# taz.de -- Poliklinik im Hamburger Armenstadtteil: „Die Umstände machen kra… | |
> Auf der Hamburger Veddel hat ein Kollektiv ein Gesundheitszentrum | |
> gegründet, das nicht nur Symptome behandeln, sondern auch die Ursachen | |
> angehen will. | |
Bild: Schon ein Weilchen geschlossen: ehemalige Apotheke auf der Veddel. | |
taz: Was ist das für ein Gefühl, mit Anfang 30 eine Klinik zu gründen? | |
Anh-Thy Nguyen: Ein gutes. Wobei die Poliklinik nicht im klassischen Sinn | |
eine Klinik ist, sondern ein stadtteilorientiertes Gesundheitszentrum. Wir | |
haben uns immer gefragt, wie und wann wir wohl anfangen werden und haben | |
sehr viel sehr theoretisch darüber gesprochen. Dass es letztendlich | |
passiert ist, fühlt sich gut an. | |
So etwas als Kollektiv zu führen, ist ungewöhnlich. | |
Es gibt in der Geschichte einige Kliniken, Praxen und Gesundheitsläden, die | |
von Kollektiven gegründet worden sind, allerdings mehr in den 60er-, | |
70erJahren. | |
Ihr knüpft an eine Tradition an, die weitgehend vergessen scheint. | |
Als wir nach einer Möglichkeit suchten, so etwas zu gründen, haben wir | |
Leute von damals gesucht; in Frankfurt, München und Berlin gab es solche | |
Versuche und noch bestehende Projekte. Es hat uns Mut gemacht, dass sie uns | |
sagten, dass die Voraussetzungen für ein kollektives Projekt heute viel | |
besser sind. | |
Warum? | |
Es gibt inzwischen die Möglichkeit, in einem Medizinischen | |
Versorgungszentrum als ÄrztInnen verschiedener Fachrichtungen und mit | |
anderen Gesundheitsberufen unter einem organisatorischen Dach | |
zusammenzuarbeiten. Das ist übrigens ein Stück weit der wieder aufgewärmte | |
Gedanke der Polikliniken der ehemaligen DDR. | |
Habt Ihr auch Leute getroffen, die mit einem solchen Projekt gescheitert | |
sind? | |
Die gab es auch, aber die haben sich gefreut, dass es wieder eine | |
Generation gibt, die es versucht. Oft wurde es zum Konfliktpunkt, dass der | |
Gesundheitsbereich stark hierarchisiert ist, dass Leute sehr | |
unterschiedlich viel verdienen, und auch sozial ist es ein großer | |
Unterschied, ob man als Krankenpfleger arbeitet oder als Ärztin. Viele | |
haben sich aus diesem Grund wieder getrennt. | |
Du arbeitest als Ärztin in einem ganz traditionellen Umfeld und verfolgst | |
hier auf der Veddel in zehn Kilometern Entfernung eine Utopie. | |
Ich mache gerade meine Facharztausbildung als Gynäkologin und muss einen | |
Teil davon am Krankenhaus machen. Wenn ich die abgeschlossen habe, kann ich | |
hier einsteigen. Neben dem Allgemeinarzt, der bereits hier arbeitet, gibt | |
es zwei andere, die wahrscheinlich Anfang nächstes Jahres hier beginnen. | |
Das sind alles Hausärzte. Wir hoffen, auch viele andere Fachrichtungen | |
besetzt zu kriegen. | |
In den letzten Jahren haben fast alle Ärztinnen und Ärzte die Veddel | |
verlassen. Habt Ihr noch welche kennengelernt? | |
Kaum. Wir haben einmal mit der Ärztin gesprochen, die hier noch | |
praktiziert. Damals gab es auch noch eine Apotheke, die aber 2014 | |
geschlossen hat. Die anderen ÄrztInnen sind in Rente gegangen und haben | |
keine Nachfolge gefunden, weil es sich nicht mehr gelohnt hat. Die Veddel | |
ist ein kleiner Stadtteil. Es gibt nicht viele privat versicherte Menschen | |
hier und viele, die keine Krankenversicherung haben. | |
Lebt Ihr selbst vor Ort? | |
Einer von uns wohnt seit September auf der Veddel, es gibt ein paar, die in | |
Wilhelmsburg wohnen, die meisten anderen leben auf der anderen Elbseite. | |
Die Veddel wird oft als Problemstadtteil der Parallelgesellschaften | |
dargestellt. Unserer Ansicht nach ist es eher so, dass die Communities sehr | |
gut funktionieren und dass es ein kosmopolitischer Ort ist. Wir kommen | |
nicht hierher, um ein Charity-Projekt zu beginnen, sondern wir benutzen den | |
Bedarf für unsere Arbeit. | |
Was war bei Euch Henne und was Ei – ein Gesundheitskollektiv zu gründen | |
oder etwas gegen die Ungleichheit in der medizinischen Versorgung zu tun? | |
Wir haben erst darüber nachgedacht, ein Projekt aufzubauen und dabei noch | |
keinen Stadtteil im Auge gehabt. Viele von uns kommen aus dem Medibüro, das | |
ist eine Vermittlungs- und Beratungsstelle für Migranten und Leute ohne | |
Papiere. Da haben wir gemerkt, dass es oft die Umstände sind, die die Leute | |
krank machen, nicht ihr individuelles Verhalten. Wenn Leute Existenzangst | |
haben, Stress auf der Arbeit, Schimmel in der Wohnung und dann mit | |
Bauchschmerzen kommen, dann kann man ihnen nicht einfach Säurehemmer geben | |
und damit ist das Problem gelöst. | |
Es ist leichter, ein Antibiotikum zu verschreiben, als soziale Verhältnisse | |
zu verändern. | |
Wir haben uns gefragt, wie wir das miteinander verbinden können. Dass das | |
in einem herkömmlichen Krankenhaus nicht geht, ist klar: Da sind die | |
ökonomischen Zwänge viel zu groß, als dass man sich Zeit nehmen könnte, um | |
den kompletten Hintergrund der Person zu erfahren. | |
Wie war für Euch der Schritt von der Theorie in die Praxis? | |
Wir haben einen Antrag für eine Sonderzulassung für diesen Stadtteil | |
gestellt. Normalerweise muss man sich einen Arztsitz kaufen, der kostet in | |
anderen Stadtteilen super viel. Die Sonderzulassung wurde genehmigt. Damit | |
hatte ein Teil von uns gerechnet, aber ein großer Teil auch nicht. Und dann | |
hatten wir plötzlich drei Monate, um zu eröffnen. Da konnte nicht mehr | |
diskutiert werden: Wollen wir wirklich diesen Raum, ist es blöd, dass das | |
Wartezimmer zu klein ist? | |
Wie muss man sich die Arbeitsaufteilung im Kollektiv vorstellen – sitzt | |
jede und jeder einmal am Empfangstresen? | |
Wir haben ein Kollektiv, das aus Leuten aus sehr unterschiedlichen Berufen | |
besteht. Zwei von uns arbeiten fest am Tresen, wovon sich eine am Anfang | |
den Knöchel gebrochen hat. Da haben wir so rotiert, dass alle mal am Tresen | |
saßen, aber da hat natürlich die Qualität der Dienstleistung gelitten. | |
Inzwischen haben wir zwei Leute fest am Tresen, feste Leute, die die | |
Sozial- und Gesundheitsberatung machen und leider noch nicht bezahlt | |
werden, und einen, der als Arzt arbeitet. Für die Zukunft wünschen wir uns, | |
dass mehr Leute einsteigen, derzeit besteht der harte Kern aus 15 bis 20 | |
Leuten. | |
Was kannst Du als künftige Ärztin, die noch nicht praktiziert, tun? | |
Was wir als Gemeinwesenarbeit betreiben, sind Präventionsprojekte, die | |
können von allen mitgemacht werden. Da gucken wir, was Themen sind, an | |
denen Leute im Stadtteil im Alltag zu knapsen haben. Daraus ist unsere | |
Antistress-Reihe entstanden. Wir wollen wissen, was die Leute im Stadtteil | |
stresst und wie sie damit umgehen. Ein Angebot der Reihe war ein Workshop, | |
um die Stressresilienz zu stärken, ein anderes ein Wellnesstag in der | |
Poliklinik, um den Stress mal hinter sich zu lassen. Uns interessiert | |
längerfristig, wie wir gemeinsam mit den VeddelerInnen daran arbeiten | |
können, die strukturellen Stressfaktoren zu bekämpfen. | |
Haben Euch die Antworten überrascht, was als Stress empfunden wird? | |
Es waren die klassischen Sachen: Arbeit, Schule, Ausbildung. Dazu kommt | |
hier natürlich auch die Sprachbarriere und auch Wohnungslosigkeit. | |
Wie war die Resonanz auf die Reihe? | |
Sehr unterschiedlich. Zu dem Wellness-Tag mit Massagen und Make-up sind | |
einige Leute gekommen. Beim Filmabend waren nicht so viele da. Wir haben | |
„Unnatural causes“ gezeigt, das ist ein Film aus den USA, sehr pädagogisch, | |
der die These von den sozialen Determinanten von Gesundheit sehr stark | |
vertritt und sagt: Leute, die ärmer sind, leben kürzer. In Deutschland gibt | |
es eine Spanne von zehn Lebensjahren zwischen den Ärmsten und den | |
Reichsten. | |
Eine Deiner Kolleginnen äußerte sich in einem Interview skeptisch zu dem | |
Gedanken der Prävention. Aber holt der Präventionsgedanke die Leute nicht | |
aus der Opferrolle? | |
Wir machen einen klaren Unterschied zwischen der individuellen Verhaltens- | |
und der Verhältnisprävention. In der Verhaltensprävention geht es um | |
„rauch’nicht so viel“, „mach’mehr Sport“, „ernähr’dich gesund�… | |
oft damit zu tun, welche Ressourcen man hat. Wenn man nicht viel Geld hat, | |
dann kann man sich nicht das gute Bioessen leisten, dann kann man nicht | |
zweimal pro Woche Schwimmen gehen, zumal nicht in einem Stadtteil, wo es | |
solche Sachen gar nicht gibt. | |
Aber das Verhalten bleibt doch kontraproduktiv. | |
Man übt dadurch auf die Person noch mehr Stress aus, als dass man es durch | |
solche Forderungen besser machte. Ich glaube, dass es oft eher eine | |
Symptomprävention ist, als dass man an den Ursachen arbeiten würde. Ich | |
denke, dass die Ermächtigung aus einer kollektiven Erfahrung kommen kann | |
von „mein Alltag ist so, aber ich kann tatsächlich diese krassen | |
Rahmenbedingungen mit Leuten aus meinem Stadtteil, die ähnliche Erfahrungen | |
haben, sprengen“. | |
Also nicht fettarm kochen, sondern? | |
Ein Projekt wie: „Was wünscht du dir für den Stadtteil, was fehlt dir?“ In | |
Russland und Spanien sieht man oft Sportgeräte draußen auf öffentlichen | |
Plätzen, wo Leute ein bisschen laufen und Sit-ups machen können. Wir hatten | |
die Idee, so etwas gemeinsam an einem Platz aufzubauen und dabei darüber zu | |
reden, was Körperkult eigentlich heißt, was Sport und Gesundheit für die | |
Leute bedeuten. | |
Es klingt so, als hättet Ihr einen eher theoriefreudigen Hintergrund und | |
träfet auf eher theorieferne Menschen. Wollen die beim Aufbau der | |
Sportgeräte über ihr Körpergefühl sprechen? | |
Da muss man Wege finden. Jemand hatte die Idee, die Leute darüber zu | |
kriegen, dass wir Proteinshakes mixen. Wir müssen das einfach ausprobieren. | |
Das ist ein Knackpunkt bei vielen linken Bewegungen, dass man nicht so | |
richtig weiß, wie man ins Gespräch kommen kann und wie man eine gemeinsame | |
Ebene findet, um Sachen zu verhandeln. | |
Gibt es eine Gruppe von der Veddel, die bislang nicht zu Euch kommt, einen | |
blinden Fleck sozusagen? | |
Was fehlt, ist eine kinderärztliche und eine gynäkologische Versorgung. | |
Hier sind viele Kinder und Frauen, die den Bedarf hätten. Was auch eine | |
große Leerstelle ist, ist Mehrsprachigkeit in unserem Team. Die meisten von | |
uns können Deutsch und Englisch, aber die Sprachen, die hier im Stadtteil | |
viel gesprochen werden, Türkisch, Arabisch und Albanisch, sprechen die | |
meisten von uns nicht. | |
Fehlt hier vielleicht eine albanisch-stämmige Ärztin, die auf der Veddel | |
aufgewachsen ist? | |
Auf jeden Fall. Vielleicht finden wir über unsere Arbeit jemanden, der hier | |
lebt und Lust hat, als albanische Kardiologin bei uns mitzuarbeiten. Aber | |
wir sind jetzt die Gruppe, die wir sind, und damit müssen wir behelfsmäßig | |
arbeiten, so wie mit allem anderen auch. | |
25 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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