# taz.de -- Debatte Gesundheitspolitik: 24 Milliarden zu vergeben | |
> Die gesetzlichen Krankenkassen haben riesige Überschüsse. Sie sollten vor | |
> allem in die Verbesserung der Pflege fließen. | |
Bild: Chronisch unterbesetzt: Laut Statistischem Bundesamt wird die Fachkräfte… | |
Mitten in der größten Finanzkrise der Europäischen Union beschäftigt die | |
deutsche Politik etwas, das man fast als „Luxusproblem“ bezeichnen könnte: | |
Wohin mit den inzwischen 24 Milliarden Euro Überschüssen in der | |
gesetzlichen Krankenversicherung? Mit ihrer Verwendung tut sich die | |
Bundesregierung schwer. | |
Zu übermächtig sind die Begehrlichkeiten von allen Seiten der sogenannten | |
Leistungsanbieter. Die Ärzte sind gerade dabei, eine Erhöhung ihrer | |
Honorare auf 1,5 Milliarden Euro durchzuboxen. Die Apotheken dürfen wieder | |
mehr für den Verkauf ihrer Arzneimittel abrechnen. Und die Pharmakonzerne | |
fordern eine Entlastung von den Rabattverpflichtungen und Festbeträgen beim | |
Vertrieb ihrer Medikamente. | |
Fragt sich allerdings: Wo bleiben die 70 Millionen Versicherten, die 2,4 | |
Millionen Pflegebedürftigen und die über 1,4 Millionen Menschen in den | |
Pflegeberufen? Die Kette von gravierenden Mängeln bei der Pflege in | |
Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen oder bei den ambulanten | |
Pflegediensten reißt ja nicht ab. Gleichzeitig hält der Personalnotstand in | |
den Pflegeberufen an. | |
Die Gesundheitsreformen der letzten Jahrzehnte sind vor allem zu Lasten von | |
Versicherten und Beschäftigten erfolgt: durch Zuzahlungen, | |
Leistungsverschlechterungen, Praxisgebühren und insbesondere den ständigen | |
Abbau von Personal in der stationären und ambulanten Gesundheitsversorgung. | |
## Röslers Meisterwerk | |
Zum 1. Januar 2011 trat mit einem weiteren Reformgesetz in der | |
Krankenversicherung der Einstieg in den Ausstieg aus der solidarischen | |
gesetzlichen Krankenversicherung in Kraft. Von dem FDP-Vorsitzenden und | |
damaligen Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler als Meisterstück | |
gepriesen, wird darin der Beitragssatz auf 15,5 Prozent angehoben und der | |
Arbeitgeberanteil auf 7,3 Prozent festgeschrieben. | |
Die Arbeitnehmer müssen somit nicht nur 0,9 Prozent mehr leisten, sondern | |
auch alle weiteren Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen | |
Krankenversicherung alleine tragen. | |
Diese werden infolge des demografischen Wandels und der Erhöhung der | |
Altersstrukturen sowie der Entwicklung von Medizin und der massiven | |
kommerziellen Interessen im Gesundheitswesen mit Sicherheit kommen. Das | |
Gesetz wurde 2010 im Eiltempo von der schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag | |
als angeblich „alternativlos“ durchgepeitscht. Dabei malte Rösler das | |
Menetekel eines Defizits in der Krankenversicherung von 11 Milliarden Euro | |
an die Wand. | |
Aus dem prognostizierten Defizit wurde auch mit Hilfe der guten Konjunktur | |
und der von den Gewerkschaften durchgesetzten Lohnsteigerungen in kurzer | |
Zeit ein mehr als doppelt so hoher Überschuss. Bundesfinanzminister | |
Wolfgang Schäuble (CDU) kürzte umgehend den Bundeszuschuss für den | |
Gesundheitsfonds für 2013 um 2 Milliarden Euro. | |
## Geld gegen Fachkräftemangel | |
Ginge es nach dem in der Politik immer wieder beschworenen | |
Verursacherprinzip, wären die Überschüsse vorrangig für die Versicherten, | |
Pflegebedürftigen und Beschäftigten in den Pflegeberufen zu verwenden. Laut | |
Statistischem Bundesamt fehlen bereits jetzt zwischen 30.000 und 40.000 | |
Fachkräfte in Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen und ambulanten | |
Pflegediensten. Bis 2025 soll diese Fachkräftelücke auf bis zu annähernd | |
200.000 anwachsen. | |
Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Pflegeleistungen geht von | |
einem noch weit höheren Personalmangel aus. Dabei trifft der demografisch | |
bedingte Alterungsprozess nicht nur die Kranken und Pflegebedürftigen, | |
deren Anzahl und Anforderungen an medizinische Versorgung und Pflege | |
zunehmen, sondern auch die in diesen Berufen beschäftigten Menschen. Davon | |
sind über 80 Prozent Frauen. | |
Unabhängig davon, welche Zahlen für den Personalnotstand in den | |
Pflegeberufen für die Zukunft zugrunde gelegt werden, sind die gefährlichen | |
Auswirkungen des Mangels bereits jetzt deutlich spürbar. Für die | |
Beschäftigten in der Pflege bedeutet dies eine ständige | |
Leistungsverdichtung ihrer körperlich wie geistig besonders belastenden | |
Arbeit. Die Folge ist eine außergewöhnlich kurze Zeitdauer ihrer Tätigkeit. | |
Sie beträgt zwischen 8 und 15 Jahren. | |
Dazu kommen hohe Ausfälle wegen Krankheit sowie schwerwiegende | |
gesundheitliche Einschränkungen und Erwerbsminderungen. Dringend | |
erforderlich ist auch die spürbare Anhebung des Lohnniveaus in den | |
Pflegeberufen, das für Fachkräfte im Schnitt zwischen 2.100 und 2.400 Euro | |
brutto liegt. Dies steht weder in einem Verhältnis zu den Belastungen noch | |
zu den Anforderungen und der Verantwortung für Gesundheit und Leben der | |
ihnen anvertrauten Menschen. | |
## Arbeitszeiten aufstocken | |
Auch die im europäischen Vergleich außergewöhnlich niedrige | |
Wochenarbeitszeit, deren Konsequenz eine entsprechend geringe Entlohnung | |
bis hin zu 400-Euro-Jobs ist, muss angehoben werden. Armut trotz Arbeit und | |
Arbeit im Alter sind andernfalls vorprogrammiert. Die seit August 2010 | |
geltenden Mindestlöhne für einen Teil der Pflegetätigkeiten liegen mit 8,50 | |
Euro West und 7,50 Euro Ost am untersten Rand. Sie müssen nicht nur | |
steigen, auch deren Unterwanderung muss unterbunden werden. | |
Da die Zuwanderung aus Mittel- und Osteuropa ausbleibt, werden schon wieder | |
Stimmen mit der Forderung laut, Pflegekräfte aus Ländern außerhalb der | |
Europäischen Union anzuwerben. Alle Beteiligten, also | |
Krankenversicherungen, Arbeitgeber, Versicherte und Pflegepersonal, sollten | |
zunächst die Ausstattung mit qualifiziertem Personal, dessen Entlohnung und | |
die Arbeitsbedingungen in Deutschland verbessern. Damit wären mehr Menschen | |
in der Bundesrepublik für diese Tätigkeiten zu gewinnen. | |
Die Überschüsse in der Krankenversicherung sind ein gutes Startkapital. | |
Durch die Wiederherstellung und Stärkung der Solidarität in der | |
Krankenversicherung sollte diese Politik in Zukunft weiter fortgeführt | |
werden. Das Konzept der Bürgerversicherung bietet hierfür einen geeigneten | |
organisatorischen Rahmen – und die notwendige Finanzierung. | |
1 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Ursula Engelen-Kefer | |
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