Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Augenarzt mit sozialer Vision: Brillen für Deutschland
> Dr. Roth erzählt von der verordneten Armut – und von seiner Armenklinik,
> die Menschen hilft, denen keine Krankenkasse beisteht.
Bild: Notwendiges Hilfsmittel und dabei sehr teuer: die Brille
Kürzlich erfuhr ich von einem Augenarzt in Ulm, der eine Armenklinik unter
anderem für abgesunkene Mittelstandsbürger gegründet haben soll, und das im
reichsten Bundesland Deutschlands, in Baden-Württemberg. Dieser
Angelegenheit wollte ich nachgehen.
Dr. Roth trägt gern Fliege und bewohnt in der Ulmer Vorstadt Wiblingen,
zusammen mit seiner Frau, zwei Hunden und einer weißen Katze, ein Häuschen
in einer Eigenheimsiedlung am Wald. Seine Praxis liegt nur vier Minuten
entfernt im benachbarten Wohngebiet. Es entstand in den 70er Jahren, mit
großen Wohnblöcken, Mehrfamilienhäusern und Schulzentrum, und war damals
eine moderne Schlafstadt. Inzwischen sind viele Gebäude und Spielplätze
etwas heruntergekommen. Auf die Frage, weshalb er sich hier damals
niedergelassen hat mit seiner Praxis, sagt er:
„Ich habe mich ganz bewusst dazu entschieden, nach Wiblingen zu ziehen. Die
Siedlung war von Anfang an sehr stark sozial durchsetzt. Heute sind 80
Prozent der Bewohner Migranten, Spätaussiedler. 20.000 Menschen aus 110
verschiedenen Nationen. Ich war Oberarzt und wollte eigentlich an der
Uni-Klinik bleiben, dann ist aber meine Frau plötzlich ums Leben gekommen,
ich war mit drei kleinen Kindern allein. In dieser neuen Siedlung gab es
eine Aufgabe für mich, es gab einen Kindergarten, eine Schule, alles an
einem Ort.
1982 habe ich meine Praxis in Wiblingen eröffnet, zuerst in meinem Haus,
dann im Neubau beim Tannenplatz. Ich war der erste Arzt überhaupt. Hier
wollte keiner hin. Also da lebt nicht gerade der Privatpatient! Ich war so
eine Art Pionier. Heute gibt es hier sogar ein Ärztezentrum.
Ich war 25 Jahre lang ein ganz klassischer Hausaugenarzt, habe nicht mal
operiert. Und ich habe vom ersten Tag an in meiner Praxis immer auch Leute
ohne Papiere oder Versicherung kostenlos mitbehandelt. Später kamen – auf
Einladung von Privatleuten – auch Patienten aus dem Ausland dazu, zum
Beispiel Kinder aus Tschernobyl. Das war etwa fünf Jahre nach der
Reaktorkatastrophe. Sie hatten strahlenbedingte Augenschäden wie
angeborenen grauen Star, und noch häufiger war die maligne Myopie, eine
exzessive fortschreitende Kurzsichtigkeit – mit alldem muss man in Japan
nach Fukushima auch rechnen. Aber wenn im eigenen Land keiner was machen
kann, wie im Fall Tschernobyl, dann ist es ja noch schlimmer. Für ein
ehemaliges Tschernobyl-Kind, inzwischen selbst Mutter, Katarakt mit 16
Dioptrien, da stiften wir immer noch die Kontaktlinsen.
## Kriegsverletzte Kinder
Und Ende der 90er Jahre kamen dann kriegsverletzte Kinder aus dem Kosovo.
Und weil dann aber die Zahl unserer eigenen Kassenpatienten, die infolge
der Gesundheitsreform nicht mehr angemessen versorgt wurden, mit der Zeit
immer größer wurde, habe ich dann 2009 die Armenklinik gegründet. Das wurde
natürlich nicht gern gesehen. Also, ich unterscheide da nicht beim
humanitären Einsatz, ich helfe auch unseren eigenen Menschen, wenn die in
Not sind.“ Er lacht sarkastisch.
„Inzwischen hat sich bei mir einiges geändert. Vor vier Jahren, ich war 63,
habe ich meine Praxis aufgegeben. Nicht freiwillig übrigens. Der Grund war
der Gesetzgeber. Die Zahl der Ärzte in Baden-Württemberg sollte reduziert
werden, ab 63 wurde man aufgefordert, in Rente zu gehen. Wer sich weigerte,
der wurde runterbudgetiert auf nur noch ein Viertel des Umsatzes, von der
Kasse her. Ich habe noch drei Monate weitergemacht, dann musste ich’s
hinwerfen und habe grade noch knapp erreicht, dass junge Kollegen mit einer
Tagesklinik die Zulassung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) übernehmen
konnten, denn meine Praxis sollte ja geschlossen werden. Die KV musste dem
Verkauf zustimmen. Das wäre heute gar nicht mehr möglich.
Nach den gesetzlichen Richtlinien vom Mai vorigen Jahres – von der CDU
mitgetragen übrigens – hat die KV das Vorkaufsrecht. Und das Problem ist,
dass Herr Lauterbach, der SPD-Gesundheitspolitiker, der sich für die
Ökonomisierung des Gesundheitswesens so ins Zeug legt, die Praxen
mittlerweile aufkauft. Die KV schiebt sie ihm zu. Die werden dann sozusagen
privatisiert, gehen in medizinische Konsortien über. Genau das, was er im
Bundestag durchgebracht hat. Er gibt sich immer so leutselig, aber der ist
knallhart!!! Er macht Millionen mit ’seiner‘ Rhön-Klinik, war ja Gründer
auch, sitzt im Vorstand und hat seine Finger überall drin, auch in den
Kassen. Das Rhön-Klinikum hat zum Beispiel für die Barmer Ersatzkasse den
Chef gestellt. Aber das ist jetzt ein anderes Thema … Die kleine
Abschweifung jedenfalls zeigt ihnen einen Aspekt unseres Gesundheitssystems
in Auflösung.
## Ganz bürgerliche Leute im Bankrott
Ich hatte, wie gesagt, noch Glück. Habe mit den jungen Kollegen, die meine
Praxis übernommen haben, eine Übereinkunft getroffen: Ich helfe denen ein
bisschen – mein Spezialgebiet sind ja Kontaktlinsen bei verschiedenen
Sehbehinderungen und sehbehinderte Kinder –, und ich kann dafür einen Raum
benutzen und die Geräte für meine Armenklinik-Patienten. Ich mache im
Moment 20 Wochenstunden Sprechstunde. In der Zeit kann ich auch die
’Sozialfälle‘ in der Praxis versorgen. Die laufen einfach unauffällig mit…
Ich frage, wie das denn möglich ist, wo es sich doch wohl um eher
auffällige Patienten handelt. „Sehen Sie, die sind gar nicht auffällig –
und selbst wenn?! Aber Obdachlose werden hier in der Regel übers Rote Kreuz
versorgt.
Inzwischen sind ganz andere Leute von Armut betroffen, die haben nicht
jahrelang auf der Straße gelebt, das sind ganz bürgerliche Leute, die
sauber gearbeitet haben und dann plötzlich arbeitslos wurden oder bankrott
gegangen sind. Die also ganz normal gelebt haben und dann abgestürzt sind,
zum Beispiel in Hartz IV. Völlig normal treten die auf. Das geht vom
ehemals Selbstständigen bis hin zum Akademiker. Einer ist ein ehemaliger
Lehrer, der seine Medikamente nicht mehr zahlen kann. Die Frau hatte Krebs,
und sie haben, nachdem nichts mehr half, Chemo gemacht mit ausländischen
Ärzten, Akupunktur usw., er ist dabei ausgenommen worden. Das ganze Geld
war weg. Und nun kriegte er den grünen Star, die Kasse verlangt soundso
viel Selbstzahlung, was er nicht kann. Er kommt regelmäßig sehr gepflegt
mit Anzug und Krawatte in die Praxis und bekommt von mir kostenlos seine
Tropfen.
## Absolut unabhängig
Jetzt komme ich zur Armenklinik. Anfangs schwebte mir so ein Modell vor,
wie ich es aus den USA kannte, also ein Zentrum in einem Gebäude, in dem
arme Leute kostenlos medizinisch versorgt und auch mal stationär betreut
werden können. Wir wollten die leer stehende Pionierkaserne nutzen. Das
Projekt hat sich dann aber zerschlagen und vollkommen dezentral entwickelt.
Wobei der Begriff Armenklinik beibehalten wurde, weil er schon bekannt war.
Ich hatte einige Ärztekollegen im ganzen Stadtgebiet angesprochen, ob sie
bereit sind, ab und zu arme Patienten kostenlos zu behandeln, und die waren
sofort dabei. Ich koordiniere das Ganze ja. Es hat sich bald
herausgestellt, dass wir gar keine stationäre Sache brauchen, kein
Behandlungszentrum. Zu mir in die Praxis sind es vom Zentrum aus zehn
Minuten, der 3er Bus hält direkt am Tanneplatz, er bedient ganz Ulm, ein
Fahrschein kostet 2 Euro, die übernehme ich auch schon mal, wenn einer ganz
knapp ist.
Ulm ist eine Stadt mit 125.000 Einwohnern, mit Uni-Klinik,
Bundeswehrkrankenhaus und etwa 700 Ärzten. Davon hatte ich 30 bis 40
angesprochen, und auf die verteilt sich seither die Zahl derjenigen, die in
Not sind. Sie laufen nebenbei in der Praxis einfach mit, bekommen ihre
Untersuchung, ihr Medikament aus dem Musterschrank, oder wenn einer halt
das Geld nicht hat, auch eine Impfung. Meistens kann geholfen werden. Um
ihre Anonymität zu wahren, bekommen sie eine Karteikarte als Privatpatient,
werden mit Nummern geführt oder mit einem Kodenamen. So ein Ärztenetz, das
ist das Einfachste und Eleganteste. Es gibt keine Verträge, keine
Unterschriften, wir machen das einfach.
Wir brauchen kein Gebäude, keine Rechnungen, keine Betriebskosten, keine
Bürokratie, keine Homepage, nichts!
## Absolut unabhängig
Wir haben kein Budget, wir brauchen auch keine Spenden, wir nehmen kein
Geld, weil wir keins brauchen! Wir sind absolut unabhängig, da lege ich
großen Wert drauf. Es gab gleich Ärger mit der Ärztekammer. Man hat mir
Probleme gemacht, da war ein Fall, gleich zu Anfang der Armenklinik. Eine
Frau um die 70 mit Augenverletzung durch eine Hundekralle, hat keine
Krankenversicherung, ihr verstorbener Mann war Landwirt, Landwirte waren
oft nicht versichert. Ich habe sie kostenlos behandelt und es der
Ärztekammer gemeldet, und die hat mich angewiesen, der Frau eine Rechnung
zu schreiben. Und im Fall weiterer kostenloser Behandlung und öffentlicher
Benennung der Armenklinik drohte man mir mit einem Strafverfahren. So etwas
kann eine höhere Geldbuße oder sogar der Verlust der Approbation sein. Es
war also eine deutliche Warnung. Man hat mir auch vorgeworfen, dass bei
kostenloser Behandlung die Leute sich um die Praxisgebühr drücken. Aber
inzwischen hat sich das alles beruhigt.
Wir können arbeiten. Die ärztlichen Helfer kommen aus allen Fachgebieten
bis hin zur Psychiatrie. 60 Prozent Männer, 40 Prozent Frauen. Und wir
haben MediNet, ein Netzwerk, wo Medizinstudenten eine medizinische
Beratungs-und Vermittlungsstelle für illegale Menschen ohne Papiere und
Obdachlose betreiben, sie wurde vor drei Jahren gegründet. Grade heute gab
es einen urologischen Fall, einen Obdachlosen mit Blut im Urin. Wir können
innerhalb von Minuten kooperieren, ich habe den Urologen gebeten: Guck dir
den bitte mal an. Und er sagte: Schick ihn rüber. So funktioniert die
Klinik, sozusagen wie eine Poliklinik, das ist einfach fantastisch!
Etwas schwieriger wird es, wenn einer ins Krankenhaus muss. Doch selbst da
haben wir kooperierende Chefärzte im Notfall, aber etwas weiter weg, denn
die Stadt Ulm selbst hat keine städtischen Krankenhäuser mehr, die sind
alle geschlossen oder aufgekauft.
## Versichert und trotzdem unterversorgt
Wie gesagt, die Obdachlosen sind nicht unsere Hauptproblem. Wir haben
verschiedene Gruppen von Patienten, die eine, die war versichert, ist in
Hartz IV reingeraten und kann nun ihre Heilmittel, Hilfsmittel, Medikamente
nicht mehr zahlen. Die andere, die Minderheit, ist nicht versichert, obwohl
mir die Politiker immer sagen, das gibt es nicht, heute sind alle
versichert! Das geht vom Obdachlosen über den Illegalen bis hin zum
Selbstständigen beziehungsweise zum ehemals Selbstständigen. Spürbar
zugenommen aber hat die Zahl der Patienten, die zwar versichert sind,
aufgrund der Gesetzeslage aber nichts mehr kriegen und die Kosten nicht
selbst tragen können. Und da springen dann wir ein.
Ein Beispiel hierfür sind Sehhilfen. Es gibt keinen über 60, der keine
Brille braucht, die muss er sich aber selbst kaufen. Wer das nicht kann,
muss sich ohne Brille zurechtfinden. Wer größere Probleme hat, bräuchte
spezielle Gläser, und wenn die nicht mehr ausreichen, medizinische
Kontaktlinsen, damit er sich selbstständig versorgen, ein Kraftfahrzeug
führen oder einer Arbeit nachgehen kann. Solche Sehhilfen aber sind teuer.
Allein für eine Mehrstärkenbrille ist da ein Durchschnittspreis ab 300 Euro
schnell erreicht. Diese Summe aber kann ein Hartz-IV-Empfänger gar nicht
aufbringen aus ’gesparten Rücklagen‘, wie es so schön heißt. Er bekommt
auch keinen Kredit bewilligt vom Amt für diesen Zweck. Und es gibt kein
Geld aus dem Sozialetat, das ist bei der gesetzlichen Regelung extra so
bestimmt worden. Wenn er versucht, sich das Geld irgendwie zu verdienen,
wird es ihm gleich wieder von seinem Hartz-IV-Satz abgezogen.
Ohne solche Sehhilfen aber kann er seinen Alltag oft nur mühsam bewältigen,
und er wird sich nie aus seiner prekären Lage befreien können. Bei uns ist
jetzt ein Patient mit 40 Dioptrien, der nicht mehr Auto fahren kann und
erblindet. Wenn er mit Spezialkontaktlinsen versorgt werden könnte, wäre
das für ihn eine wunderbare Erleichterung, aber die Hilfsmittelrichtlinien
lassen das nicht zu.
## Bis zum Suizid
Das Problem des immer schlechter werdenden Sehvermögens betrifft natürlich
sehr viele alte Menschen. Das kann bei manchen Betroffenen bis zum Suizid
gehen. Die Angst zu erblinden ist stärker als die Angst vor dem Tod. Aber
auch die junge, alleinerziehende Mutter ist betroffen, die dem Kind keine
Brille kaufen kann. Die Kasse zahlt ihr nur 40 Euro, da muss sie dann 80
bis 100 Euro drauflegen. Aber die hat sie oft nicht.
Oder ein etwas extremerer Fall: Einem blinden Baby mit 18 Dioptrien, dem
kann mit Kontaktlinsen dabei geholfen werden, sich normal zu entwickeln.
Das war immer mein Anliegen, Star-Kinder mit Kontaktlinsen lebenstüchtig zu
machen für Ausbildung und Führerschein. Das Baby bleibt entweder blind,
ohne Versorgung mit Kontaktlinsen, oder es wird sehen. Dazu brauche ich
aber 600 Euro. Ich muss die Linsen in der Schweiz nach Maß anfertigen
lassen, weil bei uns die Firmen alle eingegangen sind. Die Kasse hat aber
nur einen Preis von 80 Euro festgelegt, und auch um die muss ich kämpfen!
Oder Kinder mit progressiver Kurzsichtigkeit, die im Jahr um zwei, drei,
vier Dioptrien ansteigt, darauf bin ich spezialisiert, habe eigene, sehr
hilfreiche Verfahren entwickelt, die zahlt aber die Kasse nicht mehr.
Diese Fälle haben extrem zugenommen. Es gibt lange Reihen von Reformen und
Gesetzesänderungen mit immer massiveren Einschnitten. Das geht so seit dem
’Kostendämpfungsgesetz‘ von 1977. Das waren noch Zeiten, als die
Krankenkassen die Kosten für eine Sehhilfe zu einem Festpreis übernommen
haben, wenn eine medizinische Indikation vorlag. Seit 2009 zahlen die
Kassen aber nur dann noch eine Brille oder Kontaktlinse, wenn der Patient,
trotz der Sehhilfe, nicht mehr als 30 Prozent auf dem bestkorrigierten Auge
erreicht. Also das bessere Auge muss schlechter als 30 Prozent sein, und
zwar mit Sehhilfe, sonst wird nichts bezahlt.
Man begründet das mit den Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses
über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertraglichen Versorgung
(Hilfsmittel-Richtlinie/HilfsM-RL). Und was besonders hirnrissig ist, das
alles verdankt sich einer falschen Übersetzung der WHO-Richtlinie, man
machte den Fehler, ’Sehschärfe‘ mit ’Sehleistung‘ zu verwechseln. Obwo…
das bekannt ist, rückt man nicht ab.
## Ein kleiner Sehrest
Auf meine Frage, was man unter „blind“ genau zu verstehen hat, erklärt er:
„ ’Blind‘ wird in Deutschland definiert als ’blind im Sinne des Gesetze…
das heißt, ein kleiner Sehrest wird noch akzeptiert. Und da können nur noch
Kontaktlinsen helfen. Das sind aber nicht diese Kontaktlinse für jedermann,
die sind eigentlich nur ein Abfallprodukt der medizinischen Kontaktlinse,
und die wurde erfunden für Blinde! Die augenärztliche Kontaktlinse setzt
dort ein, wo die Brille versagt. Wichtiger Satz! Und die kostet dann
maßangefertigt eben 600 Euro. Eine Brille kann man nicht in jeder
x-beliebigen Stärke machen, bei zehn Dioptrien ist das Ende erreicht.
Es stellt sich die Frage, ob es mit geltendem Recht vereinbar ist, dass
Sehbehinderten und fast Blinden nur dann eine Sehhilfe auf Kosten der
Versichertengemeinschaft zusteht, wenn mit dieser Sehhilfe auf dem besseren
Auge keine bessere Sehschärfe als 0.3 erreicht wird. Es widerspricht
Paragraf 1, SGB I, denn ein Mensch, der nur 30 Prozent seiner Sehkraft
nutzen darf, weil die Kasse dann nicht mehr zahlt und er sich mehr Sehkraft
finanziell nicht leisten kann, wird in der freien Entfaltung der
Persönlichkeit und in der selbstbestimmten Sicherung des Lebensunterhalts
gehindert. Und es verstößt ganz besonders gegen das Grundgesetz, Art. 3,
Abs. 3, Satz 2, er wurde erst 1994 hinzugefügt: ’Niemand darf wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden.‘ Die Verweigerung elementarer, notweniger
Hilfsmittel mit Verweis auf ’Richtlinien‘, die widerspricht jedem
Rechtsverständnis. Also ich als Arzt, ich schäme mich doch, meinem
Patienten nur 30 Prozent Sehkraft zu geben, und zwar aus Kostengründen,
wenn ich ihm 50 Prozent geben kann!
## 50 Prozent Sehfähigkeit für 600 Euro
Beispiel: Ein 34-jähriger Automechaniker entwickelte aus familiärer
Disposition heraus eine hochgradige Kurzsichtigkeit von beiderseits ca. 35
Dioptrien. Ohne Sehhilfe war er sozusagen völlig blind. Er wurde mir von
der Universitätsklinik zur Anpassung einer Kontaktlinse geschickt. Diese
Speziallinse wurde von mir errechnet, hergestellt und angepasst und konnte
erfolgreich getragen werden. Die Krankenkasse jedoch lehnte nach einem
kostenaufwendigen mehrmonatigen Prüfverfahren die Kostenübernahme
vollständig ab. Begründung: Der Patient sieht mit dieser Kontaktlinse jetzt
50 Prozent. Nach der Richtlinie muss er diese Kontaktlinsen im Wert von 600
Euro selber bezahlen. Das konnte er nicht, weil arbeitslos. Hätte ich ihm
die Linsen jetzt wieder wegnehmen sollen? Die wenigsten meiner Patienten
können das zahlen. In der Armenklinik keiner!
Rein theoretisch bezahlen die Kassen nach Voranschlag auch mal höhere
Summen, zuvor aber findet eben ein kostenintensives Prüfverfahren statt
durch den MDK [Medizinischen Dienst der Kassen] oder durch private
Institutionen. Ich habe es oft erlebt, dass aus den verschiedensten Gründen
abgelehnt wird, einmal ist die Krankheit angeblich ’nicht bekannt‘, oder
die Diagnose ist so nicht aufgelistet. Die Privaten lehnen meine
Kontaktlinsen grundsätzlich ab, mangels Sachkunde. Sie sagen, ein Baby
braucht keine Kontaktlinse, davon hätten sie noch nie gehört.
ber was die Kassen allein an private Prüfinstitutionen zahlen, damit könnte
man schon viele Patienten ordentlich mit Brillen und Kontaktlinsen
versorgen. Andererseits wird eine kostspielige Hornhauttransplantation und
die aufwendige Nachbehandlung von der Kasse generell bezahlt. Die Kliniken
allerdings schieben dann die Patienten schnellstmöglich in die Praxen ab,
doch die wollen sie auch nicht, weil die teure Behandlung mit hochdosiertem
Kortison das Medikamentenbudget schnell unterläuft.
## Sehbehinderung als Befindlichkeitsstörung
Beispiel: Eine Korbflechterin, fast blind, sie hat ein sehr seltenes
erbliches Missbildungssyndrom und braucht monatlich für 25 bis 50 Euro
Medikamente, spezielle Benetzungstropfen. Die Kasse hat abgelehnt, sie
kennt die Krankheit nicht, sie zahlt nicht für ’Befindlichkeitsstörungen‘.
Wortwörtlich! Das Wort ist übrigens eine Kreation von Ulla Schmidt aus
ihrer Zeit als Bundesgesundheitsministerin. Ich habe denen eine Reihe von
wissenschaftliche Arbeiten zu dieser Krankheit unter die Nase gehalten und
mit dem ZDF gedroht, erst dann haben sie gebeten, ich soll die Gosch’
halten, und haben es übernommen.
Das ist auch Armenklinik. Dass wir nämlich nicht still und demütig unsere
Hilfe leisten wollen, sondern protestieren und den Politikern und den
Kassen auf die Füße treten, wo es nur geht. Die Kassen legen sich gern
quer. Ich hatte mal einen Fall – ist allerdings Jahre her –, da wollte die
DAK Neu-Ulm einem blinden Kind den Blindenstock nicht zahlen. Aber sogar
wenn’s um Tod und Leben geht, bestehen sie auf die Einhaltung ihrer
Vorgaben. Mir ist zum Beispiel Folgendes passiert: Ich habe eine
Reanimation durchgeführt nach einer Rauchvergiftung in einer brennenden
Wohnung, habe den Patienten zurückgeholt, und zwar noch bevor der
Rettungshubschrauber kam. Das hätte ich nicht tun sollen. Denn ich habe
unberechtigterweise ein Medikament verabreicht. Es kostet 40 Euro. Das war
eine Reanimation auf Kosten der Kasse, so die AOK Ulm, und außerdem wäre
ich zur Verabreichung gar nicht berechtigt. Ist nicht mein Metier. Der
Notarzt hätte es machen müssen.
## Zahlung nur unter Druck
Und es gab auch den Fall einer Brustkrebspatientin, die Klinik hatte die OP
abgelehnt, weil die Kasse nicht bezahlen wollte, denn die Frau war in
Insolvenz gegangen, war depressiv und hatte irgendwie nur noch unregelmäßig
eingezahlt. Sie war suizidal, und ich bin dann erst mal in Bürgschaft
gegangen mit 30.000 Euro für die Operation, denn es musste ganz schnell
gehen. Und es ist dann am Ende gelungen, aber nur unter dem Druck der
Presse, dass die Kasse, alle Kosten übernommen hat.
Und es betrifft auch Schwerkranke, es gibt zum Beispiel eine starke
Verschlechterung der Versorgung von Aidsfällen und
Multiple-Sklerose-Kranken, das kommt durch die Budgetierung, durch
Medikamentenbudgets und die Einführung des ’Regelleistungsvolumens‘ als
Quartalspauschale. Ich darf momentan pro Patient nur knapp 8 Euro an
Medikamenten im Quartal ausgeben. Liege ich drüber, kann ich in Regress
genommen werden. Aids- und MS-Patienten haben aber monatlich meist um die
1.000 Euro an Medikamentenkosten. Die Kasse zahlt einen Fallwert, zum
Beispiel für so eine leichte Sache wie eine Bindehautentzündung knapp 20
Euro. Aber die gleiche Summe zahlt sie auch für MS- und Aids-Patienten, die
zwölfmal im Jahr versorgt werden müssen.
Das führt dazu, dass keiner sie eigentlich mehr behandeln will. Also genau
dann, wenn der Patient sehr krank ist und den Arzt dringend braucht. Laut
Presse lehnen sogar Kliniken die stationäre Aufnahme Schwerstkranker ab,
weil die Behandlungskosten nicht durch die Budgets abgedeckt werden. Das
ist doch nicht hinnehmbar!
## Moderne Form der Barbarei
Ich sehe als Arzt in meiner Praxis seit Jahren, wie sich die
Hilfsmittelrichtlinien verschärfen. Ich sehe, wie Hilfsmittel gekappt
werden und wie gleichzeitig der Mittelstand kippt in die Bedürftigkeit,
viele Leute können sich ihren Zahnersatz, ihre Brillen nicht mehr leisten.
Es gibt zum Beispiel die pensionierte Beamtin, die Dame im Altersheim, die
monatlich 5.000 Euro für Unterbringung und Pflege zahlt, ihr bleiben aber
nur 40 Euro Taschengeld. Davon kann sie sich keine Brille kaufen, und dann
kann sie nicht lesen oder nicht fernsehen. Und genauso geht es der
Sozialrentnerin im Zimmer nebenan. Keine Brille im 21. Jahrhundert! Das ist
die moderne Form der Barbarei. Ich habe zwar eine Brillensammlung, daraus
kann ich für die Armenklinik nehmen, was ich brauche, wenn es da ist. Es
sind auch Optiker dabei, die mal helfen, Gläser wechseln usw. Aber das ist
doch kein Zustand auf Dauer!
Ich habe auch früher schon Brillen gesammelt, zu Brillenspenden aufgerufen,
aber die waren für China, für Indien! 1982 sind 30.000 Brillen nach Afrika
gegangen, nach Kenia, wo ein Onkel Missionar war. Heute, seit der Änderung,
da gehe ich betteln und sammle die Brillen für Deutschland! Die erste kam
schon zurück aus Afrika. Aus der Missionsstation. Es gibt inzwischen Länder
in der Dritten Welt, da kommen Sie leichter zu einer Brille als bei uns.
## Medizinischer Fortschritt für alle
Wir haben heute, das macht den Mangel besonders beschämend, eine
Spitzentechnik zur Verbesserung der Sehschärfe, auch für den extremsten
Fall kann etwas getan werden. Aber wem nutzt dieser medizinische
Fortschritt denn? Der medizinische Fortschritt muss für alle da sein, es
geht nicht, dass Patienten ohne Geld ins Mittelalter zurückfallen, während
jemand, der ein gutes Einkommen oder Vermögen zur Verfügung hat, sich eine
Therapie gegen seine fortschreitende Erblindung kaufen kann.
Wir müssen es erreichen in der Politik, dass unsere Staatssekretäre und
unsere Minister kapieren, was sie mit solchen Richtlinien anrichten. Aber
ab einer bestimmten Besoldungsgruppe ist anscheinend das eigenmächtige
Denken erschlafft. Das liegt sicher auch daran, dass es gar keine Berührung
mehr gibt mit der Realität. Nein, falsch, es ist noch schlimmer: Sie wissen
genau, was sie tun. Ich habe einen Herrn Seehofer, eine Frau Schavan x-mal
auf die Probleme aufmerksam gemacht. Ich habe Frau Schavan eine Liste
geschickt mit beispielhaften Fällen. Aber es interessiert sie nicht! Trotz
meiner politischen Kämpfe seit 2008 hat die jetzt nochmals überarbeitete
Hilfsmittelrichtline, rechtskräftig ab 3. April 2012, keinerlei Veränderung
bezüglich einer Kostenübernahme für Sehhilfen gebracht. Und das hat einfach
System.
Arglistig werden Gesetze oder Gesetzeslücken erdacht mit dem einzigen
Hintersinn, Kosten zu sparen beziehungsweise Geld anzuhäufen für andere
Zwecke, auf Kosten des Sozialen, auf Kosten der Gesundheit. Es ist
skandalös, dass Politiker – ich sag’s mal so – aus niedrigen Beweggründ…
Patienten in die Armut treiben und ihnen dann auch noch die Hilfsmittel
verweigern. Am Ende wird’s doch nur noch teurer. Wenigstens wurde jetzt zum
1. Januar die Praxisgebühr abgeschafft. Das war ja auch so eine hirnrissige
Idee, die Verwaltungsgebühr für die 10 Euro betrug 9,20 Euro.“
28 Jan 2013
## AUTOREN
Gabriele Goettle
## TAGS
Gesundheitspolitik
Gesundheit
Blinde Menschen
Bundesärztekammer
Gabriele Goettle
Steuern
Greenpeace
Gabriele Goettle
Gabriele Goettle
## ARTIKEL ZUM THEMA
Poliklinik im Hamburger Armenstadtteil: „Die Umstände machen krank“
Auf der Hamburger Veddel hat ein Kollektiv ein Gesundheitszentrum
gegründet, das nicht nur Symptome behandeln, sondern auch die Ursachen
angehen will.
Sportereignisse blind erleben: Das Gefühl, den Ball zu sehen
Angebote für Blinde gibt es abseits vom Fußball nur selten.
Goalball-Nationalspieler Stefan Hawranke nennt Möglichkeiten und
Beschränkungen.
Gesundheit neu gedacht: Die Hoffnung stirbt zuletzt
„Wir hatten die Vision einer besseren Medizin“, erinnert sich Dr. Ellis
Huber, Ärztekammerpräsident a.D. Unsere Autorin hat ihn in Berlin
getroffen.
Geschichte der Gesundheitsbewegung: Autonomie und Sterbehilfe
Der Medizinhistoriker Gerhard Baader hat die NS-Euthanasie erforscht. Die
heutigen Debatten um Bioethik und Sterbehilfe sieht er als Gefahr.
Rentner klagt gegen Steuernachteile: Vor dem Gesetz
Herr Morgan rechnet ein umstrittenes Instrument im Steuerrecht nach: Was
hat es mit der „typisierenden Betrachtung“ nach Bert Rürup auf sich?
Folgen von Fukushima: Spielplatz radioaktiv verstrahlt
Zwei Jahre nach der Reaktorkatastrophe ist die Bevölkerung Fukushimas immer
noch hoher radioaktiver Strahlungen ausgesetzt – unter anderem auf dem
Spielplatz.
Kritikerin des Gesundheitswesens: Geld oder Leben
Ein Gespräch über die Demontage unseres Gesundheitssystems: Die Kritikerin
Renate Hartwig erzählt. Fortsetzung von Teil I.
Kritikerin des Gesundheitswesens: Kranke Kassen
Das Gesundheitswesen ist ein aufgeblähter Kosmos voller Dienstleister, eine
Megabürokratie der Kassen. Eine Kritikerin erzählt.
Sozialarbeiterin in Berliner Problembezirk: Manchmal wird es intimer
Der Schwerpunkt ist das Baby, aber dabei bleibt es nicht: Frau Scholz
betreut beim Jugendgesundheitsdienst Berlin seit 20 Jahren Kinder,
Jugendliche und Erwachsene.
Trödelhändler in Spandau: Vom Wert des Gerümpels
Trödelmanne in Berlin-Spandau ist seit bald 20 Jahren im Geschäft. Was er
von Kunden, Kollegen, der Jugend und der Welt hält, erzählt er laut
lachend.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.