| # taz.de -- Kritikerin des Gesundheitswesens: Kranke Kassen | |
| > Das Gesundheitswesen ist ein aufgeblähter Kosmos voller Dienstleister, | |
| > eine Megabürokratie der Kassen. Eine Kritikerin erzählt. | |
| Bild: Die „All-you-can-eat-Mentalität“ der Kassenpatienten ist die Lieblin… | |
| Das Einkommen entscheidet über den Grad der medizinischen Versorgung. Wer | |
| arm ist, muss früher sterben. Zugleich werden die Reichen immer reicher, | |
| schwimmen unsere Krankenkassen im Geld infolge der verordneten | |
| Sparmaßnahmen und Beitragserhöhungen. | |
| Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) macht unser | |
| Gesundheitssystem (Gesundheitsfonds und gesetzliche Krankenkassen) dieses | |
| Jahr 5,7 und kommendes Jahr weitere 1,8 Milliarden Euro Überschuss. Dazu | |
| kommen 10 Milliarden von 2011 und 3,8 Milliarden von 2010. Die Überschüsse, | |
| gern „Rücklagen“ genannt, betragen somit deutlich über 20 Milliarden Euro. | |
| 2 Milliarden (pro Jahr) stammen aus der sogenannten Praxisgebühr, über | |
| deren Abschaffung gerade gestritten wird. Diejenigen, die streiten und die | |
| gesundheits-und sozialpolitischen Entscheidungen treffen, sind allesamt | |
| Leute, die keinen Cent in die Kassen der Solidargemeinschaft zahlen, | |
| sondern sich im Gegenteil auch noch auf Kosten des Steuerzahlers mit | |
| luxuriösen Beihilfen im Krankheitsfall ausstatten lassen. Ohne jeden | |
| Skrupel. | |
| Dementsprechend gnadenlos fallen die „Reformen“ aus. Die rauben den | |
| Patienten immer mehr Geld und Ansprüche. Einführung neuer Zuzahlungen für | |
| Praxisgebühr, häusliche Krankenpflege usf., die drastische Anhebung der | |
| Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalt, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel und | |
| ebenso die „Ausgliederung“ von Leistungen aus der Erstattungspflicht der | |
| Krankenkasse wie rezeptfreie Medikamente, Zahnersatz, Glaukomvorsorge usf. | |
| wälzten die finanziellen Risiken im Fall von Krankheit und Altersschwäche | |
| immer mehr auf den Beitragszahler ab. | |
| ## „Demografische Zombies“ | |
| Vorgeschobene Gründe für die Sparmaßnahmen gab es viele, wie die angebliche | |
| „All-you-can-eat-Mentalität“ der Kassenpatienten, oder auch der | |
| „demografische Effekt“, eine Lieblingswaffe von Wirtschafts- und | |
| Finanzwissenschaftlern, die sich als Lobbyisten der Finanzindustrie | |
| feilbieten wie damals den Nazis. Einer sprach unlängst ganz in diesem Sinne | |
| öffentlich von „demografischen Zombies“ und von „Hundertjährigen, die | |
| einfach nicht sterben wollen“. Die von allen Liberalisierern an die Wand | |
| gemalte Kostenexplosion jedoch hat sich als Gewinnexplosion herausgestellt. | |
| Hier wird deutlich, worauf das zielt, wir werden systematisch einer | |
| Privatisierung nicht nur der Krankheitskosten, sondern unserer gesamten | |
| medizinischen Versorgung entgegengeführt. Sie soll vollends dem Markt | |
| unterworfen werden. Dazu passt die neueste Meldung, dass die Krankenkassen | |
| künftig dem Kartell- bzw. Wettbewerbsrecht unterstellt und damit offiziell | |
| zu UNTERNEHMEN erklärt werden. | |
| Bisher galten die gesetzlichen Krankenkassen als Organisationen mit einem | |
| klar definierten gesellschaftlichen Versorgungsauftrag, sie hatten eine | |
| soziale Aufgabe zu erfüllen, auf dem Grundsatz der Solidarität, nach den | |
| Regelungen des Sozialgesetzbuches. Wir dürfen gespannt sein, ob in Zukunft | |
| die Befreiung von der Umsatzsteuer entfällt. | |
| Frau Hartwig lebt auf dem Land, aber für Beschaulichkeit bleibt kaum Zeit. | |
| Sie ist eine streitbare Bayerin voller Tatendrang. Seit Jahren deckt sie | |
| die Machenschaften einer miteinander verfilzten Clique aus Politikern, | |
| Lobbyisten und Vertretern der Gesundheitsindustrie auf, zeigt, wie und | |
| wohin sie unser Gesundheitssystem manipulieren. | |
| ## Sie mietet das Olympiastadion | |
| Sie wird laut, sie kriegt einen Zorn, sie verpfändet sogar ihr Haus, um das | |
| Münchner Olympiastadion zu mieten und das alles öffentlich anzuprangern. | |
| Sie ist vor dramatischen Irrtümern zwar nicht gefeit, lässt sich aber nicht | |
| vom eigentlichen Ziel abbringen. Ihr Kampfruf lautet: Zivilcourage ist | |
| Bürgerpflicht! Was sie will, ist Demokratie und Bürgergesellschaft. | |
| In leidenschaftlichem Tonfall und bayerisch gefärbter Sprechweise erzählt | |
| sie uns ihre Erfahrungen: „Ja, ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker, wo ich | |
| echt sauer werde, das sind Doppelmoralisten, aber davon später. Und ich sag | |
| Ihnen gleich, ich bin keine Patientenvertreterin! Das möchte ich gleich | |
| klarstellen, das hätten manche gern, um mich zu entschärfen! Ich vertrete | |
| Bürgerrechte. | |
| Klipp und klar! Das ist ganz was anderes. Für mich ist das, was passiert im | |
| Gesundheitswesen, etwas ganz Grundsätzliches, das ist eins der wichtigsten | |
| gesellschaftlichen Themen. Aber aufgepasst: Wenn wir von ’Gesundheitswesen‘ | |
| bzw. von ’Gesundheitssystem‘ reden, dann meinen wir nicht nur Ärzte, | |
| Krankenhäuser und Krankenversicherungen. | |
| Wir reden von einem aufgeblähten Kosmos an ’Dienstleistern‘, von den | |
| gewaltigen Megabürokratien der Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen, | |
| von Verwaltungsbeamten, von Apotheken, Labors, Instituten, von Pflege, | |
| Service und Reha-Einrichtungen, Krankenhäusern und Groß-Kliniken, | |
| Zulieferern und vor allem von einer alles durchdringenden gewaltigen | |
| Pharmaindustrie. Die Triebfeder von dem Ganzen ist das Geld. Aber das | |
| wirkliche Ausmaß von diesem Kosmos habe ich erst allmählich begriffen. | |
| ## Am Anfang eine Angina | |
| Angefangen hat’s mit einer Angina und einem Hausarztbesuch. Als er mal kurz | |
| rausmusste, habe ich zufällig einen Blick werfen können auf seinen | |
| Computer, und da stand als Laufband: ’Die veranschlagte Zeit für diesen | |
| Patienten ist abgelaufen.‘ Ich habe den Arzt dann zur Rede gestellt, und es | |
| war ihm irgendwie peinlich, er redete was vom ’engen Budget‘. | |
| Das wollte er aber dann so doch nicht stehen lassen, und eines Abends kam | |
| er mit vier Kollegen zu mir nach Hause, und sie haben mir ihre Probleme auf | |
| den Tisch gelegt, erzählt, dass sie furchtbar unter Druck stehen, dass sie | |
| eigentlich für ihre Arbeit kaum noch was kriegen, dass sie pleitegehen und | |
| dass es aus diesem Grund demnächst keine Hausärzte mehr geben wird. | |
| Ich war der typische uninformierte Kassenpatient, habe denen das damals | |
| natürlich alles geglaubt und mich dermaßen empört darüber, dass ich | |
| beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Wir sind 70 Millionen | |
| Beitragszahler, dachte ich, wir wissen nicht, was mit unserer Kohle | |
| passiert, das können wir uns doch nicht bieten lassen! Sie haben mich | |
| eingeladen, und so bin ich erst mal eineinhalb Jahre, als einzige | |
| Nichtmedizinerin, zu den Treffen des Hausärzteverbands gegangen – auch zu | |
| den Protestveranstaltungen – und habe mir angehört, was die Ärzte so zu | |
| sagen haben. | |
| Habe auch sehr viel recherchiert und mich sachkundig gemacht. Und ich hatte | |
| all die Jahre viel zu tun mit Ärzten aus der Funktionärsszene, den | |
| Verbänden, mit Ärzten, die sich berufspolitisch auseinandergesetzt haben. | |
| Und erst allmählich fiel mir irgendwie auf, sie streiten eigentlich alle um | |
| des Kaisers Bart. Es ging immer nur darum, welche Leistungen bringen wir | |
| und was bekommen wir dafür bezahlt. Aber ich habe gedacht, diese Haltung | |
| ist ein Ergebnis der Systemfehler. | |
| ## „Ich hasse Nürnberg!“ | |
| Ich dachte, was hier gebraucht wird, ist eine informierte Bürgerbewegung, | |
| zur Unterstützung, aber auch damit die Ärzte mal lernen, über ihren | |
| Tellerrand zu gucken! Eine Woche später habe ich eine Initiative gestartet | |
| und mithilfe meiner Webmasterin die Homepage | |
| [1][patient-informiert-sich.de] ins Netz gestellt. | |
| Meine Überlegung war, Ärzte und Patienten kämpfen gemeinsam. Und im April | |
| 2007 haben sie mich eingeladen zu einer Demonstrationsveranstaltung nach | |
| Nürnberg. Ich hasse Nürnberg! Und dann auch noch Meistersinger-Halle, 2.000 | |
| Ärzte haben demonstriert, weil sie zu wenig Geld kriegen und fertiggemacht | |
| werden. Da war mein erster Auftritt. | |
| Ich hab mich am Mikrofon zu Wort gemeldet, quasi für | |
| patient-informiert-sich.de, und habe gesagt, wir Patienten, wir | |
| Beitragszahler, werden nun wach, wir legen jetzt den Finger in die Wunde | |
| und sagen Halt! Stop! Die Macht der Krankenkassen und Kassenärztlichen | |
| Vereinigungen muss begrenzt werden, wir lassen es nicht zu, dass die | |
| Hausärzte aussterben! Ich war voller Idealismus und habe mich blenden | |
| lassen von den Ärzten. Das passiert mir heute nicht mehr! | |
| ## So wie es unter Hitler funktioniert hat | |
| Meine Wut gegen die Masse der niedergelassenen Ärzte kam, als mir klar | |
| wurde, dass sie selber schuld sind, dass sie freiwillig mitmachen, dass sie | |
| ihr eigenes Denken, Fühlen und ihre Zivilcourage opfern für ihren ganz | |
| kleinen Vorteil, für ihr ganz kleines Sicherheitsdenken. Ich habe zum | |
| ersten Mal wirklich kapiert, wie das unter Hitler funktioniert hat. Ich | |
| musste aber das ganze komplizierte System erst mal durchschauen lernen. | |
| Und ich habe begriffen: Was draufsteht, muss nicht drin sein. | |
| Beispielsweise beim ’freien niedergelassenen Arzt‘. Den gibt es nämlich gar | |
| nicht. Er arbeitet in einer Scheinselbständigkeit, die er selber wählt. Es | |
| funktioniert so, dass er jeden Monat eine Abschlagzahlung kriegt. Das ist | |
| seine Sicherheit, auf die er allergrößten Wert legt. Wenn er die hat, ist | |
| ihm vollkommen wurscht, wie das System eigentlich funktioniert. Und da | |
| haben wir ein Problem! | |
| Ein anderes Problem ist die Kassenärztliche Vereinigung, kurz KV. Die Macht | |
| der KV kommt daher, dass die Politik sich ganz wunderbar zurückgelehnt und | |
| gesagt hat: Wir machen zwar die Rahmenbedingungen, aber das eigentlich | |
| Brutale, das macht mal ihr! Damals, als Hitler drankam, gab’s bestimmte | |
| Strukturen der KV, und die haben sich bis heute nicht geändert.“ | |
| ## Der Patient bleibt übrig | |
| Die KV wurde 1931 in Berlin im Zuge der Notverordnungen gegründet und 1933 | |
| zur KV Deutschland. Hinfort starke Verflechtung mit dem NS-Herrschafts-und | |
| Gesundheitssystem, u. a. entzog sie den jüdischen Kassenärzten ihre | |
| Niederlassung und damit ihre Existenzgrundlage, was die nichtjüdischen | |
| Kassenärzte billigend in Kauf nahmen. | |
| „Auf der ganzen Welt gibt es keine KV, nur in Deutschland! Als offizielle | |
| Standesorganisation ist sie einerseits ein Instrument, um die Ärzte | |
| ’führen‘ zu können, aber in der Hauptsache ist sie ein Machtinstrument, | |
| denn sie ist der direkte Partner von den Kassen. Die Kassen zahlen das Geld | |
| an die KV, und die sitzen dann praktisch auf diesem dicken Geldsack und | |
| haben die Macht des Verteilens. Und ums Verteilen geht der ganze Hickhack! | |
| Was darüber aber vergessen wird, ist der Patient, der Beitragszahler. Und | |
| darum geht’s. Deshalb heißt auch mein neues Buch: ’Geldmaschine | |
| Kassenpatient.‘ Der ist nämlich die sprudelnde Quelle, er zahlt ein ins | |
| Solidarsystem. ’Einer für alle, alle für einen.‘ Aber wir müssen uns mal | |
| fragen, funktioniert das überhaupt noch? Ich sage, wir haben kein | |
| Solidarsystem mehr! | |
| Der Staat bedient sich bei unseren Beiträgen und verwendet das Geld für | |
| andere Zwecke. Aus diesem Topf bedienen sich mittlerweile alle, nur der | |
| Patient bleibt übrig und steht da als Depp! Wenn er krank ist, muss er sich | |
| entschuldigen, dass er was braucht und Kosten verursacht. Er wird nur so | |
| lang gut bedient, solang aus seiner Krankheit Geld zu ziehen ist. | |
| Und das wird immer knapper, wenn einer krank ist, dazu kommt dann noch eine | |
| Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf Arzneimittel, die sackt der | |
| Finanzminister ein – auf Katzenfutter sind’s nur 7 Prozent. In keinem | |
| anderen Land der Welt ist die Umsatzsteuer auf Arzneimittel dermaßen hoch! | |
| Aber ich soll’s Maul halten und zahlen. Ich finanziere meinen eigenen | |
| Untergang als Patient. Die Kassenpatienten sind die rechtlosen Financiers | |
| dieses Systems, das Melkvieh! Und die Ärzte haben damit kein Problem, | |
| solang sie ihre Kohle kriegen. Lieber biedern sie sich an, zum Beispiel bei | |
| ihrer KV. | |
| ## Die Kontrolle bleibt aus | |
| Es gibt 17 Landes-KVen und eine Bundes-KV. Und die verschlingen schon mal | |
| einen Batzen für ihre eigene Bürokratie, und üppig ist natürlich auch die | |
| Ausstattung für die Kassenarzt-Funktionäre. Die KV ist ein | |
| Selbstbedienungsladen, dabei ist sie doch eine Körperschaft öffentlichen | |
| Rechts und nur Treuhänder unserer Gelder. Aber das interessiert die nicht, | |
| die Geldpipeline wird an uns vorbeigeleitet. Ungeprüft! | |
| Die Aufsichtsbehörde ist die Politik, also die Sozial- und | |
| Gesundheitsministerien des jeweiligen Bundeslandes. Aber eine Kontrolle | |
| findet überhaupt nicht statt! Da wird gewirtschaftet nach Gutsherrenart, | |
| und die Ärzte starren nur darauf, wie wird verteilt, welche Berufsgruppe | |
| kriegt zu viel, welche zu wenig! Doch alle sind sich darin einig, es ist | |
| nie genug!“ | |
| Ein Hausarzt verdient im Monat netto um die 8.000 Euro. Pro | |
| Patientenkontakt wendet er im Durchschnitt 7,8 Minuten auf. Deutschland | |
| wendet im internationalen Vergleich am wenigsten Zeit auf für die Zuwendung | |
| des Arztes zum Patienten! | |
| „Und Achtung, jetzt werd ich aggressiv! Die Kassenärzte lassen sich mit ein | |
| paar finanziellen Anreizen ruhigstellen und liefern dafür uns Patienten | |
| gnadenlos ans Messer. Ohne mit der Wimper zu zucken, oder auch weil sie zu | |
| blöd sind, einen Vertrag richtig zu lesen, unterschreiben sie ihn und | |
| verpflichten sich, nach dem Sozialgesetzbuch V zu arbeiten. Das heißt dann | |
| im Klartext, dass sie an uns die so genannte WANZ-MEDIZIN vollziehen. | |
| ## Es droht die Insolvenz | |
| Das Sozialgesetzbuch V regelt, auf welchem Niveau die medizinische | |
| Behandlung von Kassenpatienten zu erfolgen hat. Sie muss ’WIRTSCHAFTLICH, | |
| AUSREICHEND, NOTWENDIG und ZWECKMÄSSIG‘ sein. Das klingt auf den ersten | |
| Blick sogar vernünftig, nur, wer definiert das? Der Arzt jedenfalls nicht! | |
| Er bekommt ein Budget vorgeschrieben, und bei dessen Überschreitung drohen | |
| ihm Regress und Insolvenz im schlimmsten Fall! | |
| Dazu verpflichten sie sich, das ist bindend, das wird überprüft! Und dafür | |
| bekommen sie dann ihre Abschlagzahlungen monatlich, wie ein Gehalt, und ein | |
| halbes Jahr später ihre Abrechnung. Damit sind sie zufrieden, und mit | |
| Schnäppchen, wie den IGe-Leistungen, privat zu bezahlenden ’individuellen | |
| Gesundheitsleistungen‘, die der kommerzfreudige Mediziner dem | |
| Kassenpatienten anbieten darf, egal ob sie zweckmäßig oder notwenig sind. | |
| Das ist nicht das Bild, das ich mir von einem Arzt mache. Ich will nicht, | |
| dass der Arzt meines Vertrauens sich vorschreiben lässt, was und wie viel | |
| er mir als Kassenpatient verordnen darf, und dass sich die Medizin nach | |
| Vorgaben zu richten hat, statt selbst zu bestimmen, wie die Behandlung sein | |
| muss. Die WANZ-Medizin gehört verfassungsmäßig schon längst auf den | |
| Prüfstand! | |
| Sie wirkt sich besonders schädlich ausgerechnet auf diejenigen aus, die die | |
| Schwächsten sind. Auf die Behinderten. Sie werden für den Arzt zum Problem, | |
| bedrohen sein Budget, seine Existenz. Es gibt zahllose Behinderte, die | |
| monatelang um die Bewilligung notwendiger Hilfsmittel kämpfen müssen, oder | |
| sich, weil nur das Billigste verordnet wird, zum Beispiel mit unbrauchbaren | |
| Inkontinenzvorlagen behelfen müssen, die zum Wundsein führen, zu | |
| Verunreinigungen von Wäsche und Bett usf. Es gibt massenhaft Beispiele über | |
| die Auswirkungen auf die Betroffenen. Ich kann Ihnen später noch | |
| Geschichten dazu erzählen. | |
| ## Unbrauchbare Hilfsmittel | |
| Also, je mehr ich erfahren habe, umso mehr hatte ich das Gefühl, das kann | |
| doch nicht wahr sein, ich platze, mein Hirn platzt! Ich musste das | |
| aufschreiben, und so ist das erste Buch ’Der verkaufte Patient‘ entstanden. | |
| Ich wollte nur eins: der ganze Skandal muss unter die Leute! Da dachte ich | |
| immer noch, die armen Ärzte, wir müssen was für die tun, damit sie wieder | |
| richtige Ärzte sein können. | |
| Dann hab ich zu meinem Mann gesagt, okay, wir mieten das Olympiastadion, | |
| ich will eine große Aufklärungsveranstaltung machen. 30.000 Plätze haben | |
| wir gemietet und gehofft, dass so viel Karten dann auch weggehen. Es war | |
| eine gigantische Summe zu zahlen, wenn es in die Hose gegangen wäre, dann | |
| hätte es geknallt bei uns! Ich hab mir dann die Unterstützung der | |
| bayerischen Hausärzte gesichert. Sie haben’s in ihren Praxen bekannt | |
| gemacht, und am Ende war es so, dass jeder einen Bus mit seinen Patienten | |
| vollgemacht hat, so dass am 7. Juni 2008 dann tatsächlich 28.000 Menschen | |
| ins Olympiastadion gekommen sind! | |
| Es war sogar berittene Polizei da, ich fühlte mich wie in den 70ern. Aber | |
| es war eine großartige Veranstaltung mit vielen Reden und viel Applaus. Es | |
| waren auch Medien da, der Bayerische Rundfunk hat gefilmt, aber sie werden | |
| es nicht glauben, nichts wurde berichtet hinterher! Kein Sterbenswörtlein. | |
| Auch nicht von der Presse. | |
| Als Einzige hat eine Zeitung aus Südtirol darüber berichtet. Und ich hab am | |
| 13. September 2009 noch mal so eine Veranstaltung im Olympiastadion | |
| gemacht, wieder mit den Ärzten, und darüber wurde dann für eine Minute in | |
| der „Tagesschau“ berichtet. Na, da war’s mir klar, da hab ich dann | |
| endgültig gewusst, ich bin hier irgendwo, wo niemand will, dass das | |
| durchsickert und dass die breite Öffentlichkeit erfährt, wie man sie | |
| verarscht. | |
| ## Ein Schulterschluss zwischen Ärzten und Patienten | |
| Damals ist auch die Bürgerinitiative Schulterschluss e. V entstanden – | |
| inzwischen sind es fast 700 Bürgertreffs bundesweit – es sollte ein | |
| Schulterschluss zwischen Ärzten und Patienten sein. Und dann ruft mich ein | |
| Funktionär an und sagt: ’Es hat geklappt! Das haben wir erreicht durchs | |
| Olympiastadion.‘ Was geklappt hatte, war Folgendes: Sie bekamen ihren | |
| ’Hausarztvertrag‘, sprich, mehr Geld. Statt circa 40 Euro | |
| ’Regelleistungsvolumen‘, bekamen sie jetzt 84 Euro für jeden Patienten, der | |
| sich in den Hausarztvertrag einschreibt. | |
| Lockmittel war der Erlass der Praxisgebühr durch die Kasse – das war | |
| übrigens auch noch so eine Schweinerei der AOK, die quasi mit diesem | |
| Versprechen massenhaft neue, übergewechselte Mitglieder in ihre Kasse | |
| gezogen hatte. Und ein Jahr später hat sie alles wieder rückgängig gemacht! | |
| Jedenfalls, es kam dann sofort eine Flut von Ärzten zu unseren | |
| Bürgerstammtischen in Bayern, die haben Zettel verteilt und gesagt: | |
| EINSCHREIBEN, EINSCHREIBEN! | |
| Und als sich dann wahnsinnig viele Patienten eingeschrieben hatten, war | |
| plötzlich die Ärzteschaft nicht mehr zu sehen, nicht mehr interessiert an | |
| Aufklärung, an Vorträgen, Bürgerstammtisch und Schulterschluss. Sie waren | |
| die Profiteure und damit genug! Sie haben unsere Plakate abgehängt in ihrer | |
| Praxis und waren lammfromm. | |
| Ich konnte das anfangs gar nicht glauben, dass die Ärztefunktionäre mich | |
| und die Patienten nur für ihre Zwecke benutzt haben. Sie haben mich vorn | |
| hingestellt als Patientenvertreterin und gesagt, mach mal. Und ich habe | |
| gemacht. In meiner idealistischen Verblendung konnte ich leider nicht | |
| erkennen, dass sie die Sache einfach umgedreht hatten, damit für sie eine | |
| Geldquelle daraus wird. Die Ärzte klammern sich völlig abartig ans Geld! | |
| Aber sie haben mich nicht umsonst reingelegt, das zahl ich denen heim! | |
| ## Sechs Jahre in der Schlangengrube | |
| Ich sag Ihnen, ich habe in eine Schlangengrube geblickt. Ich konnte erst | |
| die Schlangen überhaupt nicht erkennen. Dann bin ich reingestiegen in die | |
| Grube, und was ich da gesehen habe, ist mir vollkommen fremd gewesen. | |
| Inzwischen bin ich sechs Jahre in der Schlangengrube, ich kann genau die | |
| Formen und Muster der einzelnen Schlangen erkennen. | |
| Es gibt kleinkarierte, das sind die ’Niedergelassenen‘, die verziehen sich | |
| gleich in ihre Ecke. Und dann gibt’s ein paar dicke, und dann gibt’s eine | |
| ganz fette, das ist die Würgeschlange. Und alle warten sie auf Beute. Aber | |
| ich lasse mich nicht erschrecken!“ Sie lacht. „Ich gehe gern mit Metaphern | |
| um. Die Beute, das sind immer wir Beitragszahler, wir Patienten. Ein | |
| schönes Beispiel ist auch die Gesundheitskarte.“ | |
| Die Spitzenverbände des Gesundheitswesens beschlossen 2002 ein gemeinsames | |
| Vorgehen zur Einführung einer Chipkarte, ’Gesundheitskarte‘ genannt. 2003 | |
| von der rot-grünen Regierung beschlossen. Es wurde sogar eigens das | |
| Unternehmen Gematik gegründet zur Realisierung. Die Kosten werden | |
| größtenteils aus Versichertengeldern bezahlt und sollten ursprünglich mal | |
| 1,6 Milliarden Euro betragen. Die Einführung der Karte sollte ursprünglich | |
| 2006 sein, verschob sich aber laufend. Inzwischen weiß keiner, wie hoch die | |
| Kosten sind. Der abgelöste Gematik-Sprecher vermutet Gesamtkosten von 14,1 | |
| Milliarden Euro oder mehr. | |
| ## Wir brauchen diese Karte, Punkt, Ende, aus! | |
| „Ich sag Ihnen, an der elektronischen Gesundheitskarte habe ich drei Jahre | |
| lang gearbeitet, hab recherchiert und rumgefragt. Da werden Milliarden | |
| verbraten! Und diese Milliarden, die helfen der IT-Industrie, uns zum | |
| ’gläsernen Patienten‘ zu machen. Wir werden ausgeliefert und verkauft, | |
| denjenigen, die an uns Geld verdienen wollen. Besonders der | |
| Pharmaindustrie. Die Politik lässt sich willig vorschreiben, was sie machen | |
| soll. | |
| Und dann heißt es plötzlich, wir brauchen diese Karte, Punkt, Ende, aus! | |
| Sie dient nur eurem Wohl und vermeidet Fehlbehandlungen. Es geht aber nicht | |
| um unser Wohl, sondern um das der mächtigen Interessenten. Man muss sich | |
| nur mal angucken, wer in dieser Gematik neben der IT-Industrie noch so | |
| alles drinsitzt. | |
| Da sitzen die ganzen Spitzenverbände drin, die Kassenärztliche | |
| Bundesvereinigung, die Bundes-Ärztekammer, die gesetzlichen Krankenkassen | |
| und die privaten, die deutsche Krankenhausgesellschaft, der deutsche | |
| Apothekerverband, hab ich alle … Ach, und es gibt auch noch einen Beirat, | |
| in dem ein verlorenes Häufchen von Patienteninteressenvertretern sitzt. Das | |
| sagt wohl alles. Klar, wem diese elektronische Gesundheitskarte nutzt. Uns | |
| Patienten jedenfalls nicht. | |
| Und die ziehen es in die Länge, damit es für uns noch teurer wird, auch | |
| weil sie ein totales technisches Chaos haben. Und obwohl oder auch weil es | |
| eine breite Bewegung gegen die Einführung der Gesundheitskarte gibt – der | |
| Großteil der Bevölkerung ist dagegen –, macht die Politik jetzt Druck. Sie | |
| sagt, Freunde, wir haben nächstes Jahr Wahl, die Gesundheitskarte und die | |
| Kosten dafür könnten uns auf die Füße fallen, wir müssen gucken, wie wir | |
| das so schnell wie möglich abschließen. | |
| ## Erpressermethoden wie bei der Mafia | |
| Also, wenn ihr Kassen nicht bis Jahresende 70 Prozent eurer Versicherten | |
| mit dieser Gesundheitskarte ausgerüstet habt, also mit dieser neuen | |
| Technik, mit Bild und allem Drum und Dran, dann gibt’s Sanktionen! | |
| Finanzielle Kürzungen! Man arbeitet nämlich hier in diesem System mit | |
| Erpressermethoden wie bei der Mafia. Und die Patienten werden dann wiederum | |
| von ihrer Kasse erpresst. | |
| Die sagt ihnen: Wenn ihr die Karte ablehnt und kein Bild schickt, dann seid | |
| ihr demnächst nicht mehr versichert, auch nicht, wenn auf eurer alten Karte | |
| bis 2017 steht, die ist nämlich ungültig. Oder sie versuchen die Leute zu | |
| ködern, mit einem Scheißgutschein über 8 Euro, für die Bilder. Und es ist | |
| zum Heulen, ein Teil der Kassenpatientengesellschaft lässt sich durch | |
| solche Schnäppchen gängeln. | |
| Dabei gibt es viele Möglichkeiten der Verweigerung bis hin zum | |
| Widerspruchsverfahren, mit Klage vor dem Sozialgericht, oder zum Beispiel | |
| auch die Absicherung durch unsere Schutzerklärung, die wir vom | |
| Bürger-Schulterschluss zusammen mit unseren Anwälten entwickelt haben – die | |
| ist auch auf unserer Website. Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen! | |
| ## Man kann sich verweigern | |
| Und darum geht es mir! Ich wollte und ich will, dass Transparenz in das | |
| ganze Gesundheitssystem kommt. In solche Großprojekte wie das der | |
| Gesundheitskarte und in die geheimen Umbaupläne. Denn ich will nicht, dass | |
| die ganzen Privaten mit ihren Aktiengesellschaften unser gesamtes | |
| Gesundheitssystem aufkaufen, Rhön AG, Helios, Vivantes und wie sie alle | |
| heißen. | |
| Ich will nicht, dass es nur noch medizinische Versorgungszentren gibt, | |
| durch die wir alle durchgeschleust werden, damit wir denen gewinnbringend | |
| die Betten füllen. Ich will, dass jeder bestmöglich versorgt wird, der | |
| krank ist in dieser Republik, und dass damit ein Vertrauensverhältnis | |
| zwischen Patient und Arzt endlich wieder möglich wird. Das alles ist für | |
| mich ein elementares Grundrecht, und das wird gerade ausgehebelt.“ | |
| ## Im November erscheint der zweite Teil von Frau Hartwigs Bericht über das | |
| Gesundheitswesen. | |
| 31 Oct 2012 | |
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