| # taz.de -- Wichtige Medikamente unerschwinglich: Zynisches Gesundheitssystem | |
| > Die Arzneimittelforschung geht am Bedarf von Patienten vorbei. Die | |
| > Pharmaindustrie setzt lieber auf Scheininnovationen. | |
| Bild: Teure Medikamente am Patienten vorbei entwickelt. | |
| BERLIN taz | „Ohne Aids würden wir überhaupt nicht über das Recht auf | |
| Gesundheit sprechen.“ In diesem Satz, mit dem der Heidelberger Professor | |
| für Public Health, Albrecht Jahn, einen kürzlich in Berlin gehaltenen | |
| Vortrag schloss, steckt der ganze Zynismus des herrschenden | |
| Weltgesundheitssystems. | |
| Dass es eine globale, nicht nur die armen Länder beherrschende | |
| Krankheitsgeisel braucht, um erstmals über den Zugang zu unentbehrlichen | |
| Medikamenten für Patienten in Schwellen- und Entwicklungsländern zu | |
| verhandeln, ist ein Armutszeugnis für all jene Industrienationen, die | |
| Milliardensummen in die Arzneimittelforschung stecken. | |
| Noch immer sterben fast 13 Millionen Menschen jährlich an Krankheiten, die | |
| eigentlich behandelbar wären wie Tuberkulose, Malaria, Aids und anderen | |
| armutsbedingten Krankheiten; ein Drittel aller Patienten kann nicht mit | |
| dringend notwendigen Medikamenten versorgt werden. | |
| Doch statt die Anstrengungen der Industrie auf den tatsächlichen Bedarf der | |
| Weltbevölkerung zu fokussieren, konzentriert sich der Forscherehrgeiz auf | |
| Scheininnovationen für Zivilisationserkrankungen, für die ein lukrativer | |
| Markt besteht. | |
| Lediglich 10 Prozent der Forschung befasst sich mit 90 Prozent der | |
| weltweiten Gesundheitsprobleme. Und lebensrettende Medikamente wie etwa | |
| gegen die Immunschwächekrankheit Aids stehen unter Patentschutz und sind | |
| für arme Länder unerschwinglich. | |
| ## Nacheilender Gehorsam | |
| Als 2009 der britische Pharmakonzern GlaxoSmithKline ankündigte, seine | |
| Aids-Medikamente zu maximal einem Viertel des Preises an Entwicklungsländer | |
| abzugeben und einen Patentpool für wenig erforschte, weil in der westlichen | |
| Welt nicht auftretende Krankheiten einzurichten, war das ein nicht ganz | |
| freiwilliges Zeichen des Einlenkens. | |
| Vorangegangen waren gerichtliche Auseinandersetzungen über Zwangslizenzen | |
| für Aids-Medikamente in Indien und Brasilien. Weitsichtigere Konzerne sahen | |
| ihre Felle davonschwimmen und handelten in nacheilendem Gehorsam. | |
| Doch nach wie vor ist das Patentrecht das größte Hindernis bei der | |
| Versorgung mit lebensrettenden Medikamenten in Entwicklungsländern. Grund | |
| genug, dass sich am Standort Deutschland mit seiner nicht unbeträchtlichen | |
| forschenden Pharmaindustrie auch [1][der Deutsche Ethikrat öffentlich mit | |
| diesem Thema befasst.] | |
| Dabei sollte es weniger um die grundsätzliche Frage gehen, ob die Ziele der | |
| Marktwirtschaft und globale Gerechtigkeit überhaupt zu versöhnen seien, wie | |
| die Ethikratsvorsitzende Christiane Woopen einführend bemerkte, sondern um | |
| die politischen und rechtlichen Möglichkeiten, Forschungsinnovation zu | |
| garantieren und dennoch einen möglichst breiten Zugang zu diesen Produkten | |
| zu eröffnen. | |
| ## Recht auf Gesundheit | |
| Das Völkerrecht bezieht, wie der Jurist Holger Hestermeyer, vom | |
| Heidelberger „Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und | |
| Völkerrecht“, ausführte, eine ganz klare Position. In Artikel 12 Abs. 1 im | |
| Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte | |
| erkennen die Vertragsstaaten das Recht eines jeden auf das für sie | |
| erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an. | |
| Doch das die Harmonisierung des Welthandels betreffende Trips-Abkommen von | |
| 1995 beinhaltet auch Regeln über das geistige Eigentum, an die auch die | |
| Entwicklungsländer gebunden sind und durch die WTO-Vereinbarungen noch | |
| gestärkt wurden. | |
| Ausnahmen gibt es allerdings im Rahmen von Zwangslizenzen, die innerhalb | |
| eines Territoriums gelten und gegen Gebühr an den Patentinhaber erteilt | |
| werden können. Brasilien etwa hat durch die Androhung einer Zwangslizenz | |
| auf ein Medikament innerhalb von sechs Jahren fast 340 Millionen Dollar | |
| gespart. | |
| Die forschende pharmazeutische Industrie, auf dem Ethik-Forum durch | |
| Cornelius Erbe vertreten, argumentiert, dass Innovation patentrechtlich | |
| geschützt bleiben muss, weil sonst kein Unternehmen in die Erforschung | |
| neuer Medikamente investieren würde. Erbe bestritt allerdings auch, dass | |
| das aufgemachte Problem überhaupt dem Patentrecht geschuldet sei, weil die | |
| von der WHO genannten als lebenswichtig geltenden Arzneimittel fast | |
| durchweg patentfrei seien. Das gilt, wurde ihm entgegengehalten, allerdings | |
| nicht für Aids-Medikamente. | |
| ## Zahlreiche Scheininnovationen | |
| Fraglich ist darüber hinaus überhaupt der unmittelbare Zusammenhang von | |
| Forschungskosten und Preis, wie Albrecht Jahn zu bedenken gab. Denn die | |
| Mittel der Pharmaindustrie fließen weniger in den Forschungs- und | |
| Entwicklungsbereich als ins Marketing, nämlich zwischen 13 und 27 Prozent – | |
| von den ausgeschütteten Renditen einmal ganz abgesehen. Ein weiteres | |
| Problem sind die zahlreichen Scheininnovationen und ein unübersehbarer | |
| Patentdschungel, die die dringend notwendige Herstellung von preiswerten | |
| Generika blockieren. | |
| Indien tritt inzwischen als wichtigster Generika-Hersteller auf. Im März | |
| diesen Jahres räumte das indische Patentamt dem Generikahersteller Natco | |
| Pharma die Befugnis ein, das Krebsmittel Nexavar des Bayer-Konzerns in | |
| Indien herzustellen und zu verkaufen. Indien versorgt Afrika auch mit | |
| billigen Aids-Medikamenten. | |
| Ein Ausweg aus den Patentclinchs wäre also, die Forschungskosten vom Preis | |
| von Medikamenten zu entkoppeln oder aber Patentpools einzurichten, um | |
| einfachere Lizenzsysteme zu entwickeln. Product Development Partnerships | |
| (PDP) zwischen Industrienationen und den Entwicklungsländern, die ihre | |
| Forschung am Bedarf und nicht am Gewinn ausrichten, sind eine weitere | |
| Möglichkeit etwa bei der Erforschung lebensbedrohlicher Krankheiten. Rund | |
| 80 Millionen Euro stellt das Bundesforschungsministerium derzeit für PDPs | |
| bereit. | |
| ## Pflicht der Staatengemeinschaft | |
| Das Patentrecht, so die Professorin für Philosophie Corinna Mieth, von der | |
| Ruhr-Universität Bochum, könne jedenfalls keinen Ausschließlichkeitsschutz | |
| beanspruchen, solange es Alternativen gibt. Dann sei es auch die Pflicht | |
| der Staatengemeinschaft, politisch und rechtlich tätig zu werden, ohne die | |
| Industrie unzumutbar zu belasten. | |
| Dieser konsensualistische Ansatz, der das Patentrecht nicht grundsätzlich | |
| infrage stellt, stößt dort an seine Grenzen, wo darüber entschieden wird, | |
| was erforscht wird. | |
| Die Ethikrätin und Aktivistin Christiane Fischer verwies darauf, dass | |
| zwischen 1975 und 2006 unglaubliche 16.000 neue Substanzen patentiert | |
| wurden, bei den meisten handele es sich jedoch um Scheininnovationen. | |
| Nachdem sich die Schwellen- und Entwicklungsländer in den weltweiten | |
| Verhandlungen etwas Freiraum erstritten haben, setzen die Industriestaaten | |
| und insbesondere die EU nun auf bilaterale Verhandlungen. | |
| Die sogenannten Trips-plus-Abkommen allerdings versuchen, die | |
| Patentansprüche der Unternehmen durchzusetzen – zum Schaden der Bevölkerung | |
| in den ärmeren Ländern. | |
| 7 Dec 2012 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Baureithel | |
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