# taz.de -- Personale Medizin statt schnelle Diagnose: Reden hilft mehr als App… | |
> Eingeliefert wurde Joachim Guller mit „Tennisarm und Nackenschmerzen“. | |
> Später ist klar: Er hatte schon mehrere Herzinfarkte. | |
Bild: Zeit und Zuhören sind im Gesundheitswesen Luxusgüter | |
Joachim Guller, 54, sitzt auf seinem Bett in der Psychosomatischen Klinik | |
in den Ruppiner Kliniken. Hinter ihm an der Wand hängt ein Bild des Malers | |
Emil Nolde. Um ihn herum stehen der Chefarzt, eine Therapeutin, mehrere | |
Assistenzärzte und Schwestern. Es ist Visite im brandenburgischen | |
Neuruppin, und Joachim Guller hört, dass er bald nach Hause darf. Dann wird | |
er mehrere Herzuntersuchungen hinter sich haben, ein Langzeit-EKG, Röntgen | |
der Wirbelsäule, Sport, Malen, Gärtnern. | |
Und nicht nur das: Joachim Guller hat so viel geredet wie lange nicht mehr | |
in seinem Leben. Fast sein gesamtes Leben hat er ausgebreitet, vor den | |
Ärzten und den Therapeuten. Er hat von seiner Frau erzählt und seiner | |
Tochter, von seinem Haus und seinem Job auf dem Bau. | |
Das wollten die Ärzte und die Therapeuten so. Selbst in seiner Kindheit | |
„haben die gekramt“, sagt der hagere Mann. Knapp drei Wochen, ausufernde | |
Untersuchungen, unendliche Gespräche – ziemlich viel Aufwand für einen | |
einzigen Patienten. Noch dazu einen, der nichts extra bezahlt. Joachim | |
Guller ist Kassenpatient. | |
Das sieht Gerhard Danzer anders. Er ist derjenige, der dafür gesorgt hat, | |
dass das alles für Joachim Guller getan wird. Und dass der das alles | |
mitmacht. Der Chef der Neuruppiner Psychosomatischen Klinik hat dafür einen | |
Begriff erfunden: personale Medizin. Eine Untersuchung vom Kopf bis in die | |
Zehenspitzen, eine ausführliche Anamnese, inklusive der Seele und der | |
Lebensumstände eines Menschen. Erst wenn das alles absolviert ist, | |
entscheidet der Arzt Danzer, wie der Patient Guller behandelt wird. Keine | |
schnelle Diagnose und erst recht keine schnelle Therapie. | |
## Was soll daran besonders sein, wenn ein Arzt sich Zeit nimmt? | |
Darüber hat der Internist, der auch an der Berliner Charité arbeitet, | |
gerade ein Buch geschrieben. Es hat über 500 Seiten und wird von manchen | |
Medizinern hoch gelobt. | |
Was aber soll besonders daran sein, wenn ein Arzt sich Zeit nimmt für die | |
Kranken? Wenn er nicht nur ihre Lunge abhorcht, sondern ihnen zuhört? Wenn | |
er nicht nur in ihren Hals schaut, sondern auch in ihr Leben und in ihre | |
Psyche? Das sollte üblich sein. Ist es aber nicht, sagt Gerhard Danzer. In | |
Zeiten der Ökonomisierung des Gesundheitswesens sind Zeit und Zuhören | |
Luxusgüter. „Es wäre schön, wenn alle Ärzte Zeit und Gelegenheit hätten, | |
ihre Patienten umfassend diagnostizieren zu können“, sagt der Mediziner. | |
Durchschnittlich drei Minuten verbringt ein Arzt mit einem Patienten, rund | |
vierzig Sekunden hört der Mediziner seinem Gegenüber zu. „Bisweilen werden | |
Symptome behandelt, ohne die einzelnen Ursachen detailliert erfasst zu | |
haben“, sagt Danzer. | |
In einer anderen Praxis wäre Joachim Guller vielleicht am Rücken operiert | |
worden, möglicherweise wäre sein nächtlicher Herzinfarkt nie bemerkt | |
worden. In Neuruppin bekommt Joachim Guller Physio- und Verhaltenstherapie, | |
auch ein paar Medikamente. Und viele Ideen, sein Leben umzukrempeln. | |
## Körper und Geist werden als Einheit betrachtet | |
Auf dem ausgestreckten Klinikgelände in Neuruppin gibt es alle | |
medizinischen Disziplinen, vom Augen- und HNO-Arzt bis hin zur | |
Unfallchirurgie. Aber es gibt auch Tanz- und Ergotherapie, | |
Ernährungsberatung, eine Gärtnerei, eine Schwimmhalle. Körper und Geist | |
werden als Einheit betrachtet. Das hat nichts mit esoterischer | |
Ganzheitlichkeit zu tun. Darauf legt der Schulmediziner Danzer Wert: „Nicht | |
selten besteht bei der Krankheitsverarbeitung ein enger Zusammenhang | |
zwischen biomedizinischen und psychosozialen Faktoren.“ | |
In Neuruppin kann man das gut beobachten. Der Landkreis Ostprignitz-Ruppin, | |
in dem Neuruppin liegt, ist eine schwierige Region. Viel weite Fläche, | |
wenig Leute und eine Arbeitslosenquote von 15 Prozent. Die gut | |
ausgebildeten Jungen ziehen von hier weg, übrig bleiben die Alten, einsam | |
und ohne Job. Viele fangen an zu trinken, werden dick und depressiv. Manche | |
von ihnen landen irgendwann bei Gerhard Danzer. | |
Da ist zum Beispiel die Frau, die seit Jahren Tabletten schluckt gegen die | |
Schmerzen in der Hüfte, in den Knien und in den Schultern. Wenn sie die | |
nicht rechtzeitig bekommt, wird die hibbelig, sagt sie. Gerhard Danzer: „Es | |
besteht der dringende Verdacht, dass Sie inzwischen von den Opiaten | |
abhängig geworden sind.“ Will sie weg von der Sucht? Ja. Dann muss sie die | |
nächsten Wochen hier bleiben: Entzug. | |
## Fettleibigkeitspatienten bleiben zwei Monate in der Klinik | |
Oder der Mann, 59, der seit zwei Jahren nicht mehr gearbeitet hat. Rücken, | |
Beine, einfach alles ist nicht in Ordnung. Gerhard Danzer hört geduldig zu, | |
fragt nach. Und sagt: „Die Soziotherapeutin wird nachher zu Ihnen kommen.“ | |
Die Augen des Mannes leuchten, es scheint, als sei es lange her, dass sich | |
jemand so um ihn gekümmert hat. | |
Wie kann sich eine Klinik das alles leisten? Fettleibigkeitspatienten | |
beispielsweise bleiben bis zu zwei Monate hier. Ramon Schreiber aus dem | |
Controllingbüro rechnet es vor: 203 Euro durchschnittlich kostet eine | |
Therapie pro Tag, ein Dreiwochenaufenthalt rund 4.300 Euro. In anderen | |
Kliniken werde rasch operiert, eine Gelenk-OP kostet schnell mal 14.000 | |
Euro. „Das Geld ist in Therapien besser aufgehoben“, sagt Schreiber. | |
Joachim Guller wird nachher noch einmal hinabsteigen in einen hellen | |
Keller, dort wartet Siegrid Kleinod auf ihn, die Kunsttherapeutin. Viele | |
Patienten sträuben sich erst zu malen, sagt sie: „Aber wenn sie anfangen, | |
dann vergessen sie sich selbst. Und ihren Schmerz.“ | |
14 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
## TAGS | |
Medizin | |
Krankenhäuser | |
Klinik | |
Bundesverfassungsgericht | |
Gabriele Goettle | |
Therapie | |
Klinische Studien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gleichheit vor dem Arzt: Die gefallene Verfassungsrichterin | |
Eine Karlsruher Juristin soll sich mit einem lädierten Finger in der | |
Notaufnahme vorgedrängelt haben. Ein Mediziner sieht deshalb den Rechtstaat | |
in Gefahr. | |
Geschichte der Gesundheitsbewegung: Autonomie und Sterbehilfe | |
Der Medizinhistoriker Gerhard Baader hat die NS-Euthanasie erforscht. Die | |
heutigen Debatten um Bioethik und Sterbehilfe sieht er als Gefahr. | |
Medizinische Versorgung: „Die Informationspflicht ist neu“ | |
Interdisziplinär zusammengesetzte Spezialistenteams sollen künftig | |
gemeinsam entscheiden, welche Therapie für den Patienten notwendig und am | |
besten ist. | |
Transparenz bei Arzneimittelstudien: Das Rezept für den Durchblick | |
Sollen Ergebnisse klinischer Medikamentenstudien für alle zugänglich sein? | |
Die EU will mehr Transparenz. Die Pharmaindustrie fürchtet um | |
Geschäftsgeheimnisse. |