# taz.de -- Krankheitsbezeichnungen von NS-Ärzten: „Das Thema muss debattier… | |
> Noch immer sind Krankheiten nach NS-Ärzten benannt, die etwa an | |
> Euthanasieopfern forschten. Eine hannoversche Medizinerin will das ins | |
> Bewusstsein rufen. | |
Bild: Geistig behinderte Kinder während der NS-Zeit | |
taz: Sie forschen zu Krankheiten, die nach Nazi-Ärzten benannt wurden. Wie | |
sind Sie zu dem Thema gekommen, Frau Stünkel? | |
Lina Stünkel: Der Ausgangspunkt war eine Vorlesung meiner späteren | |
Doktormutter zu Menschenversuchen im Nationalsozialismus. Ich habe sie | |
danach angesprochen und gefragt, warum es Krankheitsbezeichnungen und | |
Zellen gibt, die nach Ärzten benannt sind, die im Nationalsozialismus aktiv | |
waren. | |
Woher wussten Sie das? | |
In einer Pathologievorlesung war erwähnt worden, dass manche | |
Krankheitsbezeichnungen sehr umstritten sind. Aber im Studium lernten wir | |
die Clara-Zelle kennen, ohne dass uns gesagt wurde, dass Max Clara sie an | |
Zellen vom frisch fixierten Gewebe von Hingerichteten untersucht hat. Das | |
finde ich schon erschreckend. Oder der Pernkopf-Atlas der Anatomie: | |
Pernkopf hat für die Zeichnungen auch Opfer der NS-Justiz abgebildet. Ich | |
habe den Atlas in der Unibibliothek ausgeliehen, zum Teil haben die | |
Künstler mit SS-Rune unterschrieben. Im Vorwort ist nicht einmal mit einer | |
Fußnote darauf hingewiesen, wie der Atlas zustande gekommen ist. | |
Wie war es für Sie, sich mit Ihrer Arbeit zumindest in Deutschland auf | |
solch ein Neuland zu begeben? | |
Am Anfang dachte ich, dass es schwierig sein könnte, Publikationen zu dem | |
Thema zu finden, aber das war dann gar nicht so. Im englischen Sprachraum | |
wurde das Thema schon häufig diskutiert. Gerade in Fachzeitschriften wurden | |
einzelne Eponyme besprochen und überlegt, ob man sie weiter benutzen soll | |
oder nicht. Hier in Deutschland haben sich noch nicht viele Leute damit | |
beschäftigt, daher habe ich mich gefreut, dass ich auf das Thema gestoßen | |
bin. | |
Suchen Sie auch nach neuen Fällen oder werten Sie bereits bekannte aus? | |
Beides – wobei ich glaube, dass die meisten bereits diskutiert worden sind. | |
Ich bin bislang nicht auf neue gestoßen. Manchmal muss man das, was in | |
verschiedenen Zeitschriften publiziert wurde, zusammenführen. Jede | |
Fachgesellschaft hat nur die Eponyme ihrer eigenen Fachrichtung diskutiert. | |
Ich habe sie gesammelt, die Biographien der Täter herausgearbeitet, | |
Alternativbezeichnungen zu den Eponymen gesucht und die Diskussion, die es | |
zu den Bezeichnungen gab, aufgearbeitet. | |
Gab es zu allen Eponymen bereits Diskussionen? | |
In Fachzeitschriften schon. 2015 gab es ein Symposium in Rom von einem | |
Doktor der Gastroenterologie, Cesare Efrati. Er hat mit 100 italienischen | |
Medizinern, Soziologen, Wissenschaftsphilosophen und Rabbinern versucht, 15 | |
Eponyme umzubenennen. Das ist aber leider gescheitert. | |
Warum? | |
Man muss sich für jede einzelne Bezeichnung an die zuständige | |
Fachgesellschaft wenden mit der Bitte, die Frage an den europäischen | |
Fachverband weiterzuleiten, damit es auf internationaler Ebene beraten | |
wird. Daran ist es letztendlich gescheitert. | |
Ist das nicht ein überschaubarer Aufwand? | |
Die Bezeichnungen tauchen in allen Fachbüchern auf – man müsste sämtliche | |
Bücher umschreiben. Und die MedizinerInnen müssten künftig darauf achten, | |
nicht mehr Morbus Reiter zu schreiben, sondern die Alternativbezeichnung zu | |
benutzen. | |
Ich stelle es mir schwierig vor, die Art der Verstrickung der NS-Ärzte zu | |
klassifizieren. Gibt es da internationale Standards, auf die Sie | |
zurückgreifen können? | |
Das ist tatsächlich schwierig. Ich habe es in meiner Doktorarbeit so | |
gegliedert, dass ich unterschieden habe zwischen Eugenik- und | |
Euthanasiebefürwortern und Tätern, die in Menschenversuche involviert | |
waren, sie beaufsichtigt haben oder ihre Erkenntnisse an Opfern der | |
NS-Justiz gewonnen haben. | |
Gibt es in der Fachwelt einen Konsens, dass eine Umbenennung wichtig ist? | |
Nicht alle fordern eine Umbenennung für alle Fälle, da gibt es verschiedene | |
Standpunkte. Aber bei den Eponymen, deren Umbenennungen derzeit diskutiert | |
werden, geht es nicht um bloße Mitläufer. Carl Clauberg etwa, nach dem der | |
Clauberg-Test benannt wurde, hat Hunderte weibliche Häftlinge in Auschwitz | |
zwangssterilisiert. Julius Hallervorden hat an Gehirnen von behinderten | |
Kindern geforscht, die bei der T4-Aktion ermordet worden waren. Er hatte | |
zuvor überwacht, wie sie getötet wurden. Solche Täter wussten genau, woran | |
sie forschten und was sie taten. Ich finde es falsch, dass ihre Namen in | |
der Medizingeschichte mit etwas Positivem assoziiert werden. | |
Wie nahe kommt es Ihnen, wenn Sie die Berichte über die T4-Aktion lesen, | |
bei der Zehntausende behinderter Kinder und Erwachsener ermordet wurden? | |
Gerade als Medizinerin ist es mir unvorstellbar, wie Ärzte da mitgezogen | |
haben und es für richtig gehalten haben. Und dann gibt es noch einen | |
biographischen Hintergrund für mich: Ich habe vor dem Medizinstudium in | |
einem Wohnheim für Erwachsene mit schwerst-mehrfach-Behinderungen ein | |
freiwilliges soziales Jahr gemacht. Es hat mich zum Teil lange beschäftigt | |
und mitgenommen, wenn ich mir vorstelle, was in der NS-Zeit mit Menschen | |
mit Behinderung oder psychisch Kranken passiert ist. | |
In Ihrer Arbeit gibt es ein Kapitel für Forscher mit ambivalenter | |
Biographie: solchen, die sich schuldig gemacht haben und an anderer Stelle | |
geholfen haben. Wie stehen Sie zu diesen Fällen? | |
Am Anfang dachte ich, dass ich in meiner Arbeit eine Kategorie „Opfer“ und | |
eine „Täter“ haben würde. Aber das ging nicht auf. Es kam die Kategorie | |
„Euthanasie- und Eugenikbefürworter“ dazu und die der Ambivalenten: etwa | |
Karl Bonhoeffer, der Gegner des Hitler-Regimes war und versuchte, jüdische | |
Assistenten zu schützen, zugleich aber die Zwangssterilisation | |
befürwortete. | |
Haben Sie den Eindruck, dass die Diskussion über die Eponyme auch in | |
Deutschland beginnt? | |
Die Diskussion wird viel in Fachzeitschriften geführt. Es gibt zum Beispiel | |
eine neurologische Zeitschrift, cortex, die beschlossen hat, bestimmte | |
Eponyme nicht mehr zu verwenden. Oder einzelne AutorInnen entscheiden sich | |
dazu. Ich habe hier an der Uni Hannover mit dem Professor für anatomische | |
Mikroskopie gesprochen: als ich vor vier Jahren im ersten Studienjahr war, | |
haben wir noch den Begriff Clara-Zelle benutzt, jetzt wird sie Club-Zelle | |
genannt. Denn die Autorin des Fachbuchs, mit dem unterrichtet wird, Renate | |
Lüllmann-Rauch, arbeitet mit dem neuen Begriff. Sie hat sich damit | |
auseinandergesetzt, was Max Clara getan hat. | |
Sind Sie optimistisch, dass die NS-Täter-Eponyme verschwinden werden? | |
Das Thema muss erst einmal in das Bewusstsein der Leute kommen. Die | |
wenigsten beschäftigen sich bei jedem Krankheitsbegriff mit der Biographie | |
des Namensgebers. | |
Cesare Efrati hat damals kritisiert, dass auf seine Einladung 2015 in | |
Deutschland niemand reagiert hat. | |
Ich habe ihn kontaktiert und gefragt, warum niemand aus Deutschland | |
gekommen ist. Er hat darauf nur geantwortet, dass er es falsch fände, Namen | |
zu nennen. Ich habe mehrmals mit der Bundesärztekammer telefoniert: die | |
sagte, dass sie das Anliegen auf jeden Fall unterstützen, aber dass es | |
primär Aufgabe der Fachgesellschaften sei. Daraufhin habe ich der | |
Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften | |
geschrieben. Die haben geantwortet, dass das Thema gerade an die | |
Fachgesellschaften weitergetragen wird. Und ich habe mich an die WHO | |
gewandt. Vielleicht bewegt sich ja etwas. | |
3 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
## TAGS | |
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