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# taz.de -- Kritikerin des Gesundheitswesens: Geld oder Leben
> Ein Gespräch über die Demontage unseres Gesundheitssystems: Die
> Kritikerin Renate Hartwig erzählt. Fortsetzung von Teil I.
Bild: „Gesundheit müsse von der Peripherie ins Zentrum der Wirtschaft rücke…
Im vorigen Monat [1][erzählte Frau Renate Hartwig], Publizistin, die sich
in ihren Recherchen 2007 auf das Gesundheitssystem konzentriert, über
Missstände dort. Hier folgt die Fortsetzung:
„In der Zwischenzeit ist am 9. November auf einstimmigen Beschluss des
Bundestages die Praxis- bzw. Kassengebühr zum 1. 1. 2013 abgeschafft
worden. Das klingt wie eine gute Nachricht. Ich will’s mal so sagen: Es war
ein Kuhhandel, für den wir sicher noch zahlen müssen. Politische Stümperei,
genauso gescheitert wie der ’Hausarztvertrag‘. Unser Gesundheitssystem war
mal gut, vor den ’Reformen‘, aber es wird für uns immer teurer und
schlechter, denn es ist in schlechten Händen!
Ich gebe gleich ein paar Beispiele. Ich schau zu, wie es seit Jahrzehnten
Schritt um Schritt demontiert wird, wie wir immer massiver in eine von
mächtigen, kommerzgesteuerten Kartellen beherrschte Medizin
hineinmanövriert werden. Ich will aber als Patient nicht vermarktet werden,
ich will nicht, dass der arme oder alte kranke Mensch durch den Rost
rutscht, dass der Kassenpatient immer mehr entrechtet und belastet wird.
90 Prozent der Bevölkerung sind Kassenpatienten, 180 Milliarden zahlen die
Beitragszahler jährlich ein ins System. Die Kassenpatienten, würde man
denken, haben ein Recht, darauf zu vertrauen, dass ihre Beitragsgelder dem
Solidarsystem zugutekommen und nichts abgezweigt wird für irgendwelche
anderen Zwecke. Sie haben das Recht, darauf zu vertrauen, dass sie dann,
wenn sie zum Arzt gehen und krank und bedürftig sind, Hilfe und Zuspruch
bekommen.
Aber an dieses Recht kann höchstens der glauben, der noch jung und gesund
ist. Solange er nicht aus Krankheitsgründen eine Gegenleistung benötigt,
wird er umworben und mit Serviceangeboten bedacht. Aber wehe, die Geisel
einer Krankheit, einer Behinderung, einer notwendigen Pflege zwingt dazu,
die Leistungen der Krankenkasse in Anspruch zu nehmen. Dann gerät der
Kassenpatient plötzlich in die Rolle des Bittstellers, wird zum ungeliebten
Kostenfaktor!
## Die Ärzte
Wenn ich als Kassenpatient zum Arzt gehe, stehe ich automatisch in der
Almosenecke. Die Argumentation bei vielen Ärzten ist, wenn ich einen
Privatpatienten behandle, dann finanziert der zwei oder drei
Kassenpatienten mit. Diese Ärzte haben es bis heute nicht begriffen, dass
WIR die Financiers dieses Systems sind – und wir finanzieren auch noch die
ganzen Beamten durch unsere Steuergelder mit, die sind ja alle
Privatpatienten.
Aber das ist wieder ein anderes Thema. Jedenfalls sind die Ärzte mit ihrem
Budget von 32 Euro im Quartal pro Kassenpatient nicht zufrieden, zwanghaft
erzählen sie ihren Patienten, und auch noch während der Behandlungszeit,
dass sie nicht zurechtkommen.
Es ist jetzt schon so, dass sehr kranke Patienten nicht aufgenommen oder
nicht weiter behandelt werden von den Kassenarztpraxen. Es gibt Schulungen
für Sprechstundenhilfen – die inzwischen ’medizinische Fachangestellte‘
heißen –, wo sie lernen, wie sie die abwimmeln.
Wenn der Patient zum Beispiel angibt, ich bin vor einem Jahr an Krebs
operiert worden und habe dies und das an Krankheiten, dann muss die
Sprechstundenhilfe zu ihm sagen: Tut mir wirklich leid, aber wir sind so
voll, wir haben sehr lange Wartezeiten, wir können keine Patienten mehr
aufnehmen. Und sie empfiehlt einen Kollegen, damit der ’teure Kranke‘ zu
dem geht. Und die Erklärung des Arztes: ’Wenn ich für mehr als 32 Euro
behandle, dann zahle ich drauf.‘ Originalton!!
## Gesetzlich vs. Privat
Ich sage dazu Folgendes: Ich bin bei der Kasse versichert, Sie als Arzt
oder Ärztin haben als Kassenarzt die Zulassung beantragt und erhalten, und
folglich haben sie mich zu behandeln! Und zwar aufgrund meiner Krankheit
und nicht aufgrund ihres Honorars!! Ja, warum ist er denn Kassenarzt
geworden? Er hätte ja auch die Unsicherheit und den Konkurrenzkampf einer
Privatpraxis wählen können.
Der Traum vieler Ärzte ist ja, dass die Patienten, wo sie jetzt schon mal
dran gewöhnt sind, weiterhin 10 Euro zahlen für jeden Arztbesuch. Sie
sagen, sie übernehmen einfach das angebliche Lenkungsinstrument, um ihn
dazu zu erziehen, dass er nur kommt, wenn es wirklich notwendig ist. Der
Unterschied wäre, dass das Geld bei den Ärzten bleibt.
Diese Diskussion gibt es. Das ist die eine Hälfte der Ärzte. Die andere
Hälfte sagt, wir müssen das ganz anders machen, wir wollen, dass eine
Direktabrechnung eingeführt wird. Das bedeutet, ich gehe als Kassenpatient
wie mit der Katz zum Tierarzt, der gibt mir eine Rechnung und die bezahle
ich ihm.
Die Rechnung gebe ich dann der Krankenkasse und die gibt mir das Geld
zurück. Das ist die Theorie. Die Praxis ist dann aber, ich kriege eben
keine ’Kostenerstattung‘, sondern ich kriege nur einen Teil von dem, was
ich bezahlt habe, zurück. Man muss das wissen, bei Kostenerstattung zahlt
der Bürger drauf. Immer! Punkt!
## Weg der Privatisierung
Da sind wir dann schon nah an der Selbstzahlernummer, so wie in Amerika.
Mit der Politik zusammen haben die Kassen den Patienten gegenüber schon
längst die Jalousie runtergelassen. Sie haben den Weg zur Privatisierung
eingeschlagen.
Jeder Patient wird zum Freiwild. Also was ist denn das für ein
Scheißsystem, das letztendlich nur die Basis dafür hergibt, dass wir nix
anderes im Kopf haben, als bis zum Maximum alles rauszuholen und bis zum
Letzten alles abzuschöpfen?!
Seit die Praxisgebühr weg ist, schreiben mir Versicherungen und bieten mir
den Abschluss einer Zusatzversicherung an, und zwar für die
Kostenerstattung! Was die für Folgen für den einzelnen Versicherten hat in
diesem Land, das hab ich mal 3 Monate lang über unsere schöne
’Bürgerschulterschluss‘-Bewegung durchspielen lassen.
Die Leute in 600 Bürgertreffs gingen zu ihren Kassen und haben gefragt, wie
das aussieht, wenn auf Direktabrechnung/Kostenerstattung umgestellt wird.
Und was kam raus? Sie glauben’s nicht! Bei der Kostenerstattung nach § 13
SGB V erstatten die Kassen aufgrund eines speziellen Berechnungsschlüssels
nur einen Teil der eingereichten Arztrechnung, so z. B. die Barmer GEK, nur
40 Prozent! Also die zahlen 40 Prozent der Arztrechnung und 60 Prozent zahl
ich selber! Passen Sie auf! Das ist Sprengstoff hier in diesem Text, davon
wird noch nicht laut gesprochen.
## Die Praxisgebühr ist weg
Das regt mich wahnsinnig auf, da werde ich wütend, wenn eine Vorsitzende
der Kassenärztlichen Vereinigung sagt: So, die Praxisgebühr ist weg, jetzt
gehen wir den zweiten Schritt, jetzt gehen wir in Richtung
Kostenerstattung. Ob wir Kassenpatienten das wollen oder nicht, das ist den
Ärzten vollkommen egal. Die hätten ja dann ihr Geld schon und sie finden,
das ist die Sache der Patienten, sich die 100 Prozent zu erkämpfen.
Genau hier ist mein Ansatz der Verärgerung: Keiner der Ärzte, die
Kostenerstattung fordern, hat sich um die praktische tatsächliche Umsetzung
gekümmert und was das für uns als Kassenpatienten bedeutet. Die Ärzte haben
nur diesen Hauptblickwinkel: Wie sieht es auf meinem Konto aus? Von den
hundertvierzigtausend niedergelassenen Ärzten, die es ungefähr gibt, kann
man vielleicht mit zehn davon eine halbe Stunde über die Probleme des
Gesundheitssystems reden, ohne dass sie gleich auf ihr Geld zu sprechen
kommen.
Ich kenne mindestens drei Dutzend Sprechstundenhilfen persönlich, die mir
erzählt haben, dass sie von ihren Ärzten Geld bekommen, wenn sie teure
Patienten wegschicken und wenn sie Igel-Leistungen verkaufen. Man muss es
so sagen: Ein Großteil der Ärzte, insbesondere der Fachärzteschaft, ist
dafür, das Solidarsystem abzuschaffen. Das ist ein Skandal, jeder, der das
will und an unserem Beitragsgeld, an unser Krankheit, an unserem Alter, an
unserem Leid profitiert, betreibt Demontage aus purem Eigennutz.
## Die Kassen
Und auf der anderen Seite sind da die Kassen. Ich habe festgestellt, wir
sind im 128. Jahr der Geschichte der gesetzlichen Krankenkassen und heute
sind wir fast am Ende angekommen. Der Weg, der eingeschlagen wurde, der
hieß: Bürokratisierung, Detailkontrolle und Übernahme
betriebswirtschaftlicher Methoden.
Das führt zum Untergang von dem, was gut ist, nämlich dass der Mensch im
Mittelpunkt steht. Es geht nicht mehr um eine gute Versorgung, es geht
primär ums Geschäft. Es geht um jährlich etwa 180 Milliarden, die ins
Solidarsystem unseres Gesundheitswesens eingezahlt werden – in den
sogenannten Gesundheitsfonds, der wurde ja als Inkassostelle installiert,
zur Verteilung der Beitragsgelder an die Kassen.
Nebenbei bemerkt, hat der in diesem Jahr 12,7 Milliarden Überschuss, und da
sind die Milliardenüberschüsse in den Töpfen der Kassen, die sie
’Rücklagen‘ nennen, gar nicht mitgezählt. Dann kommt noch ein dicker Batz…
Geld zusammen, durchschnittlich jährlich 350–400 Euro je Kassenpatient, die
aus eigener Tasche bezahlt werden müssen, weil zahlreiche Behandlungen
nicht mehr erstattet werden von den Kassen.
Und auf diesen riesigen Geldfluss richten sich natürlich viele
Begehrlichkeiten. Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Pharmaindustrie und so
fort, alle fordern ihren Anteil von der Beute. Der Gesundheitsmarkt ist der
größte Wachstumsmarkt Deutschlands. Das muss man laut aussprechen.
## Reichtum
Die Macht, die die gesetzlichen Krankenkassen haben, aufgrund unseres
Geldes nämlich, die ist ungeheuer groß. Diese Krankenkassen, die unsere
Milliarden an Beitragsgeldern lediglich verwalten sollen, verfügen
großzügig über ’ihren‘ Reichtum. Von den Verwaltungspalästen, die sie s…
bauen, ist schon viel berichtet worden.
Weniger bekannt ist, dass sie immer mehr Konzerncharakter kriegen, dass sie
krakenhaft unentwegt GmbHs gründen. Beispielsweise hat die AOK eine GmbH
für Reisen, auch eine GmbH für Medien, die wiederum Verträge hat mit Sat.1,
mit dem Stern und wie sie alle heißen. Ja, wo sind wir denn?!
Die Allgemeinen Ortskrankenkassen sind zunächst einmal ’Körperschaften des
öffentlichen Rechts‘. Sie arbeiten in staatlichem Auftrag. Sie verwalten
die Beiträge ihrer Mitglieder, Arbeitnehmer und Arbeitgeber überlassen sie
ihnen zu „treuen Händen“, wie man so schön sagt.
Gehören da superteure Fernsehwerbespots, Plakataktionen und Videos auf
Onlineseiten dazu? Gehört dazu eine Firma wie die ’AOK Systems GmbH‘? Das
Unternehmen zählt mit Sitz in Bonn und Niederlassungen in Hamburg,
Frankfurt, Stuttgart und München nach eigenen Angaben zu den
„erfolgreichsten“ IT-Beratungs- und Entwicklungshäusern im
Gesundheitswesen.
## Die Gründung einer GmbH
Sein Umsatz betrug 2010 rund 89 Millionen Euro. Zu den Kunden gehören die
12 Ortskrankenkassen mit vier Rechenzentren, zwei Betriebskassen, die
Barmer GEK, die Hanseatische Krankenkasse, die Knappschaft Bahn-See und der
GKV-Spitzenverband. Stammkapital: 600.000 Euro. Wichtigster Partner ist der
Software-Riese SAP.
So. Nun müssen Sie dazu noch bedenken, dass man zur Gründung einer GmbH ja
ein Eigenkapital braucht. Wo haben sie das her? Und dann muss man doch
fragen, wo gehen denn eigentlich die Gewinne hin von diesen GmbHs? Wir
erfahren es nicht! Und die Politik lässt die Krankenkassen gewähren.
Sie sieht dabei zu, wie sie ihre Aktivitäten immer weiter entfalten,
außerhalb ihrer Aufgaben als Solidarkassen, und wie sie sich von einer
staatlichen Institution mit klarem gesetzlichen Auftrag in ganz normales
Dienstleistungsunternehmen verwandeln, die auf Gewinnerzielung aus sind.
Weil wir das ohne zu protestieren zulassen, sehen sie uns als entmündigte
Bürger an, mit denen man umspringen kann. Das kann man sich aber nicht
gefallen lassen! Drum sag ich: Wir, die 70 Millionen Beitragszahler, wir
verlangen Rechenschaft über diese Aktivitäten!
Die Kassen haben offenzulegen, aus welchen Geldquellen sich die
Anschubfinanzierung sowie die laufenden Kosten speisen. Wohin die möglichen
Gewinne gehen, und auch das möchten wir wissen, wer kommt für die Defizite
auf?! Angesichts zahlreicher massiver Beschränkungen in der
Patientenversorgung sind diese unternehmerischen Gründungsaktivitäten ganz
besonders unverschämt.
## Selbstbedienung
Unverschämt ist auch die Mentalität der Selbstbedienung in den Chefetagen
der Kassen. Aus Geschäftsführern wurden über Nacht Vorstandsvorsitzende.
Ihre Bezüge sind höher als die der Funktionäre der Kassenärztlichen
Vereinigungen. Bei der AOK erhalten sie, wie in einer börsennotierten
Aktiengesellschaft, neben einem stattlichen Grundgehalt noch eine
Bonuszahlung obendrauf.
Wofür gibt es die fünfstellige Gutschrift? Die Kassen begründen die
Sonderzahlungen ihrer Vorstände nicht, und Aufsichtsbehörden wie das
Bundesversicherungsamt, die Landessozialministerien und das
Bundesgesundheitsministerium, die schweigen ebenfalls dazu.
Wir haben 170-200 Krankenkassen, in 16 Bundesländern, das ist doch ein
Wahnsinn! Und alle befinden sich im staatlich verordneten Wettbewerb. Also
für mich gibt’s das nicht, ’Wettbewerb‘ im Gesundheitswesen. Weil, was
sollen denn die mit mir für einen Wettbewerb machen, wenn ich krank bin?!
Wenn ich krank bin, dann brauche ich eine Behandlung und sonst nichts!“
Frau Hartwig bittet um eine kleine Unterbrechung. Ich nutze die
Gelegenheit, einen Einschub mit einem kleinen historischen Rückblick zu
machen: 2004 trat das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung“ (GKV Modernisierungsgesetz) in Kraft. Es wurde 2003
von der rot-grünen Regierungskoalition unter Kanzler Schröder beschlossen
(u. a. zur Senkung der Beiträge und Lohnnebenkosten und einer neuen
Verteilung der Kosten).
## Ulla Schmidt
Die zuständige Bundesgesundheitsministerin ( 2001–2009) war Ulla Schmidt
(SPD). Einer der Bestandteile der Modernisierung war übrigens auch die
Einführung der Praxis-/Kassengebühr sowie zahlloser neuer Zuzahlungen in
Apotheke, Krankenhaus, Zahnarztpraxis und so fort.
Weniger bekannt ist, dass Ulla Schmidt mit dieser Modernisierung die
ärztlich Schweigepflicht ausgehebelt und alle sensiblen Daten der Patienten
den Kassen zugänglich gemacht hat. Bis dahin waren die Kassenärztlichen
Vereinigungen bei der Abrechnung dazwischengeschaltet.
Die Kasse bekam die Kosten, aber keine umfangreichen Details der
Erkrankungen mitgeteilt. Nunmehr aber erhielten die Kassen von den Ärzten
bzw. von den Kassenärztlichen Vereinigungen patientenbezogene Diagnose- und
Leistungsdaten.
Sie bekamen Zugriff auf genaue Behandlungs- und Diagnoseprofile ihrer
Versicherten, Disease-Management-Programme – angeblich zugunsten
wissenschaftlicher Evidenz – sorgten dafür, dass über chronisch Kranke
besondere Dokumentationen zur Verfügung gestellt werden. Die Kassen konnten
nun Morbiditäts- und Kosten-Nutzen-Berechnungen aufstellen und ökonomisch
in den Behandlungsverlauf eingreifen.
## Politik und Gesundheitswirtschaft
Frau Hartwig erhält nun wieder das Wort: „Ja, wirklich, die schlimmsten
Sachen hat Ulla Schmidt gemacht! Ich habe mal nachrecherchiert, wer denn
eigentlich so die Fäden in ihrem Ministerium in der Hand hatte, und habe
festgestellt, im Gesundheitsministerium werden die Entscheidungen in der
mittleren Ministerialebene abgehandelt.
Unter Ulla Schmidt bin ich auf einen Herrn Knieps gestoßen, und dieser Herr
ist Rechtsanwalt und Krankenversicherungsexperte, kam von der AOK. Und ich
bin auf einen Herrn Vater gestoßen vom Krankenhauskonzern Rhön-Klinikum AG.
Nur zur Orientierung: Dieser börsennotierte Klinikkonzern vermehrt seine
Gewinne brutal durch Einsparungen auf Kosten von Patienten, Personal und
Material.
Beispielsweise wurden die Sterbezimmer abgeschafft und die Kühlräume für
die Verstorbenen. Die Toten bleiben bis zur Abholung durchs
Bestattungsunternehmen im Krankenzimmer liegen. Das war ein absolutes Tabu
zuvor. Indem die Politik sich solcher Berater bedient, werden die Böcke
gezielt zu Gärtnern. gemacht. Diese Fachleute waren praktisch die, die
alles vorbereitet haben.
Ulla Schmidt war übrigens auch die Erste, die dort drüben war 2006, um sich
wohlwollend das amerikanische Gesundheitssystem anzuschauen. Im Bank of
America Building in San Francisco hat sie ins Luxusrestaurant im 52. Stock
wichtige Herren zum Abendessen geladen damals – man kann das alles
nachlesen.
Ihre Gast war der Chef von Kaiser Permanente, der größten Versicherung der
USA, mit circa 9 Millionen Versicherten und Umsätzen im mehrstelligen
Milliardenbereich. Diese Versicherung ist zugleich ein Gesundheitskonzern,
Betreiber von Kliniken, Ärzteorganisationen, Apothekenketten und eine
IT-Plattform zur Vernetzung von Patientendaten. Die Versicherten dürfen,
außer in Notfällen, nur hauseigene Ärzte, Kliniken und Apotheken in
Anspruch nehmen.
## Der Kaiser Permanente
Diese Kaiser Permanente ist, nebenbei bemerkt, 1972 entstanden, nachdem der
Unternehmer Kaiser Präsident Nixon dazu überredet hatte, das
Gesundheitssystem zu privatisieren. Wer sich ein Bild machen möchte vom
amerikanischen Gesundheitssystem, der findet im Doku-Film ’Sicko‘ von
Michael Moore die niederschmetternde Beschreibung der amerikanischen
Realität.
Ulla Schmidt jedenfalls war begeistert und hat diese Anregungen mit nach
Hause genommen, wo sie nach und nach umgesetzt wurden und werden.Die ganze
Geschichte der e-Card – sie geht auch auf das Konto von Ulla Schmidt – ist
sehr aufschlussreich. Nämlich auch was die Rolle der Ärzte angeht. Bei den
letzten Ärztetagen – so viel auch zum Thema Demokratie – hat die
Ärzteschaft einstimmig die Einführung der e-Card abgelehnt. Ich war fest
davon überzeugt, die wollen diese elektronische Gesundheitskarte nicht.
Aber die Gesundheitspolitik, die Kassen und die Kassenärztliche Vereinigung
(KV), die kennen die Masse der Ärzte ganz genau! Ich habe jetzt durch einen
Zufall erfahren: Im Jahr 2011 haben die Ärzte ein Angebot gekriegt, wenn
sie innerhalb eines bestimmten Zeitraums sich das Lesegerät für die e-Card
kaufen, dann bekommen sie 730 Euro von der KV erstattet.
Das war zugleich ungefähr der Preis des Geräts. Ärzte, die ich gefragt
habe, mussten nicht mal was draufzahlen oder nur eine geringe Summe. Ich
habe dann bei den Landes-KVen und bei der Bundes-KV nachgefragt und es kam
raus, über 90 Prozent der Ärzte haben inzwischen dieses Lesegerät. So viel
zur Glaubwürdigkeit der Ärzte und ihrer Behauptung, dass sie sich wehren.
## Die e-Card wird aufgedrängt
So, und was sie gefügig gemacht hat, ist wieder mal das Geld. Und STOP!
Diese Lesegeräte, die man ihnen quasi geschenkt hat, sind bezahlt mit
unseren Beitragsgeldern. Wir Patienten wollen aber die e-Card gar nicht,
also sind sie uns wieder mal in den Rücken gefallen.
Ich habe damals wirklich gedacht, wir Patienten wollen das nicht und die
Ärzte wollen das nicht. Wenn wir also alle an einem Strang ziehen und uns
gemeinsam verweigern, dann können die ihre e-Card einstampfen! Ich habe
nicht damit gerechnet, dass die Ärzte sich für 730 Euro kaufen lassen!
Und das geht ja noch weiter, wenn wir, die wir uns der e-Card verweigern –
was Tausende von Leuten ja machen – mal zum Arzt müssen, dann will der von
uns eine Unterschrift. Und wenn wir diese Unterschrift zum Datentransfer
nicht geben, dann schreiben sie uns eine Privatrechnung nach
Gebührenordnung, und wir müssen die Behandlung selbst zahlen.
Weil, wer keine e-Card hat, angeblich nicht abgerechnet werden kann. Wir
kriegen das dann auch von der Kasse nicht erstattet. Das ist die Sanktion
der Kassen, mit der sie den Druck, den die Politik ihnen macht, an die
Patienten weitergeben.“
## Nur sinnvoll für Selbstzahler
Auf meine Frage, was denn hinter diesem offensichtlichen Widerspruch
eigentlich steckt, dass einerseits der Kassenpatient in die
Direktabrechnung getrieben werden soll, aber andererseits die elektronische
Gesundheitskarte zum Abrechnen und Speichern der Daten brachial
durchgesetzt wird, sagt Frau Hartwig (nachdenklich): „Ja, das stimmt … da
haben sie recht.
Wenn wir immer mehr zu Selbstzahlern werden, dann macht die Karte keinen
Sinn. Mit ihr sollen ja die Sachleistungen abgerechnet werden. Aber
vielleicht gibt’s da noch einen ganz anderen Sinn? Es ist doch so, dass da
Daten drauf sind und raufkommen sollen, bis hin zur Möglichkeit, ganze
Diagnosen und Erkrankungen zu speichern, die Behandlungen, die Medikamente,
die Krankenhausaufenthalte, die Organspendebereitschaft, bis hin zu
besonders sensiblen Daten wie psychische Erkrankungen, Alkohol-oder
Drogenmissbrauch, sexuelle Störungen und so fort.
Eine ganze elektronische Akte. Und das von 70 Millionen Kassenpatienten.
Ich denke, bei der Karte geht’s einfach nur um diesen großen, zentralen
Computer, wo alle Daten gespeichert werden. Was für ein Datenschatz! Der
ist unbezahlbar. Da geht’s um die ganze Gesundheitswirtschaft, die daran
Interesse hat, um die Versicherungswirtschaft, die den Zugang zu diesen
Daten hat – weil irgendwann unterschreiben wir, wenn der Chip in der Karte
aktiviert wird, dass wir dem Datentransfer zustimmen.
Wenn ich mir das so überlege, dann komme ich zu dem Schluss, diese
Gesundheitskarte hat nix zu tun mit unserer Gesundheit. Ihr Sinn und Zweck
ist, uns und unsere Krankheiten als Markt zu erfassen. Das ist ein bisschen
so wie mit diesen vielen Kundenkarten, im Supermarkt und überall, mit denen
sie den Leuten Rabatte aufschwatzen, dafür aber das Kaufverhalten genau
studieren und auswerten.
Was für eine Geschäftsidee ist diese e-Card!!! Und was für Geschäftsideen
sich aus unseren Daten ableiten lassen, unvorstellbar. Sie ist ein
superwertvolles Instrument zur Marktanalyse! Für die Gesundheitswirtschaft
und die Marketingstrategien der Medizinindustrie. Und wir Patienten liefern
alle unseren relevanten Daten freiwillig und kostenlos! Halten sie sogar
immer auf dem neuesten Stand. So ist es gedacht. Ja, besser geht es doch
gar nicht!
## Palette Windeln aus Berlin
Und zum Schluss erzähle ich Ihnen noch eine Geschichte, die klingt wie eine
Parabel über den ganzen Wahnsinn des Gesundheitssystems und unserer
Bürokraten am Schreibtisch. Aber das ist die Realität. Passen sie auf! Es
gibt hier in Bayern eine Frau, die hat leider drei Kinder mit einem
Gendefekt, sie sind alle drei behindert und inkontinent.
Inzwischen sind es drei junge Kerle von 17 bis 21 Jahren. Ab 1. August 2008
gab’s wieder mal eine neue Anweisung der Krankenkassen, die auf das
Wettbewerbsstärkungsgesetz zurückgeht. Es traf diesmal die
Inkontinenzpatienten. Apotheken und Sanitätshäuser durften ab sofort an
Kassenpatienten auf Rezept keine Windeln mehr ausgeben.
Die Kassen machten Ausschreibungen und der billigste Windelanbieter bekam
den Zuschlag. Die Mutter erfährt im Sanitätshaus, dass sie ihr Rezept für
die Windeln in Zukunft direkt zu einem Hersteller von ’aufsaugenden
Inkontinenzartikeln‘, und zwar nach Berlin schicken muss. Das Sanitätshaus
übrigens hat mich auf diesen Fall aufmerksam gemacht, und ich habe mit der
Frau Kontakt aufgenommen.
Die Firma war nur per Post, weder telefonisch noch per E-Mail zu erreichen.
Und ich habe für die Frau mit der Kasse telefoniert und wenigstens
erreicht, dass sie so lange Windeln bekommt, bis die Lieferung aus Berlin
kommt. Nach drei Wochen erst kam die an, genau abgezählt für einen Monat.
## Lieferung bis Bordsteinkante
Die Kasse hat also mit der Firma diesen Vertrag gemacht und die Anzahl der
Windeln, den Stuhlgang und die Blasenentleerung des Patienten berechnet?
Also wann wer Urin lassen muss und Stuhlgang hat und wie viel, das
bestimmen nun die Kasse und der Windelhersteller??!!
Aber damit nicht genug, die Frau rief mich weinend an und fragte, ob ich
mir die Bescherung mal anschauen möchte. Ich fuhr hin mit meinem Mann. Die
Bürokraten hatten vergessen zu berechnen, was drei inkontinente Personen in
vier Wochen an Windeln brauchen und dass dafür eine Spedition eine ganze
Palette voll anliefern muss.
Die Palette hatte sie einfach auf dem Bürgersteig vor dem Mietshaus
abgestellt. ’Lieferung bis Bordsteinkante‘. Vor den Augen der ganzen
Siedlung! Die Familie wohnt im 2. Stock und und hat die Packungen alle
hochgetragen. Sie haben eine nicht gerade riesige Wohnung. Die ganzen Räume
waren vollgestopft, überall Windelpakete! Sie konnten da eigentlich gar
nicht mehr wohnen.
Und als ob das alles nicht schon mehr als genug wäre, es wurde noch
schlimmer! Bald darauf ruft mich die Frau wieder an und bittet mich, noch
mal zu kommen, es sei ganz schrecklich mit diesen Windeln. Wir fuhren also
wieder hin. Es roch unbeschreiblich penetrant.
## Dick wie zwei Tempotaschentücher
Die ganze Wohnung war nun auch noch mit Folie ausgelegt, die Böden,
sämtliche Stühle und Sessel, die Couch. Die Windel des Billiganbieters
bestand nämlich quasi aus einer Plastiktüte, gefüllt mit zwei
Tempotaschentüchern. So dünn waren die. Es floß alles an der Seite heraus
und in die Kleidung, auf den Boden.
Jeder kann sich das vielleicht ungefähr vorstellen, was das bedeutet. Die
Jungen musste die Mutter unentwegt abduschen, ihre Kleidung und Bettwäsche
waschen, die Böden und Betten reinigen, ständig lüften. Der Versuch, den
Jungen drei Windeln übereinanderzuziehen, hatte auch nichts gebracht, außer
dass der bemessenen Vorrat für den Monat nicht reichen würde. Auch führten
die Billigartikel zum Wundwerden.
Ich habe mir so gewünscht, die Verursacher und Verantwortlichen für diesen
Wahnsinn dort einzusperren, für mindestens einen Monat. Wir haben dann in
unserem Bürgertreff beschlossen, dass wir eine Aktion starten. Eine Woche
lang haben wir gefüllte und undichte Inkontinenz-Windeln in Plastikbeuteln
gesammelt und sie an die Türen der Kassenfilialen gehängt.
Und wir haben über die Aktion die Medien informiert. Das ist ja dann der
Moment, wo sie einknicken, wenn das Image Schaden nimmt. Was wir erreicht
haben, ist, dass die Firma – zumindest von der Barmer – zum Nachrüsten
verpflichtet worden ist.“
26 Nov 2012
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Gabriele Goettle
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