# taz.de -- Adorno-Verlesungen von Linda M. Alcoff: Die Krise weißer Identität | |
> Linda M. Alcoff bestritt die Frankfurter Adorno-Vorlesungen. Im Raum | |
> stand die Vermutung, sie sympathisiere mit einem Israel-Boykott. | |
Bild: Zieht wegen ihrer Vorlesungen viel Kritik auf sich: die Philosophin Linda… | |
„Kein Israelboykott im Namen Adornos!“ – unter diesem reißerisch-plakati… | |
Titel äußerten vier jüdisch-israelische Organisationen in einem offenen | |
Brief an das Frankfurter Institut für Sozialforschung im Vorfeld der | |
Veranstaltung Kritik an der Referentin der diesjährigen | |
Adorno-Vorlesungen, die das Institut und der Suhrkamp-Verlag gemeinsam | |
veranstalten. | |
Die Vorlesungen bestritt die New Yorker Philosophin Linda Martín Alcoff. In | |
drei Vorlesungen vom 29. 6. bis 1. 7. behandelte sie das weitläufige Thema | |
„Race, Culture, History“. Auch der Lokalpolitiker Uwe Becker (CDU) meldete | |
sich kritisch zu Wort. | |
Stefan Lessenich, der Direktor des Instituts, wies die geäußerten | |
Verdächtigungen einer Beziehung der Referentin zur israelkritischen | |
Bewegung BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“) als substanzlos zurück | |
und verwahrte sich gegen den Vorwurf, das Institut biete dem Antisemitismus | |
Obdach oder decke Boykottforderungen gegen Israel. | |
Auf seiner Webseite unterstrich das Frankfurter Institut, es nähme die | |
geäußerte Kritik „sehr ernst“ und betonte zugleich die Notwendigkeit, dass | |
sich die Kritische Theorie auch [1][mit Theorien des Postkolonialismus zu | |
beschäftigen habe,] wenn sie ihre Tradition nicht verleugnen und | |
verfälschen wolle. | |
Die in Teilen der Presse behauptete Parallele zum künstlerischen und | |
[2][politischen Desaster der documenta 15] verdankt sich der aktuellen | |
medialen Stimmungslage und ist insofern eine freihändige Improvisation. Der | |
hessische CDU-Politiker Becker wurde vor Jahren überregional bekannt, weil | |
er dem renommierten Frankfurter Club Voltaire mithilfe des Mitrechts und | |
der Streichung städtischer Zuschüsse den Garaus machen wollte, aber damit | |
an der Justiz scheiterte. | |
## Sog sozialer Hierarchien | |
In der ersten Vorlesung beschäftigte sich Linda M. Alcoff mit den | |
problematischen sozialen Konstruktionen von Rasse und Identität, allerdings | |
eher affirmativ und ohne deren Untiefen und theoretische Leerstellen | |
kritisch auszuloten. | |
Historisch orientierten sich Konzeption und Begriff von Rasse zunächst vor | |
allem an körperlichen Merkmalen, integrierten aber bald auch | |
Verhaltensweisen und mentale und psychische Dispositionen in ihre | |
Überlegungen und gelangten so in den abgründigen Sog von sozialen | |
Hierarchien sowie eingebildeten Superioritäten und Inferioritäten von | |
Bevölkerungsgruppen beziehungsweise ganzen Ethnien, ohne die sozialen und | |
politischen Kontexte zu reflektieren, in denen die Konzepte und Begriffe | |
entstanden. | |
Die zweite Vorlesung behandelte das Thema „cultural racism“ und betonte, | |
dass dieser zwar oft der Legitimation rassistischer Praktiken diente, aber | |
zugleich auch antikolonialistischen Konzepten Raum bot, weil sich die | |
Erklärungskraft biologischer Rassebegriffe nach 1945 erschöpft hatte. Davon | |
betroffen war freilich auch die vermeintlich „realistische Sicht“ auf | |
rassische Identitäten, die sich oft an historischen Ereignissen orientierte | |
und psychologisierend an der natürlichen Angst vor Differenzen ansetzte. | |
Welcher Art von „Realismus“ diese Sicht verpflichtet ist, blieb jedoch | |
unklar. | |
## Jeffersons 600 Sklaven | |
In der dritten Vorlesung stellte sich Linda M. Alcoff dem Thema „The Crisis | |
of White Identity“. In der auf Sklavenarbeit beruhenden weißen | |
Siedlergesellschaft galten Nichtweiße von Anfang an als unfähig für | |
staatsbürgerliche Gleichheit und entsprechende Rechte. Die landbesitzenden | |
Siedler blieben eine Gesellschaft für sich und bestanden lange auf ihrer | |
natürlichen Überlegenheit gegenüber Nichtweißen. Whiteness galt als „etwa… | |
was wir tun und nicht etwas, was wir sind“. | |
Thomas Jefferson, der in seinem Leben über rund 600 Sklaven verfügte, war | |
ein strikter Gegner der Gleichheit von Weißen und Nichtweißen, was | |
allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts politisch nicht mehr durchzuhalten | |
war gegen die Bestrebungen einer gemeinsamen Neugestaltung und | |
Transformation von rassistisch grundierten sozialen Beziehungen und | |
Lebensweisen. | |
Damit geriet die weiße Identität, die geprägt war von Siedlern, die aus | |
eigenen Antrieben aus Europa nach Amerika ausgewandert waren – im Gegensatz | |
zu der von Deportierten und Flüchtlingen –, in eine tiefe Krise. Heute | |
unterstützen rund 56 Prozent der US-Bürger die schwarze Protestbewegung | |
„Black Life Matters“. | |
In den drei jeweils über einstündigen Vorlesungen der Referentin fiel kein | |
einziger Satz, der den Gerüchten und Protesten in der | |
Vorfeldberichterstattung auch nur den Hauch von Evidenz verschafft hätte. | |
Die Vorlesungen selbst blieben von Störungen und Kritik unbehelligt, im | |
Gegensatz zur Empörung und Resonanz, die das Desaster in Kassel in den | |
Medien zu Recht auslöste. | |
4 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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