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# taz.de -- Kinder-Euthanasie im Dritten Reich: Täter in Weiß
> Kinder-Euthanasie wurde in der Nazizeit zur Normalität. Behinderte galten
> als "lebensunwert". Eine Ausstellung in Berlin, zwei Reflexionen.
Bild: Kinder in der "Brandenburgischen Idiotenanstalt" Lübben (1933).
## Bilder aus tiefenentrümmerten Resten
Die Topographie des Terrors in Berlin ist ein rauer Fleck Erde. Einer, auf
dem Steine liegen. Einer, wo Erinnerung kostbar ist. Deshalb kann eine
Ausstellung "Im Gedenken der Kinder" heißen. Welcher Kinder? Welches
Gedenken?
Nach fünfundsechzig Jahren bekommt die Kindereuthanasie, die in der
Nazizeit mit professioneller Routine ausgeübt wurde und im Zuge derer
mindestens zehntausend Minderjährige vergast, vergiftet, ausgehungert
wurden, eine große Öffentlichkeit – in einer Sonderausstellung in der Halle
auf dem Topographie-Gelände.
Einst stand auf dem Karree der Prinz-Albrecht-Palais – "Prinz", das steht
sonst für Märchen und Happy End. Später war hier auch die Gestapo-Zentrale.
Sie steht für Terror und Tod. Nach dem Krieg aber wurden mit der
Tiefenenttrümmerung nicht nur die Spuren auf dem Gelände verwischt.
Tiefenenttrümmern, das heißt: Vergessen. Totschweigen. Nichts wissen.
Nichts gewusst haben wollen.
Und dann haben die Nachgeborenen doch angefangen, gegen den Widerstand der
Tätergeneration, aus den tiefenenttrümmerten Resten das Bild wieder
zusammenzusetzen. Viele Bilder zusammenzusetzen. Viele Hergänge zu
rekonstruieren. Jetzt also gibt es auch die Aufarbeitung der medizinischen
Verbrechen an Kindern.
"Warum so spät?", wird der Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Kinder
und Jugendmedizin, die die Ausstellung initiiert hat, auf der
Pressekonferenz gefragt. Er antwortet, dass die Aufarbeitung grundsätzlich
spät kommt. Erst musste eine neue Generation da sein. "Eine unbelastete,
die sich verantwortlich fühlt."
Auf den Fotos und Faksimiles, die auf Stelltafeln kleben in der Topographie
des Terrors, wird nun gezeigt, wie sich Ärzte bereitwillig die
Verwertungslogik der Nationalsozialisten zu eigen machten und Kindern, die
als "unwert" galten, ihr Lebensrecht absprachen und sie töteten. "'Unwert'
ist das schlimmste Wort", sagt die junge Kollegin. Zur zweiten
Nachkriegsgeneration gehört sie, ihr Großvater war Soldat. "Die Freigabe
der Vernichtung lebensunwerten Lebens", liest sie. "Da schnürt sich mir
alles zusammen." Wert – unwert – lebensunwert – "die Sprache hat keine
Grenze", sagt sie.
Weil es kein Vollständiges gibt, scheut die Ausstellung das Unvollständige
nicht: Zuerst werden die Vordenker der Verwertungslogik genannt. Dann wird
gezeigt, wie die auf Linie gebrachte Ärzteschaft definiert, was ein
gesundes Kind ist, und wie die Auslese beginnt. "Kinderfachabteilungen"
wurden eingerichtet. "Was neutral klingt, ist nicht neutral gemeint", sagt
die junge Kollegin. Auch Worte wie "Einschläferungsbefehl",
"Sterbebegünstigung" oder "Reichsausschuss-Kinder" sind nicht neutral
gemeint.
In den Kinderfachabteilungen fand die Auslese statt. "Es wurden gesunde,
muntere Kinder allein aufgrund der Feststellung, dass sie nie verwertbar
für den 'Volkskörper' sind, umgebracht. Es gab keine Förderung Behinderter,
sondern Vernachlässigung bis in den Tod", fasst der Vertreter der
Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin das Unrecht zusammen. "Es geht
nicht um ethisches Verhalten, sondern um kriminelles." Und dann spricht er
von etwas, wofür die Verantwortung nicht delegiert werden kann: "Heute ist
die Frage: Kommt das behinderte Kind überhaupt zur Welt?"
Die Tätergeneration versuchte, die Erinnerung an das Unrecht auszulöschen.
Die erste Nachkriegsgeneration aber hat sich das Wissen über das, was unter
den Nazis geschah, wieder angeeignet - trotz kollektiver Amnesie. Und trotz
der Leerstellen, die sich überall auftun und die sie füllt, indem sie sie
benennt. Noch etwas aber muss sie tun, was die Eltern nicht taten: Sie muss
mit der Generation, die nach ihr kommt, über das, was war, reden. "Für mich
ist das unbegreiflich, wie Verbrechen Gesetz wurde", sagt die junge
Kollegin. WALTRAUD SCHWAB
## Verbrechen im Nominalstil
Wo früher Zwischenstation war auf dem Weg zum Tod, Prinz-Albrecht-Straße 8
in Berlin, oben die Verhörsäle, rechts das Hausgefängnis, darin die, die zu
den ärgsten Feinden des Systems gezählt wurden, die, für die es danach oft
wenig gab, und wenn doch etwas, dann meist das KZ Sachsenhausen –
Kommunisten, Widerständler, Juden –, wo Verbrechen zu Paragrafen wurden und
Paragrafen zu Verbrechen, dort war lange: nichts.
Denn als auch die Überreste der Gestapo-Zentrale abgerissen wurden, dieses
Orts der Verwaltung von Massentötung und Terrorakten, klaffte da nur ein
weiteres Loch. Ein weiteres Stück Ödnis mitten in der Stadt.
"Mit dem Fahrrad bin ich oft dran vorbeigefahren, Ende der Siebziger", sagt
die Kollegin. Zur ersten Nachkriegsgeneration gehört sie, ihr Vater war
Soldat. "Auf der einen Seite die Mauer, auf der anderen Seite Brachland.
Eine Leerstelle, dachte ich damals. Mit einem Verkehrsübungsplatz darauf."
Und heute? Wo die Straße jetzt Niederkirchnerstraße heißt, wo jetzt
Dokumentationszentrum, die Topographie des Terrors, ist, ist die Geschichte
jetzt erzählt und bebildert? "Es gibt immer noch viele Lücken", sagt sie,
den Blick auf eine Tafel gerichtet, auf der steht, dass schon dreizehn
Jahre vor Hitlers Machtergreifung geistig und körperlich Behinderte als
"Idioten", "Ballastexistenzen", als "lebensunwert" bezeichnet und "auf
einem intellektuellen Niveau" in die "Tierreihe" eingestuft wurden.
So beginnt die Sonderausstellung "Im Gedenken der Kinder", die erinnern
will an mindestens zehntausend meist behinderte Kinder und Jugendliche, die
zur NS-Zeit Opfer brutaler Medizinverbrechen wurden: Mit einem vergilbten
Schriftstück, unterzeichnet von Karl Binding und Alfred Hoche, datiert auf
1920.
Der eine ein Dr. jur. et. phil., der andere ein Dr. med. Sie nennen ihr
Pamphlet "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und
ihre Form", sie nennen die Vernichtung Beeinträchtigter einen "nützlichen
Akt". Man bedenke doch die wirtschaftliche Rechnung. Die Einsparungen. Das
Kapital.
"Maß und Form", wiederholt die Kollegin, sie weicht einen Schritt zurück.
Mit Maß und Form erhält das willentliche Töten behinderter, gesunder,
glücklicher Sechs-, Zehn- oder Sechzehnjähriger sterile Neutralität. Es
legt Morde fein säuberlich in Ordnern ab, notiert von Ärztinnen und Ärzten,
die Kindern hochdosierte Schlafmittel spritzten, sie verhungern ließen, mit
Erregern infizierten, zwangssterilisierten, die entschieden, ob ein
Säugling leben darf.
Nach eigenem Ermessen: Ist das Kind bildungsfähig oder ein Fall für die
"Aktion Gnadentod" in der Gaskammer einer sogenannten Heil- und
Pflegeanstalt? Oder auch: per "Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses", verabschiedet am 14. Juli 1933.
"Maß und Form", fällt der Kollegin auf, während sie die Ausstellungstexte
liest, und dann "Zweck und Verwertung". Die Arisierung im Dritten Reich
schien einem Regelwerk, einer Formel zu folgen – und im Nominalstil
stattzufinden. Bürokratendeutsch kennt viele Substantive und
Passivkonstruktionen, aber wenige Verben und Namen. Wenige Akteure.
Die Ausstellung gibt den Akteuren Namen. Sie verortet. Julius Hallervorden,
Friederike Pusch, Hans Hefelmann, Johann Duken, Richard von Hegener,
Medizin, Therapie, Pathologie, Stuttgart, Wien, Brandenburg, Heidelberg,
Jena. Die Kollegin schaut in die Gesichter der Täter, auf diese
Schwarz-Weiß-Fotos von Menschen, die lächeln, sie schaut auf das hohe
Alter, das sie teilweise erreicht haben. "Ob sie bequem gelebt haben?"
Ob sie danach weiterpraktiziert haben? Weiterbehandelt, weitergeforscht?
"Ich will weniger Leerstellen", sagt die Kollegin. Sie sagt es bestimmt.
ANNABELLE SEUBERT
20 Jan 2012
## AUTOREN
W. Schwab
A. Seubert
## TAGS
NS-Verbrechen
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