# taz.de -- Gleichheit vor dem Arzt: Die gefallene Verfassungsrichterin | |
> Eine Karlsruher Juristin soll sich mit einem lädierten Finger in der | |
> Notaufnahme vorgedrängelt haben. Ein Mediziner sieht deshalb den | |
> Rechtstaat in Gefahr. | |
Bild: Mit einem gesunden Finger zeigt es sich besser auf andere. | |
FREIBURG taz | Das Bundesverfassungsgericht steht für Werte, die uns | |
wichtig sind: Menschenwürde, Freiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz. Es | |
wäre deshalb enttäuschend, wenn die Verfassungsrichter im privaten Leben | |
diese Werte ignorieren und für sich unangemessene Privilegien einfordern. | |
Dass es so sein könnte, legt nun [1][ein Text] nahe, der im Deutschen | |
Ärzteblatt (Auflage 408.000 Exemplare) erschien. Dort beschrieb Harald | |
Proske, Leiter der Notaufnahme im städtischen Klinikum Karlsruhe, einen | |
Vorfall, der ihm „Angst und Bange“ mache um dieses Land. | |
Eine Verfassungsrichterin mit einem lädierten Finger habe in der | |
Notaufnahme nicht warten wollen, bis sie an der Reihe ist, sondern erst | |
ihre Sekretärin vorgeschickt, um eine Vorzugsbehandlung zu fordern. Später | |
habe sie dann selbst eine „bessere, schnellere Behandlung verlangt“. Als | |
dies nichts genutzt habe, sei die Richterin zu einem ihr bekannten Arzt | |
gegangen, „und der machte es möglich“. | |
Proske wirft der Richterin ein Selbstverständnis vor, „welches auf | |
Privilegien und Bevorzugung pocht, sich bewusst vom Rest separieren will“. | |
Sie habe ihren Wert „qua Stellung und Rang als weitaus größer im Vergleich | |
zu dem der anderen Hilfesuchenden empfunden“. | |
Heftige Vorwürfe gegen die Frau, die nicht namentlich genannt wird. Aber es | |
gibt nur fünf Verfassungsrichterinnen und nur eine hatte in diesem Winter - | |
nach einem Sturz auf glattem Boden vor dem Gericht - einen Finger | |
gebrochen. | |
## Bei Richterin entschuldigt | |
Die fragliche Richterin ist zwar derzeit im Urlaub, ließ aber mitteilen, | |
dass die Schilderung im Ärzteblatt nicht der Wahrheit entspreche. Sie habe | |
„in keiner Weise auf eine bevorzugte Behandlung in der Notaufnahme | |
gedrängt“. Harald Proske, dem Autor, sei sie an diesem Tag auch überhaupt | |
nicht begegnet (soll wohl heißen: er weiß überhaupt nicht, wovon er | |
schreibt). | |
Auch eindeutige Fehler weist sie ihm nach. So habe sie nicht etwa ihre | |
Sekretärin vorgeschickt, sondern sei von einer zweiten Verfassungsrichterin | |
begleitet worden. Allerdings habe sie dann tatsächlich den „ihr bekannten | |
Chefarzt der Radiologie kontaktiert“, weil am Nachmittag die Beratungen im | |
Gericht fortgesetzt werden sollten. | |
Harald Proske hat sich inzwischen beim Gericht und der Richterin | |
entschuldigt. Laut der Karlsruher Tageszeitung Badische Neueste Nachrichten | |
war er nur knapp seiner Kündigung entgangen. Zumindest seine ärztliche | |
Schweigepflicht dürfte er in seinem Artikel verletzt haben. Und falls seine | |
Vorwürfe tatsächlich maßlos aufgebauscht waren, dann wäre auch das ein | |
Grund für Sanktionen. | |
Nur: Warum schreibt er so etwas? Ist er bloß ein Wichtigtuer oder hat er | |
sich doch zurecht aufgeregt? Vermutlich gab es Unmut bei den betroffenen | |
Mitarbeitern, der Proske zu Ohren kam. Und er hat dann daraus eine | |
pittoreske Anklage gegen den staatlichen Sittenverfall gedrechselt. Der | |
Kern des Geschehens wird also wohl nicht erfunden sein. | |
## Missstände der Medizin | |
Und doch zielt Proskes Beitrag in die falsche Richtung. Denn die | |
eigentlichen Missstände sind in diesem Fall doch eher solche der Medizin, | |
und zwar in zweierlei Hinsicht. So kann man mit etwas Empathie wohl | |
durchaus verstehen, dass sich ein Mensch, der starke Schmerzen leidet, nach | |
einer gewissen Zeit auf alles Mögliche beruft, um von den Schmerzen befreit | |
zu werden. | |
Der Richterin war eine Wartezeit von zwei bis drei Stunden angekündigt | |
worden, und sie hatte einen sehr komplizierten und sehr schmerzhaften | |
Fingerbruch. In dieser Situation war ihr vermutlich die Fortsetzung der | |
Senatsberatung nicht das primäre Anliegen, sondern die Befreiung von ihren | |
Schmerzen. Und wenn eine Notaufnahme Menschen in diesem Zustand unversorgt | |
zwei bis drei Stunden warten lassen will, braucht sie sich nicht zu | |
wundern, wenn die Betroffenen dann auch Argumente vorbringen, die aus | |
demokratischer Sicht nicht ganz angemessen sind. | |
Ähnliches gilt für den zweiten Akt des Vorfalls. Unbestritten suchte und | |
fand die Richterin dann Hilfe bei einem befreundeten Chefarzt. Doch die | |
Möglichkeit, die langwierige Notaufnahme zu umgehen, hatte sie nicht nur, | |
weil sie den Radiologen kannte oder weil sie ein wichtiges Amt innehat. | |
Nein, die freie Arztwahl hatte sie, weil sie - wie wohl alle Richter und | |
Beamte in Deutschland - privat versichert ist (ergänzend zur staatlichen | |
Beihilfe). | |
Vermutlich wird sich die Verfassungsrichterin beim nächsten Fingerbruch | |
erst gar nicht in die Notaufnahme setzen, sondern gleich einen Mediziner | |
ihres Vertrauens aufsuchen. Diese Form der Zwei-Klassen-Medizin wird den | |
Ärzten aber nicht von der Politik aufgezwungen, vielmehr ist er ein | |
zentrales Anliegen der organisierten Ärzteschaft. | |
Es geht also nicht um Charaktermängel einer gefallenen | |
Verfassungsrichterin, wie das Deutsche Ärzteblatt nahelegt, sondern um | |
unmenschliche Zustände in Krankenhäusern und ein | |
Krankenversicherungssystem, das die Gleichheit vor dem Arzt schon im Ansatz | |
verhindert. | |
18 Aug 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.aerzteblatt.de/archiv/143427/Notaufnahme-Gleicher-als-die-andere… | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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