# taz.de -- Augenarzt mit sozialer Vision: Brillen für Deutschland | |
> Dr. Roth erzählt von der verordneten Armut – und von seiner Armenklinik, | |
> die Menschen hilft, denen keine Krankenkasse beisteht. | |
Bild: Notwendiges Hilfsmittel und dabei sehr teuer: die Brille | |
Kürzlich erfuhr ich von einem Augenarzt in Ulm, der eine Armenklinik unter | |
anderem für abgesunkene Mittelstandsbürger gegründet haben soll, und das im | |
reichsten Bundesland Deutschlands, in Baden-Württemberg. Dieser | |
Angelegenheit wollte ich nachgehen. | |
Dr. Roth trägt gern Fliege und bewohnt in der Ulmer Vorstadt Wiblingen, | |
zusammen mit seiner Frau, zwei Hunden und einer weißen Katze, ein Häuschen | |
in einer Eigenheimsiedlung am Wald. Seine Praxis liegt nur vier Minuten | |
entfernt im benachbarten Wohngebiet. Es entstand in den 70er Jahren, mit | |
großen Wohnblöcken, Mehrfamilienhäusern und Schulzentrum, und war damals | |
eine moderne Schlafstadt. Inzwischen sind viele Gebäude und Spielplätze | |
etwas heruntergekommen. Auf die Frage, weshalb er sich hier damals | |
niedergelassen hat mit seiner Praxis, sagt er: | |
„Ich habe mich ganz bewusst dazu entschieden, nach Wiblingen zu ziehen. Die | |
Siedlung war von Anfang an sehr stark sozial durchsetzt. Heute sind 80 | |
Prozent der Bewohner Migranten, Spätaussiedler. 20.000 Menschen aus 110 | |
verschiedenen Nationen. Ich war Oberarzt und wollte eigentlich an der | |
Uni-Klinik bleiben, dann ist aber meine Frau plötzlich ums Leben gekommen, | |
ich war mit drei kleinen Kindern allein. In dieser neuen Siedlung gab es | |
eine Aufgabe für mich, es gab einen Kindergarten, eine Schule, alles an | |
einem Ort. | |
1982 habe ich meine Praxis in Wiblingen eröffnet, zuerst in meinem Haus, | |
dann im Neubau beim Tannenplatz. Ich war der erste Arzt überhaupt. Hier | |
wollte keiner hin. Also da lebt nicht gerade der Privatpatient! Ich war so | |
eine Art Pionier. Heute gibt es hier sogar ein Ärztezentrum. | |
Ich war 25 Jahre lang ein ganz klassischer Hausaugenarzt, habe nicht mal | |
operiert. Und ich habe vom ersten Tag an in meiner Praxis immer auch Leute | |
ohne Papiere oder Versicherung kostenlos mitbehandelt. Später kamen – auf | |
Einladung von Privatleuten – auch Patienten aus dem Ausland dazu, zum | |
Beispiel Kinder aus Tschernobyl. Das war etwa fünf Jahre nach der | |
Reaktorkatastrophe. Sie hatten strahlenbedingte Augenschäden wie | |
angeborenen grauen Star, und noch häufiger war die maligne Myopie, eine | |
exzessive fortschreitende Kurzsichtigkeit – mit alldem muss man in Japan | |
nach Fukushima auch rechnen. Aber wenn im eigenen Land keiner was machen | |
kann, wie im Fall Tschernobyl, dann ist es ja noch schlimmer. Für ein | |
ehemaliges Tschernobyl-Kind, inzwischen selbst Mutter, Katarakt mit 16 | |
Dioptrien, da stiften wir immer noch die Kontaktlinsen. | |
## Kriegsverletzte Kinder | |
Und Ende der 90er Jahre kamen dann kriegsverletzte Kinder aus dem Kosovo. | |
Und weil dann aber die Zahl unserer eigenen Kassenpatienten, die infolge | |
der Gesundheitsreform nicht mehr angemessen versorgt wurden, mit der Zeit | |
immer größer wurde, habe ich dann 2009 die Armenklinik gegründet. Das wurde | |
natürlich nicht gern gesehen. Also, ich unterscheide da nicht beim | |
humanitären Einsatz, ich helfe auch unseren eigenen Menschen, wenn die in | |
Not sind.“ Er lacht sarkastisch. | |
„Inzwischen hat sich bei mir einiges geändert. Vor vier Jahren, ich war 63, | |
habe ich meine Praxis aufgegeben. Nicht freiwillig übrigens. Der Grund war | |
der Gesetzgeber. Die Zahl der Ärzte in Baden-Württemberg sollte reduziert | |
werden, ab 63 wurde man aufgefordert, in Rente zu gehen. Wer sich weigerte, | |
der wurde runterbudgetiert auf nur noch ein Viertel des Umsatzes, von der | |
Kasse her. Ich habe noch drei Monate weitergemacht, dann musste ich’s | |
hinwerfen und habe grade noch knapp erreicht, dass junge Kollegen mit einer | |
Tagesklinik die Zulassung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) übernehmen | |
konnten, denn meine Praxis sollte ja geschlossen werden. Die KV musste dem | |
Verkauf zustimmen. Das wäre heute gar nicht mehr möglich. | |
Nach den gesetzlichen Richtlinien vom Mai vorigen Jahres – von der CDU | |
mitgetragen übrigens – hat die KV das Vorkaufsrecht. Und das Problem ist, | |
dass Herr Lauterbach, der SPD-Gesundheitspolitiker, der sich für die | |
Ökonomisierung des Gesundheitswesens so ins Zeug legt, die Praxen | |
mittlerweile aufkauft. Die KV schiebt sie ihm zu. Die werden dann sozusagen | |
privatisiert, gehen in medizinische Konsortien über. Genau das, was er im | |
Bundestag durchgebracht hat. Er gibt sich immer so leutselig, aber der ist | |
knallhart!!! Er macht Millionen mit ’seiner‘ Rhön-Klinik, war ja Gründer | |
auch, sitzt im Vorstand und hat seine Finger überall drin, auch in den | |
Kassen. Das Rhön-Klinikum hat zum Beispiel für die Barmer Ersatzkasse den | |
Chef gestellt. Aber das ist jetzt ein anderes Thema … Die kleine | |
Abschweifung jedenfalls zeigt ihnen einen Aspekt unseres Gesundheitssystems | |
in Auflösung. | |
## Ganz bürgerliche Leute im Bankrott | |
Ich hatte, wie gesagt, noch Glück. Habe mit den jungen Kollegen, die meine | |
Praxis übernommen haben, eine Übereinkunft getroffen: Ich helfe denen ein | |
bisschen – mein Spezialgebiet sind ja Kontaktlinsen bei verschiedenen | |
Sehbehinderungen und sehbehinderte Kinder –, und ich kann dafür einen Raum | |
benutzen und die Geräte für meine Armenklinik-Patienten. Ich mache im | |
Moment 20 Wochenstunden Sprechstunde. In der Zeit kann ich auch die | |
’Sozialfälle‘ in der Praxis versorgen. Die laufen einfach unauffällig mit… | |
Ich frage, wie das denn möglich ist, wo es sich doch wohl um eher | |
auffällige Patienten handelt. „Sehen Sie, die sind gar nicht auffällig – | |
und selbst wenn?! Aber Obdachlose werden hier in der Regel übers Rote Kreuz | |
versorgt. | |
Inzwischen sind ganz andere Leute von Armut betroffen, die haben nicht | |
jahrelang auf der Straße gelebt, das sind ganz bürgerliche Leute, die | |
sauber gearbeitet haben und dann plötzlich arbeitslos wurden oder bankrott | |
gegangen sind. Die also ganz normal gelebt haben und dann abgestürzt sind, | |
zum Beispiel in Hartz IV. Völlig normal treten die auf. Das geht vom | |
ehemals Selbstständigen bis hin zum Akademiker. Einer ist ein ehemaliger | |
Lehrer, der seine Medikamente nicht mehr zahlen kann. Die Frau hatte Krebs, | |
und sie haben, nachdem nichts mehr half, Chemo gemacht mit ausländischen | |
Ärzten, Akupunktur usw., er ist dabei ausgenommen worden. Das ganze Geld | |
war weg. Und nun kriegte er den grünen Star, die Kasse verlangt soundso | |
viel Selbstzahlung, was er nicht kann. Er kommt regelmäßig sehr gepflegt | |
mit Anzug und Krawatte in die Praxis und bekommt von mir kostenlos seine | |
Tropfen. | |
## Absolut unabhängig | |
Jetzt komme ich zur Armenklinik. Anfangs schwebte mir so ein Modell vor, | |
wie ich es aus den USA kannte, also ein Zentrum in einem Gebäude, in dem | |
arme Leute kostenlos medizinisch versorgt und auch mal stationär betreut | |
werden können. Wir wollten die leer stehende Pionierkaserne nutzen. Das | |
Projekt hat sich dann aber zerschlagen und vollkommen dezentral entwickelt. | |
Wobei der Begriff Armenklinik beibehalten wurde, weil er schon bekannt war. | |
Ich hatte einige Ärztekollegen im ganzen Stadtgebiet angesprochen, ob sie | |
bereit sind, ab und zu arme Patienten kostenlos zu behandeln, und die waren | |
sofort dabei. Ich koordiniere das Ganze ja. Es hat sich bald | |
herausgestellt, dass wir gar keine stationäre Sache brauchen, kein | |
Behandlungszentrum. Zu mir in die Praxis sind es vom Zentrum aus zehn | |
Minuten, der 3er Bus hält direkt am Tanneplatz, er bedient ganz Ulm, ein | |
Fahrschein kostet 2 Euro, die übernehme ich auch schon mal, wenn einer ganz | |
knapp ist. | |
Ulm ist eine Stadt mit 125.000 Einwohnern, mit Uni-Klinik, | |
Bundeswehrkrankenhaus und etwa 700 Ärzten. Davon hatte ich 30 bis 40 | |
angesprochen, und auf die verteilt sich seither die Zahl derjenigen, die in | |
Not sind. Sie laufen nebenbei in der Praxis einfach mit, bekommen ihre | |
Untersuchung, ihr Medikament aus dem Musterschrank, oder wenn einer halt | |
das Geld nicht hat, auch eine Impfung. Meistens kann geholfen werden. Um | |
ihre Anonymität zu wahren, bekommen sie eine Karteikarte als Privatpatient, | |
werden mit Nummern geführt oder mit einem Kodenamen. So ein Ärztenetz, das | |
ist das Einfachste und Eleganteste. Es gibt keine Verträge, keine | |
Unterschriften, wir machen das einfach. | |
Wir brauchen kein Gebäude, keine Rechnungen, keine Betriebskosten, keine | |
Bürokratie, keine Homepage, nichts! | |
## Absolut unabhängig | |
Wir haben kein Budget, wir brauchen auch keine Spenden, wir nehmen kein | |
Geld, weil wir keins brauchen! Wir sind absolut unabhängig, da lege ich | |
großen Wert drauf. Es gab gleich Ärger mit der Ärztekammer. Man hat mir | |
Probleme gemacht, da war ein Fall, gleich zu Anfang der Armenklinik. Eine | |
Frau um die 70 mit Augenverletzung durch eine Hundekralle, hat keine | |
Krankenversicherung, ihr verstorbener Mann war Landwirt, Landwirte waren | |
oft nicht versichert. Ich habe sie kostenlos behandelt und es der | |
Ärztekammer gemeldet, und die hat mich angewiesen, der Frau eine Rechnung | |
zu schreiben. Und im Fall weiterer kostenloser Behandlung und öffentlicher | |
Benennung der Armenklinik drohte man mir mit einem Strafverfahren. So etwas | |
kann eine höhere Geldbuße oder sogar der Verlust der Approbation sein. Es | |
war also eine deutliche Warnung. Man hat mir auch vorgeworfen, dass bei | |
kostenloser Behandlung die Leute sich um die Praxisgebühr drücken. Aber | |
inzwischen hat sich das alles beruhigt. | |
Wir können arbeiten. Die ärztlichen Helfer kommen aus allen Fachgebieten | |
bis hin zur Psychiatrie. 60 Prozent Männer, 40 Prozent Frauen. Und wir | |
haben MediNet, ein Netzwerk, wo Medizinstudenten eine medizinische | |
Beratungs-und Vermittlungsstelle für illegale Menschen ohne Papiere und | |
Obdachlose betreiben, sie wurde vor drei Jahren gegründet. Grade heute gab | |
es einen urologischen Fall, einen Obdachlosen mit Blut im Urin. Wir können | |
innerhalb von Minuten kooperieren, ich habe den Urologen gebeten: Guck dir | |
den bitte mal an. Und er sagte: Schick ihn rüber. So funktioniert die | |
Klinik, sozusagen wie eine Poliklinik, das ist einfach fantastisch! | |
Etwas schwieriger wird es, wenn einer ins Krankenhaus muss. Doch selbst da | |
haben wir kooperierende Chefärzte im Notfall, aber etwas weiter weg, denn | |
die Stadt Ulm selbst hat keine städtischen Krankenhäuser mehr, die sind | |
alle geschlossen oder aufgekauft. | |
## Versichert und trotzdem unterversorgt | |
Wie gesagt, die Obdachlosen sind nicht unsere Hauptproblem. Wir haben | |
verschiedene Gruppen von Patienten, die eine, die war versichert, ist in | |
Hartz IV reingeraten und kann nun ihre Heilmittel, Hilfsmittel, Medikamente | |
nicht mehr zahlen. Die andere, die Minderheit, ist nicht versichert, obwohl | |
mir die Politiker immer sagen, das gibt es nicht, heute sind alle | |
versichert! Das geht vom Obdachlosen über den Illegalen bis hin zum | |
Selbstständigen beziehungsweise zum ehemals Selbstständigen. Spürbar | |
zugenommen aber hat die Zahl der Patienten, die zwar versichert sind, | |
aufgrund der Gesetzeslage aber nichts mehr kriegen und die Kosten nicht | |
selbst tragen können. Und da springen dann wir ein. | |
Ein Beispiel hierfür sind Sehhilfen. Es gibt keinen über 60, der keine | |
Brille braucht, die muss er sich aber selbst kaufen. Wer das nicht kann, | |
muss sich ohne Brille zurechtfinden. Wer größere Probleme hat, bräuchte | |
spezielle Gläser, und wenn die nicht mehr ausreichen, medizinische | |
Kontaktlinsen, damit er sich selbstständig versorgen, ein Kraftfahrzeug | |
führen oder einer Arbeit nachgehen kann. Solche Sehhilfen aber sind teuer. | |
Allein für eine Mehrstärkenbrille ist da ein Durchschnittspreis ab 300 Euro | |
schnell erreicht. Diese Summe aber kann ein Hartz-IV-Empfänger gar nicht | |
aufbringen aus ’gesparten Rücklagen‘, wie es so schön heißt. Er bekommt | |
auch keinen Kredit bewilligt vom Amt für diesen Zweck. Und es gibt kein | |
Geld aus dem Sozialetat, das ist bei der gesetzlichen Regelung extra so | |
bestimmt worden. Wenn er versucht, sich das Geld irgendwie zu verdienen, | |
wird es ihm gleich wieder von seinem Hartz-IV-Satz abgezogen. | |
Ohne solche Sehhilfen aber kann er seinen Alltag oft nur mühsam bewältigen, | |
und er wird sich nie aus seiner prekären Lage befreien können. Bei uns ist | |
jetzt ein Patient mit 40 Dioptrien, der nicht mehr Auto fahren kann und | |
erblindet. Wenn er mit Spezialkontaktlinsen versorgt werden könnte, wäre | |
das für ihn eine wunderbare Erleichterung, aber die Hilfsmittelrichtlinien | |
lassen das nicht zu. | |
## Bis zum Suizid | |
Das Problem des immer schlechter werdenden Sehvermögens betrifft natürlich | |
sehr viele alte Menschen. Das kann bei manchen Betroffenen bis zum Suizid | |
gehen. Die Angst zu erblinden ist stärker als die Angst vor dem Tod. Aber | |
auch die junge, alleinerziehende Mutter ist betroffen, die dem Kind keine | |
Brille kaufen kann. Die Kasse zahlt ihr nur 40 Euro, da muss sie dann 80 | |
bis 100 Euro drauflegen. Aber die hat sie oft nicht. | |
Oder ein etwas extremerer Fall: Einem blinden Baby mit 18 Dioptrien, dem | |
kann mit Kontaktlinsen dabei geholfen werden, sich normal zu entwickeln. | |
Das war immer mein Anliegen, Star-Kinder mit Kontaktlinsen lebenstüchtig zu | |
machen für Ausbildung und Führerschein. Das Baby bleibt entweder blind, | |
ohne Versorgung mit Kontaktlinsen, oder es wird sehen. Dazu brauche ich | |
aber 600 Euro. Ich muss die Linsen in der Schweiz nach Maß anfertigen | |
lassen, weil bei uns die Firmen alle eingegangen sind. Die Kasse hat aber | |
nur einen Preis von 80 Euro festgelegt, und auch um die muss ich kämpfen! | |
Oder Kinder mit progressiver Kurzsichtigkeit, die im Jahr um zwei, drei, | |
vier Dioptrien ansteigt, darauf bin ich spezialisiert, habe eigene, sehr | |
hilfreiche Verfahren entwickelt, die zahlt aber die Kasse nicht mehr. | |
Diese Fälle haben extrem zugenommen. Es gibt lange Reihen von Reformen und | |
Gesetzesänderungen mit immer massiveren Einschnitten. Das geht so seit dem | |
’Kostendämpfungsgesetz‘ von 1977. Das waren noch Zeiten, als die | |
Krankenkassen die Kosten für eine Sehhilfe zu einem Festpreis übernommen | |
haben, wenn eine medizinische Indikation vorlag. Seit 2009 zahlen die | |
Kassen aber nur dann noch eine Brille oder Kontaktlinse, wenn der Patient, | |
trotz der Sehhilfe, nicht mehr als 30 Prozent auf dem bestkorrigierten Auge | |
erreicht. Also das bessere Auge muss schlechter als 30 Prozent sein, und | |
zwar mit Sehhilfe, sonst wird nichts bezahlt. | |
Man begründet das mit den Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses | |
über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertraglichen Versorgung | |
(Hilfsmittel-Richtlinie/HilfsM-RL). Und was besonders hirnrissig ist, das | |
alles verdankt sich einer falschen Übersetzung der WHO-Richtlinie, man | |
machte den Fehler, ’Sehschärfe‘ mit ’Sehleistung‘ zu verwechseln. Obwo… | |
das bekannt ist, rückt man nicht ab. | |
## Ein kleiner Sehrest | |
Auf meine Frage, was man unter „blind“ genau zu verstehen hat, erklärt er: | |
„ ’Blind‘ wird in Deutschland definiert als ’blind im Sinne des Gesetze… | |
das heißt, ein kleiner Sehrest wird noch akzeptiert. Und da können nur noch | |
Kontaktlinsen helfen. Das sind aber nicht diese Kontaktlinse für jedermann, | |
die sind eigentlich nur ein Abfallprodukt der medizinischen Kontaktlinse, | |
und die wurde erfunden für Blinde! Die augenärztliche Kontaktlinse setzt | |
dort ein, wo die Brille versagt. Wichtiger Satz! Und die kostet dann | |
maßangefertigt eben 600 Euro. Eine Brille kann man nicht in jeder | |
x-beliebigen Stärke machen, bei zehn Dioptrien ist das Ende erreicht. | |
Es stellt sich die Frage, ob es mit geltendem Recht vereinbar ist, dass | |
Sehbehinderten und fast Blinden nur dann eine Sehhilfe auf Kosten der | |
Versichertengemeinschaft zusteht, wenn mit dieser Sehhilfe auf dem besseren | |
Auge keine bessere Sehschärfe als 0.3 erreicht wird. Es widerspricht | |
Paragraf 1, SGB I, denn ein Mensch, der nur 30 Prozent seiner Sehkraft | |
nutzen darf, weil die Kasse dann nicht mehr zahlt und er sich mehr Sehkraft | |
finanziell nicht leisten kann, wird in der freien Entfaltung der | |
Persönlichkeit und in der selbstbestimmten Sicherung des Lebensunterhalts | |
gehindert. Und es verstößt ganz besonders gegen das Grundgesetz, Art. 3, | |
Abs. 3, Satz 2, er wurde erst 1994 hinzugefügt: ’Niemand darf wegen seiner | |
Behinderung benachteiligt werden.‘ Die Verweigerung elementarer, notweniger | |
Hilfsmittel mit Verweis auf ’Richtlinien‘, die widerspricht jedem | |
Rechtsverständnis. Also ich als Arzt, ich schäme mich doch, meinem | |
Patienten nur 30 Prozent Sehkraft zu geben, und zwar aus Kostengründen, | |
wenn ich ihm 50 Prozent geben kann! | |
## 50 Prozent Sehfähigkeit für 600 Euro | |
Beispiel: Ein 34-jähriger Automechaniker entwickelte aus familiärer | |
Disposition heraus eine hochgradige Kurzsichtigkeit von beiderseits ca. 35 | |
Dioptrien. Ohne Sehhilfe war er sozusagen völlig blind. Er wurde mir von | |
der Universitätsklinik zur Anpassung einer Kontaktlinse geschickt. Diese | |
Speziallinse wurde von mir errechnet, hergestellt und angepasst und konnte | |
erfolgreich getragen werden. Die Krankenkasse jedoch lehnte nach einem | |
kostenaufwendigen mehrmonatigen Prüfverfahren die Kostenübernahme | |
vollständig ab. Begründung: Der Patient sieht mit dieser Kontaktlinse jetzt | |
50 Prozent. Nach der Richtlinie muss er diese Kontaktlinsen im Wert von 600 | |
Euro selber bezahlen. Das konnte er nicht, weil arbeitslos. Hätte ich ihm | |
die Linsen jetzt wieder wegnehmen sollen? Die wenigsten meiner Patienten | |
können das zahlen. In der Armenklinik keiner! | |
Rein theoretisch bezahlen die Kassen nach Voranschlag auch mal höhere | |
Summen, zuvor aber findet eben ein kostenintensives Prüfverfahren statt | |
durch den MDK [Medizinischen Dienst der Kassen] oder durch private | |
Institutionen. Ich habe es oft erlebt, dass aus den verschiedensten Gründen | |
abgelehnt wird, einmal ist die Krankheit angeblich ’nicht bekannt‘, oder | |
die Diagnose ist so nicht aufgelistet. Die Privaten lehnen meine | |
Kontaktlinsen grundsätzlich ab, mangels Sachkunde. Sie sagen, ein Baby | |
braucht keine Kontaktlinse, davon hätten sie noch nie gehört. | |
ber was die Kassen allein an private Prüfinstitutionen zahlen, damit könnte | |
man schon viele Patienten ordentlich mit Brillen und Kontaktlinsen | |
versorgen. Andererseits wird eine kostspielige Hornhauttransplantation und | |
die aufwendige Nachbehandlung von der Kasse generell bezahlt. Die Kliniken | |
allerdings schieben dann die Patienten schnellstmöglich in die Praxen ab, | |
doch die wollen sie auch nicht, weil die teure Behandlung mit hochdosiertem | |
Kortison das Medikamentenbudget schnell unterläuft. | |
## Sehbehinderung als Befindlichkeitsstörung | |
Beispiel: Eine Korbflechterin, fast blind, sie hat ein sehr seltenes | |
erbliches Missbildungssyndrom und braucht monatlich für 25 bis 50 Euro | |
Medikamente, spezielle Benetzungstropfen. Die Kasse hat abgelehnt, sie | |
kennt die Krankheit nicht, sie zahlt nicht für ’Befindlichkeitsstörungen‘. | |
Wortwörtlich! Das Wort ist übrigens eine Kreation von Ulla Schmidt aus | |
ihrer Zeit als Bundesgesundheitsministerin. Ich habe denen eine Reihe von | |
wissenschaftliche Arbeiten zu dieser Krankheit unter die Nase gehalten und | |
mit dem ZDF gedroht, erst dann haben sie gebeten, ich soll die Gosch’ | |
halten, und haben es übernommen. | |
Das ist auch Armenklinik. Dass wir nämlich nicht still und demütig unsere | |
Hilfe leisten wollen, sondern protestieren und den Politikern und den | |
Kassen auf die Füße treten, wo es nur geht. Die Kassen legen sich gern | |
quer. Ich hatte mal einen Fall – ist allerdings Jahre her –, da wollte die | |
DAK Neu-Ulm einem blinden Kind den Blindenstock nicht zahlen. Aber sogar | |
wenn’s um Tod und Leben geht, bestehen sie auf die Einhaltung ihrer | |
Vorgaben. Mir ist zum Beispiel Folgendes passiert: Ich habe eine | |
Reanimation durchgeführt nach einer Rauchvergiftung in einer brennenden | |
Wohnung, habe den Patienten zurückgeholt, und zwar noch bevor der | |
Rettungshubschrauber kam. Das hätte ich nicht tun sollen. Denn ich habe | |
unberechtigterweise ein Medikament verabreicht. Es kostet 40 Euro. Das war | |
eine Reanimation auf Kosten der Kasse, so die AOK Ulm, und außerdem wäre | |
ich zur Verabreichung gar nicht berechtigt. Ist nicht mein Metier. Der | |
Notarzt hätte es machen müssen. | |
## Zahlung nur unter Druck | |
Und es gab auch den Fall einer Brustkrebspatientin, die Klinik hatte die OP | |
abgelehnt, weil die Kasse nicht bezahlen wollte, denn die Frau war in | |
Insolvenz gegangen, war depressiv und hatte irgendwie nur noch unregelmäßig | |
eingezahlt. Sie war suizidal, und ich bin dann erst mal in Bürgschaft | |
gegangen mit 30.000 Euro für die Operation, denn es musste ganz schnell | |
gehen. Und es ist dann am Ende gelungen, aber nur unter dem Druck der | |
Presse, dass die Kasse, alle Kosten übernommen hat. | |
Und es betrifft auch Schwerkranke, es gibt zum Beispiel eine starke | |
Verschlechterung der Versorgung von Aidsfällen und | |
Multiple-Sklerose-Kranken, das kommt durch die Budgetierung, durch | |
Medikamentenbudgets und die Einführung des ’Regelleistungsvolumens‘ als | |
Quartalspauschale. Ich darf momentan pro Patient nur knapp 8 Euro an | |
Medikamenten im Quartal ausgeben. Liege ich drüber, kann ich in Regress | |
genommen werden. Aids- und MS-Patienten haben aber monatlich meist um die | |
1.000 Euro an Medikamentenkosten. Die Kasse zahlt einen Fallwert, zum | |
Beispiel für so eine leichte Sache wie eine Bindehautentzündung knapp 20 | |
Euro. Aber die gleiche Summe zahlt sie auch für MS- und Aids-Patienten, die | |
zwölfmal im Jahr versorgt werden müssen. | |
Das führt dazu, dass keiner sie eigentlich mehr behandeln will. Also genau | |
dann, wenn der Patient sehr krank ist und den Arzt dringend braucht. Laut | |
Presse lehnen sogar Kliniken die stationäre Aufnahme Schwerstkranker ab, | |
weil die Behandlungskosten nicht durch die Budgets abgedeckt werden. Das | |
ist doch nicht hinnehmbar! | |
## Moderne Form der Barbarei | |
Ich sehe als Arzt in meiner Praxis seit Jahren, wie sich die | |
Hilfsmittelrichtlinien verschärfen. Ich sehe, wie Hilfsmittel gekappt | |
werden und wie gleichzeitig der Mittelstand kippt in die Bedürftigkeit, | |
viele Leute können sich ihren Zahnersatz, ihre Brillen nicht mehr leisten. | |
Es gibt zum Beispiel die pensionierte Beamtin, die Dame im Altersheim, die | |
monatlich 5.000 Euro für Unterbringung und Pflege zahlt, ihr bleiben aber | |
nur 40 Euro Taschengeld. Davon kann sie sich keine Brille kaufen, und dann | |
kann sie nicht lesen oder nicht fernsehen. Und genauso geht es der | |
Sozialrentnerin im Zimmer nebenan. Keine Brille im 21. Jahrhundert! Das ist | |
die moderne Form der Barbarei. Ich habe zwar eine Brillensammlung, daraus | |
kann ich für die Armenklinik nehmen, was ich brauche, wenn es da ist. Es | |
sind auch Optiker dabei, die mal helfen, Gläser wechseln usw. Aber das ist | |
doch kein Zustand auf Dauer! | |
Ich habe auch früher schon Brillen gesammelt, zu Brillenspenden aufgerufen, | |
aber die waren für China, für Indien! 1982 sind 30.000 Brillen nach Afrika | |
gegangen, nach Kenia, wo ein Onkel Missionar war. Heute, seit der Änderung, | |
da gehe ich betteln und sammle die Brillen für Deutschland! Die erste kam | |
schon zurück aus Afrika. Aus der Missionsstation. Es gibt inzwischen Länder | |
in der Dritten Welt, da kommen Sie leichter zu einer Brille als bei uns. | |
## Medizinischer Fortschritt für alle | |
Wir haben heute, das macht den Mangel besonders beschämend, eine | |
Spitzentechnik zur Verbesserung der Sehschärfe, auch für den extremsten | |
Fall kann etwas getan werden. Aber wem nutzt dieser medizinische | |
Fortschritt denn? Der medizinische Fortschritt muss für alle da sein, es | |
geht nicht, dass Patienten ohne Geld ins Mittelalter zurückfallen, während | |
jemand, der ein gutes Einkommen oder Vermögen zur Verfügung hat, sich eine | |
Therapie gegen seine fortschreitende Erblindung kaufen kann. | |
Wir müssen es erreichen in der Politik, dass unsere Staatssekretäre und | |
unsere Minister kapieren, was sie mit solchen Richtlinien anrichten. Aber | |
ab einer bestimmten Besoldungsgruppe ist anscheinend das eigenmächtige | |
Denken erschlafft. Das liegt sicher auch daran, dass es gar keine Berührung | |
mehr gibt mit der Realität. Nein, falsch, es ist noch schlimmer: Sie wissen | |
genau, was sie tun. Ich habe einen Herrn Seehofer, eine Frau Schavan x-mal | |
auf die Probleme aufmerksam gemacht. Ich habe Frau Schavan eine Liste | |
geschickt mit beispielhaften Fällen. Aber es interessiert sie nicht! Trotz | |
meiner politischen Kämpfe seit 2008 hat die jetzt nochmals überarbeitete | |
Hilfsmittelrichtline, rechtskräftig ab 3. April 2012, keinerlei Veränderung | |
bezüglich einer Kostenübernahme für Sehhilfen gebracht. Und das hat einfach | |
System. | |
Arglistig werden Gesetze oder Gesetzeslücken erdacht mit dem einzigen | |
Hintersinn, Kosten zu sparen beziehungsweise Geld anzuhäufen für andere | |
Zwecke, auf Kosten des Sozialen, auf Kosten der Gesundheit. Es ist | |
skandalös, dass Politiker – ich sag’s mal so – aus niedrigen Beweggründ… | |
Patienten in die Armut treiben und ihnen dann auch noch die Hilfsmittel | |
verweigern. Am Ende wird’s doch nur noch teurer. Wenigstens wurde jetzt zum | |
1. Januar die Praxisgebühr abgeschafft. Das war ja auch so eine hirnrissige | |
Idee, die Verwaltungsgebühr für die 10 Euro betrug 9,20 Euro.“ | |
28 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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