# taz.de -- Zeitgeschichte: Spätes Begräbnis | |
> Im Hamburger Uni-Krankenhaus lagerten bis vor kurzem Teile von Gehirnen | |
> behinderter Kinder, die von den Nazis ermordet wurden. Jetzt werden die | |
> Opfer in einer Ausstellung gewürdigt und endlich beerdigt. | |
Bild: "Im Gedenken der Kinder – Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kinder… | |
HAMBURG taz | Die Urkunde ist nicht unterschrieben. Nur „Der Standesbeamte | |
in Vertretung“ ist da zu lesen. Das Dokument soll den Tod von Irma Sperling | |
am 4. 1. 1945 bezeugen. Doch die Daten, die auf dem Papier zuvor den 5. 2. | |
1930 als ihren Geburtstag angeben, stimmen nicht. Tatsächlich wurde sie am | |
20. 1. 1930 geboren. Nun liegt ihre Sterbeurkunde unter Glas in einer | |
Vitrine, als Ergänzung zu der Ausstellung „Im Gedenken der Kinder – Die | |
Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“, zu sehen im | |
Medizinhistorischen Museum des Universitätskrankenhauses in | |
Hamburg-Eppendorf (UKE). | |
Irma Sperlings Schwester Antje Kosemund ist vor vielen Jahren über diese | |
Ungereimtheit auf der Todesurkunde gestolpert – so, wie sie sich wunderte, | |
warum so wenig über ihre Schwester bekannt ist und warum man in der Familie | |
nicht über sie spricht. Und sie begann eine jahrzehntelange Recherche nach | |
ihrer Schwester, die als behindertes Kind dem sogenannten | |
Euthanasieprogramm der Nazis in Wirklichkeit schon im Januar 1944 zum Opfer | |
fiel. | |
In vielen Familien gab es sie: Kinder mit mehr oder weniger auffälligen | |
Behinderungen, die eines Tages in ein Krankenhaus abgegeben wurden und die | |
nicht wiederkamen. Oder Kinder, die in einem Kinderheim oder einer | |
Pflegeeinrichtung plötzlich an Lungenentzündung verstorben sein sollen. | |
Kinder, an denen Experimente gemacht wurden und aus deren toten Körpern | |
Präparate gefertigt wurden. So wie es die Kinderärzte gab, die die | |
Vernichtungsprogramme planten, durchführten und oft noch später | |
rechtfertigten. Die Kinder untersuchten, wobei das Ergebnis meist | |
feststand: dass sie kein Recht zu leben hätten. | |
Ja, das ist schwere Kost. Ein wenig hilft die Abgeschiedenheit des Ortes: | |
Das UKE-Museum liegt am Rand des Krankenhausgeländes. Die Ausstellung | |
dürfte nicht allzu überlaufen sein, so hat der Besucher Ruhe, sich im | |
eigenen Tempo zu bewegen, auch um darüber nachzusinnen, wie er den | |
Schrecken, der ihn schon bald befällt, bändigen kann, ohne dass die Gefühle | |
von Fassungslosigkeit und Empörung verloren gehen. | |
Die Ausstellung ist im Auftrag der in Berlin ansässigen Deutschen | |
Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. entstanden und wurde in | |
diesem Sommer im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors gezeigt. Sie | |
fand dann unter Medizinhistorikern so viel Anerkennung, dass sie nun durchs | |
Land wandert. Ergänzt wird sie in Hamburg durch zwei Informationstafeln, | |
die auf die dortigen „Kinderfachabteilungen“ eingehen. Die eine befand sich | |
in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn, die andere im | |
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Eltern behinderter Kinder wurden ab 1939 | |
gedrängt, hier ihre Kinder abzugeben. | |
Der Name „Kinderfachabteilung“ sollte ärztliche Fürsorge und die | |
Möglichkeit der Heilung suggerieren. Das Gegenteil war geplant: Nur wenige | |
konnten diese „Abteilungen“ wieder verlassen. In Langenhorn wurden 69 | |
Kinder aufgenommen und nachweislich 22 getötet. In Rothenburgsort sollen es | |
60 gewesen sein. Der Leiter der dortigen „Abteilung“, der Mediziner Wilhelm | |
Bayer, setzte sein Verständnis von lebenswertem Leben durch, ohne bei | |
Ärzten und Pflegern auf Widerstand zu stoßen. | |
Nach dem Krieg ermittelten die britischen Behörden zwar sofort gegen Bayer, | |
doch in den 50er-Jahren hatte es die deutsche Justiz nicht eilig, gegen ihn | |
vorzugehen. Die Anklage lautete auf Mord, doch die Richter diskutierten | |
ausführlich, ob die getöteten Kinder überhaupt ein Lebensrecht gehabt | |
hätten. Schließlich wurde die Hauptverhandlung nicht zugelassen. Bayer | |
starb 1972 unbehelligt bei Hamburg, nachdem er jahrelang in einer | |
Privatpraxis gearbeitet hatte. Damals machte sich eine neue Generation von | |
Medizinern auf, nach dem Wirken und Wüten ihres Berufsstandes zu forschen. | |
Marc Burlon, heute Psychiater und Medizinhistoriker, hat eine Dissertation | |
über Euthanasie an Kindern in Hamburg geschrieben. „Die Verknüpfung von | |
Gesundheitspolitik und Gesundheitsverwaltung und der Kinderfachabteilung | |
ist in Hamburg extrem eng und extrem effektiv gewesen“, so ein Fazit. Schon | |
dass es in Hamburg zwei „Fachabteilungen“ gegeben habe, sei auffällig. Und | |
um zu illustrieren, wie eng die Kontakte waren, erzählt er von dem | |
NS-Gesundheitssenator Friedrich Ofterdinger: „Ofterdinger hat in Langenhorn | |
per Dekret die Abteilung eröffnet und persönlich den ersten Totenschein | |
unterzeichnet.“ | |
Die aktuelle Ausstellung mit ihrem Blick auf Hamburg ist nur ein Schritt, | |
sich mit der eigenen Medizingeschichte auseinanderzusetzen: Am heutigen | |
Samstag findet auf dem Friedhof Ohlsdorf eine Art Beerdigung statt. Eine | |
„Art“ deshalb, weil nicht ganze Körper bestattet werden, sondern Präparate | |
von fünf Kindern, die seinerzeit in Rothenburgsort und Langenhorn ermordet | |
wurden. Danach sezierte man sie und nutzte Teile ihres Gehirns in der | |
Neuropathologie als Anschauungsmaterial für Medizinstudenten – bis 2006. | |
Für Marc Burlon lag es nahe, nach Präparaten zu forschen: „Ich wusste aus | |
den Akten, dass Gehirne von Kindern ins UKE gewandert waren. Da lag es nahe | |
zu vermuten, dass sie dort noch waren.“ Er fragte in der dortigen Sammlung | |
von Anschauungsexponaten nach: „Ich habe damals keine Informationen | |
bekommen. Es hieß, es sei alles verbrannt.“ Er ließ nicht locker, bekam | |
über Umwege Einblick in das Archiv der Neuropathologie und fand die | |
Präparate unter der Überschrift „Entwicklungsstörungen“: „Ein glückli… | |
Zufall hat mir den Weg geebnet.“ | |
So wird er es am Samstag in Ohlsdorf auf der Trauerfeier erzählen. Schüler | |
der Bugenhagenschule aus Alsterdorf werden zudem über die fünf Kinder das | |
berichten, was bekannt ist. | |
14 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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