse | |
> Debatten. | |
Bild: Dieser Handwagen wurde auf einem der langen Trecks der Vertriebenen aus O… | |
„Was bedeutet die Eröffnung des Dokumentationszentrums für Sie?“ Mit dies… | |
Frage werden Besucher:innen des gerade in Berlin eröffneten | |
Dokumentationszentrums Flucht und Vertreibung gleich zu Anfang der | |
Ausstellung zur Abstimmung gebeten. Ein inklusives Museum wolle man sein, | |
sagte die Direktorin Gundula Bavendamm schon beim Festakt am Montag. | |
Überhaupt wählte sie ihre Worte vorsichtig, denn über das | |
Dokumentationszentrum wurde lange diskutiert. | |
Kritik erntete vor allem der Fokus auf deutsche Vertriebene, die nach dem | |
[1][Zweiten Weltkrieg] aus den Ostgebieten nach Deutschland umsiedeln | |
mussten. Die Befürchtung: Die Schuld des Nationalsozialismus würde durch | |
das Einnehmen der Opferrolle zurückgedrängt. So werden unter dem | |
Museumsdach, zentral nahe am Potsdamer Platz in Berlin gelegen, nun auch | |
Fluchtbewegungen im 20. Jahrhundert allgemein vorgestellt. | |
Doch kann das funktionieren, die Vertreibungen rund um den | |
nationalsozialistischen Vernichtungskrieg in Zusammenhang mit jüngeren | |
Fluchtbewegungen zu setzen? „Auf der Flucht ähneln sich die Erfahrungen“, | |
heißt es eingangs auf einer Infotafel. „Die konkreten Ursachen und Folgen | |
von Zwangsmigrationen sind dagegen sehr unterschiedlich.“ | |
Im 20. Jahrhundert, das wird im Dokumentationszentrum deutlich, fliehen | |
beinahe ständig irgendwo Menschen. Sei es der Kaschmir-Konflikt zwischen | |
Indien und Pakistan, der Zerfall Jugoslawiens oder die Teilung | |
Oberschlesiens nach dem Ersten Weltkrieg – neue Grenzen machen die Menschen | |
zu Fremden in ihrem eigenen Land. | |
[2][Aktuelle Fluchtbewegungen] finden dabei ebenfalls Platz in der ersten | |
Etage des Dokumentationszentrums. So ist in einer Vitrine das arg lädierte | |
Smartphone von Bassem zu sehen, einem syrischen Geflüchteten, der sich mit | |
dem Handy den Weg durch Europa navigierte. Zudem hat er seine Flucht mit | |
Fotos dokumentiert, durch die sich die Besucher:innen nun klicken | |
können. | |
## Integration als Erfolgsgeschichte | |
Die Bilderauswahl irritiert dabei jedoch zunehmend: Fotos von vollen | |
Tellern in der Türkei und Halberstadt, dem Flughafen von Beirut oder dem | |
Willkommensarmband um Bassems Handgelenk erschaffen beinahe den Eindruck, | |
Flucht sei heute nicht viel mehr als eine aufwendige Reise. | |
Überhaupt erscheint die Integration von Geflüchteten in Deutschland im | |
Dokumentationszentrum als Erfolgsgeschichte. Lebensgroß erzählen auf | |
Videobildschirmen einstige Geflüchtete von ihrem neuen Leben in | |
Deutschland. Darunter etwa Dat Vuong, der als Kind nach dem Vietnamkrieg | |
aus Südvietnam floh und heute das bekannte Restaurant „Monsieur Vuong“ in | |
Berlin-Mitte betreibt. | |
Neben den Boatpeople und Geflüchteten aus Jugoslawien erzählt auch | |
Christine Rösch ihre Geschichte auf dem großen Bildschirm. Die 92-Jährige | |
hatte schon beim Festakt am Montag die Bedingungen ihrer Flucht 1946 aus | |
dem Kuhländchen im heutigen Tschechien geschildert. Nur mit wenig Gepäck | |
musste die damals 16-Jährige ihre Heimat verlassen, in der ihre Vorfahren | |
seit annähernd 700 Jahren gelebt hatten. | |
## Denkbar passender Zeitpunkt | |
Die unterschiedlichen Fluchtgeschichten so nebeneinander zu sehen irritiert | |
schon. Man wird so beinahe dazu angehalten, die Erlebnisse zu vergleichen: | |
Dabei könnten die Fluchtursachen von Syrer:innen, Ostpreußen oder auch | |
Jüd:innen im Nationalsozialismus unterschiedlicher kaum sein. | |
Das Dokumentationszentrum eröffnet in einer denkbar passenden Woche. Der | |
[3][Überfall auf die Sowjetunion] jährte sich zum 80. Mal, zudem wurde der | |
Weltflüchtlingstag begangen. Dass heute so viele Menschen auf der Flucht | |
sind wie nie zuvor, betonte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer | |
Ansprache am Montag. | |
Wie die Ideengeber des Museums politisch zur Thematik stehen, ist dabei | |
nicht ganz leicht zu klären. Anstoß für ein Vertriebenenmuseum hatten 1999 | |
der SPD-Politiker Peter Glotz und die damalige CDU-Abgeordnete Erika | |
Steinbach gegeben. Steinbach, mittlerweile parteilos [4][und der AfD | |
nahestehend], ist zum Festakt am Montag nicht erschienen und war bis vor | |
einigen Jahren noch Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV). | |
## Keine Schuldzuweisungen | |
Die Vertriebenenbünde gerieten immer wieder in die Schlagzeilen wegen der | |
NS-Vergangenheit einiger Mitglieder und Forderungen nach der | |
„Wiedergewinnung der Heimat“. Im Dokumentationszentrum wird das zumindest | |
angerissen: Die Mehrheit der Sudetendeutschen habe damals den Anschluss an | |
das Deutsche Reich befürwortet, heißt es. | |
Das zweite Obergeschoss ist schließlich ganz den deutschen Vertriebenen | |
nach dem Krieg gewidmet. 14 Millionen Menschen mussten aus ost-, mittel- | |
und südosteuropäischen Gebieten fliehen, mehr als 600.000 sind dabei ums | |
Leben gekommen. Hier haben die Museumskurator:innen gute Arbeit | |
geleistet. Auf Schuldzuweisungen, etwa in Richtung der Sowjetunion, die | |
die Ostgebiete einnahm, wird verzichtet. Immerhin, so erfährt man in der | |
Ausstellung, hat auch die britische Regierung die Aussiedlung deutscher | |
Minderheiten aus Ost- und Mitteleuropa befürwortet. | |
Auch liest die Besucherin, dass die Zwangsumsiedlung deutscher | |
Bevölkerungsgruppen nicht erst nach Kriegsende einsetzte. Im Rahmen des | |
Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags von 1939 drängten | |
SS-Dienststellen mehr als eine halbe Million Deutsche, ihre Heimat im | |
Baltikum, Polen und Rumänien zu verlassen und „heim ins Reich“ zu kommen �… | |
meist in die von Nazideutschland annektierten Teile Polens. | |
## Kinder suchen ihre Eltern | |
Während auf der zweiten Etage zunächst die politischen Gründe für die | |
Vertreibung der Deutschen mittels genauer Karten und historischer | |
Erklärungen deutlich gemacht werdend, rücken später persönliche Schicksale | |
in den Vordergrund. | |
„Diese Kleinkinder suchen ihre Eltern“ steht auf einem Plakat mit Bildern | |
allein aufgefundener Kinder, auch weiße Armbinden, die die Deutschen in den | |
Ostgebieten nach dem Krieg als Erkennungsmerkmal tragen mussten, sind zu | |
sehen. Hier ein Teddybär, dort ein Kaffeeservice aus einer sudetendeutschen | |
Heimatstube – gegen Ende wird die Ausstellung doch etwas rührselig. | |
Doch bei den Besucher:innen kommt das gut an. Immer wieder lassen sich | |
vor den Vitrinen Senioren belauschen, die in Erinnerungen an die eigene | |
Kindheit schwelgen. Überhaupt scheint der Altersdurchschnitt hoch an diesem | |
Eröffnungstag. Die meisten Besucher:innen sind deutlich über 60. | |
26 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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