| # taz.de -- Kleinbürger auf dem Vormarsch: Mit der Wahrheit schwindeln | |
| > Jedes Jahr die gleiche Horrornachricht: Die Mittelschicht wird nicht nur | |
| > von Abstiegsängsten zermürbt, sie wird auch stetig kleiner. Angela Merkel | |
| > sieht das anders. | |
| Bild: Des Kleinbürgers feuchter Traum. | |
| BERLIN taz | Angela Merkel verkündete kürzlich im Bundestag Unerwartetes: | |
| Die deutsche Gesellschaft wird wieder gleicher. Der Abstand zwischen Reich | |
| und Arm schrumpft. Zwischen 2005 und 2010, so die Kanzlerin frohgemut, sei | |
| „die Ungleichheit in den Einkommen gesunken“. Dies ist, unserer Kanzlerin | |
| zufolge, ein Ergebnis der segensreichen Politik der Bundesregierung, die | |
| immer mehr Bürger in Jobs bringt. Dass diese Jobs oft katastrophal bezahlt | |
| sind, sagte die Kanzlerin nicht. Das Protokoll verzeichnete Beifall bei | |
| Union und FDP. | |
| Eigentlich haben wir uns an die alle Jahre wiederkehrenden, fatalistisch | |
| klingenden Studien gewöhnt. Demnach wird die Mittelschicht nicht nur von | |
| Abstiegsängsten zermürbt, sie wird auch stetig kleiner. Wenige steigen in | |
| die Oberschicht auf, mehr nach unten ab. Die Nachricht, dass die | |
| Mittelschicht in den Stürmen der neoliberalen Globalisierung langsam, aber | |
| unaufhaltsam verschwindet, kommt uns bekannt vor. Sie erscheint wie andere | |
| unabänderliche Misslichkeiten, wie Grippewellen und Nieselregen, dass | |
| Bayern München schon wieder Meister wird und Angela Merkel für immer | |
| Kanzlerin bleibt. | |
| Ist das alles Irrtum? Ist das Dahinscheiden die Mittelschichtgesellschaft, | |
| die der Traum der alten Bundesrepublik war, dank der vorausschauenden | |
| Politik der Regierung gestoppt? Hat die FAZ Recht, die verkündete, dass | |
| „Arm und Reich wieder gleicher werden“? War alles nur linkes | |
| Dauerkrisengerede? | |
| Nicht ganz. Merkels vollmundige These wird zwar von einem Wochenbericht des | |
| DIW vom Oktober 2012 gestützt. Dort stellten die Experten fest, dass die | |
| Haushaltsmarkteinkommen sich von 2005 bis 2010 leicht angenähert haben. | |
| Dieses Einkommen umfasst, was Familien und Singles an Bruttoeinkommen so | |
| zur Verfügung haben: Löhne, Honorare, Mieten und Zinsen – nicht aber Hartz | |
| IV. Weil es mehr sozialversicherungspflichtige Jobs gibt, sind die | |
| Unterschiede in dieser Kategorie leicht abgeflacht. | |
| Allerdings sieht die Sache schon etwas anders aus, wenn man die Entwicklung | |
| der Nettoeinkommen betrachtet – und damit das, was die Leute real in der | |
| Tasche haben. Da gibt es, so DIW-Experte Markus Grabka, nur „erste | |
| Anzeichen“ und eine „schwache Tendenz“, dass die Einkommensschere, die se… | |
| 1990 Jahr für Jahr auseinandergeht, sich ein wenig wieder schließt. | |
| ## Die Mittelschicht verdampft | |
| Den richtigen Rahmen in Sachen Mittelschicht skizziert nun eine Studie, die | |
| DIW und die Bertelsmann-Stiftung verfasst haben. Danach ist – man ahnte es | |
| – die Mittelschicht seit 1997 um fast sechs Millionen Bürger geschrumpft, | |
| während die Unterschicht um vier Millionen gewachsen ist. Zur Mittelschicht | |
| zählt, wer zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommen bezieht. | |
| Und diese Schicht verdampft langsam, weil, so die Studie, die von Merkel | |
| hoch gelobte Arbeitsmarktpolitik mies bezahlte „atypische | |
| Beschäftigungsverhältnisse“ vermehrt hat. | |
| Außerdem hat die neue Studie auch die Entwicklung der Vermögen und nicht | |
| nur die der Einkommen berücksichtigt – und da sieht es extra finster aus. | |
| Denn seit 1995 ist das Vermögen der Mittelschicht um sechs Prozent | |
| geschrumpft – während die Konten der Oberschicht wachsen und die Reichen | |
| zudem mit den rot-grünen Steuerreformen reich beschenkt wurden. | |
| Den Abwärtstrend der Mittelschicht beflügelt hingegen auch, dass es mehr | |
| Singlehaushalte gibt, die statistisch stärker von Armut bedroht sind. | |
| Kurzum: Alles wie befürchtet. Was Merkel in Bundestag sagte, war nicht | |
| direkt falsch. Aber mit einem kleinen Teil der Wahrheit geschwindelt. | |
| 13 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| ## TAGS | |
| Mittelstand | |
| DIW | |
| Einkommen | |
| Vermögen | |
| taz.gazete | |
| Schweiß | |
| Pharmaindustrie | |
| Armutsbericht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Studie zur Mittelschicht: Aufstieg gelingt immer seltener | |
| Mehr Abstieg als Aufstieg: Die Mittelschicht in Deutschland schrumpft, | |
| ergibt eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung. Jeder Vierte sorgt | |
| sich um seinen Status. | |
| Steuerabkommen mit der Schweiz: Endgültig gescheitert | |
| Das Schweizer Steuerabkommen ist in der Vermittlung hängengeblieben. Grüne | |
| und SPD fordern neue Verhandlungen für ein „gerechtes Abkommen“. | |
| Einkünfte der Abgeordneten: Geld spielt (kaum) eine Rolle | |
| Pirat Alexander Morlang will bald Nebeneinkünfte offenlegen - als letzter | |
| der Berliner Fraktion. Bei den anderen Parteien wird eher gemauert. | |
| Wichtige Medikamente unerschwinglich: Zynisches Gesundheitssystem | |
| Die Arzneimittelforschung geht am Bedarf von Patienten vorbei. Die | |
| Pharmaindustrie setzt lieber auf Scheininnovationen. | |
| Regierung entschärfte Armutsbericht: „Ungleiche Verteilung“ gestrichen | |
| Die Bundesregierung hat in ihrem Armutsbericht einige Passagen entschärft. | |
| In ihnen ging es um die Verteilung von Vermögen und ungleiche | |
| Lohnentwicklung. |