| # taz.de -- Ärzte versagen bei schwer kranker Patientin: Frau Akin wird behand… | |
| > Mehrfach wird Ayten Akins Natriummangel in Bremer Kliniken gefährlich | |
| > unterschätzt – obwohl ihr Sohn Ärzte warnt und darauf hinweist. Nun ist | |
| > sie ein Härtefall nach Pflegerichtlinie – und er kämpft für ihr Recht. | |
| Bild: Kämpft für die Rechte seiner Mutter: Noah Akin (rechts) mit seinem Anwa… | |
| Am Ende bricht der Himmel auf und gespiegelt gelangt die Sonne doch noch in | |
| Raum 102 und überstrahlt das Kunstlicht. „Das Wetter wird schön“, sagt | |
| Amtsrichterin Birgit Martensen, lacht, als hätte sie selbst dafür gesorgt. | |
| Und hat ja auch wirklich eine Art Wunder vollbracht. Hat Noah Akin etwas | |
| vom Glauben zurückgegeben, ins Gesetz, in den Rechtsstaat und seine | |
| Institutionen. Und das in einem drögen Zivilprozess ums Arzthaftungsrecht. | |
| Martensen glückt das während des Resümees der Aktenlage, mit dem so | |
| schlichten wie einsichtigen Satz: „Die Frau Akin hätte nicht aus dem | |
| Krankenhaus entlassen werden dürfen.“ Und genau darum geht es. | |
| „Es ist so ungerecht“, das sagt Noah Akin immer, wenn er den Fall seiner | |
| Mutter schildert, „es ist ungerecht“, mal früher, mal später. „Ungerecht | |
| und unmenschlich.“ Und das stimmt, auch wenn die Hand des Rechts das nicht | |
| immer fassen will: „Einen so extremen Fall habe ich nicht noch einmal | |
| erlebt“, bestätigt Gesundheitswissenschaftler Michael Bialek. „Die werfen | |
| die alte Frau einfach aus dem Krankenhaus, obwohl sie schwer krank ist.“ | |
| Patientenberater Bialek vermutet ökonomische Gründe. „Die Fallpauschale war | |
| aufgebraucht“, erläutert er. Eine Sicht, die das Klinikum zurückweist. | |
| “Hy- po- na- tri- ä- mie“, Richterin Martensen hat sich sorgfältig | |
| eingearbeitet, aber vor dem Fachbegriff hat sie Respekt, liest ihn ab, | |
| Silbe für Silbe. Noah Akin nickt. Nur wenigen ist der Ausdruck so geläufig | |
| wie ihm. Dabei ist der Natriummangel im Blut eine häufige Krankheit im | |
| Alter. Noah Akin hat in all den Jahren viel über sie gelernt, in der Flut | |
| der Verfahren, Strafrecht, Haftungsrecht, sogar per Petition auf | |
| politischer Ebene. Ein abgeklärter Jura-Profi ist er darüber nicht | |
| geworden. „Ich hoffe, ich bekomme Gelegenheit, zu sprechen“, sagt der | |
| kompakte Mittvierziger vor der Sitzung im Gerichtsflur zu Lovis Wambach, | |
| seinem Zivilrechts-Anwalt. „Wozu?“, fragt der zurück, schaut ihn übern | |
| Brillenrand an. „Für die Gegenseite ist doch nur der Anwalt da“, sagt | |
| Wambach. „Für den ist das nichts Persönliches.“ | |
| Kopfschmerz, Schwindel, Koma, das Krankheitsbild ist diffus. Sehr oft | |
| neigen die Betroffenen zu Stürzen. Das erhöht die Frakturrate und mit ihr | |
| die Zahl der Klinikaufenthalte, wo wiederum die Medikamentenvergabe den | |
| Ausbruch einer Hyponatriämie begünstigen kann. Es sei denn, die Kontrollen | |
| sind gut. Das sind sie aber nicht immer. | |
| „Da ist etwas schief gelaufen“, stellt Richterin Martensen fest, als sie | |
| den Fall referiert, genauer: Jenen Ausschnitt des Falls, um den es im Raum | |
| 102 geht, der Vorgang im Klinikum Bremen Ost, vor fünf Jahren, der nur der | |
| erste Anfang war. Denn zu den Besonderheiten des Falls von Ayten Akin | |
| gehört, dass der heute 79-Jährigen mehrfach das Gleiche widerfährt, mit | |
| Variationen auf der Skala der Bösartigkeit. Zweimal muss Noah Akin seine | |
| Mutter wieder in eine Klinik bringen, wegen akuter Hyponatriämie, | |
| unmittelbar nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden ist. Muss | |
| bedeutet: weil Lebensgefahr besteht, und unmittelbar: höchstens Stunden | |
| später. | |
| Die Gegenseite mauert. Dabei scheint ein Kompromiss leicht: Im Saal 102 ist | |
| die Formel schnell gefunden, 1.000 Euro, mehr nicht, ein paar | |
| Anwaltshakeleien noch, „keine Anerkenntnis“, klack!, Richterin Martensen | |
| drückt die Diktaphontaste, „sämtliche Ansprüche“, klack! „nicht | |
| berührt...“, klack! Es geht hier mehr ums Prinzip als ums Geld. | |
| Das gilt erst recht an der zweiten Front, im Strafrecht: Sven Sommerfeldt | |
| vertritt Akin da, „mein Mandant will Genugtuung“, so der Anwalt. „Es geht | |
| darum, dass die Ärzte damit nicht einfach davonkommen“, so erklärt Noah | |
| Akin das. „Die haben meine Mutter einfach entsorgt“, sagt er. „Irgendetwas | |
| muss doch darauf folgen.“ Nein, findet die Staatsanwaltschaft. Sie hat alle | |
| Verfahren eingestellt. Vorsatz? Diese Frage stellt sie sich gar nicht. | |
| Beim ersten Mal mag Sadiye Y. mit Ayten Akins Entlassung aus der Chirurgie | |
| des Klinikums Ost nicht warten, bis der Laborbefund vorliegt. Der Sohn | |
| protestiert, hält den Zustand der Mutter für kritisch. „Ich kenn‘ doch | |
| meine Mutter!“, sagt er. Er pflegt sie damals schon seit vier Jahren. Die | |
| Ärztin kennt kein Erbarmen. Zuhause erreicht Akin dann der Anruf, der Wert | |
| liege bei 117 mmol/l. Die Fachliteratur nennt das lebensbedrohlich und nur | |
| per Infusion zu therapieren. Frau Dr. med. Y. empfiehlt: Mehr Salz aufs | |
| Frühstücksei. | |
| Die strafrechtliche Privatklage gegen sie hat das Amtsgericht beschlossen, | |
| nicht zuzustellen. Dagegen hat Sommerfeldt Beschwerde eingereicht. Die | |
| liegt beim Landgericht. „Eilt!“ hat er zentriert in Fettschrift drüber | |
| getippt, „Verjährung tritt ein am 17. 07. 2013“. | |
| Beim Fall zwei dauert es bis dahin noch: Er trägt sich 2010 zu, im Klinikum | |
| Bremen Mitte. Angezeigt hatte Akin hier die diensthabende Ärztin Tina H. | |
| und Oberarzt Thorsten E. Die Staatsanwaltschaft hat dann beim Klinikum | |
| Bremen Mitte ein Gutachten bestellt. Also bescheinigt das Gutachten des | |
| Klinikums Bremen Mitte den Ärzten des Klinikum Bremen Mitte, am 15. 7. 2010 | |
| alles richtig gemacht zu haben. Ermittlung beendet. | |
| Zwei Tabletten drückt Tina H. Noah Akin am Abend des 15. 7. 2010 für die | |
| Mutter in die Hand. Die war am Vormittag dort entlassen worden, die | |
| Rippenfraktur war verheilt. Noah Akin fordert die erneute Aufnahme. Tina H. | |
| verweigert sie. Noah Akin zeigt das Einweisungsschreiben vom Hausarzt vor. | |
| Tina H. droht mit dem Sicherheitsdienst. Noah Akin besteht auf einem | |
| Vermerk, dass er sich der Entlassung widersetzt. | |
| Die Frau sei gut beieinander gewesen, behauptet Tina H.s Arztbrief. Der | |
| Sohn nimmt die Mutter an die Hand. Als sie vor der Tür stehen, kotet sie | |
| ein. Sie weint und weiß nicht, wo sie ist. Noah Akins Knie zittern. Was | |
| tun? Er ist völlig am Ende. Ein Taxifahrer tröstet die zwei, schlägt vor, | |
| sie ins Diakonie-Krankenhaus zu bringen. Dort wird Ayten Akin sofort an den | |
| Tropf gelegt. Akute, symptomatische Hyponatriämie, lautet der Befund. Drei | |
| Wochen wird sie behandelt: Der Natriumspiegel entgleitet während der ersten | |
| 14 Tage immer wieder komplett. Der damalige Staatsrat Hermann Schulte-Sasse | |
| aber behauptet in einer 2010 vor dem Petitionsausschuss abgegebenen | |
| Stellungnahme, die Behandlung hätte „ambulant durchgeführt werden“ könne… | |
| Die zwei Tabletten hätten gereicht. Es ist ungerecht. Es ist unmenschlich. | |
| Als Noah Akin ein Baby war, hatte er, noch in Istanbul, eine schwere | |
| Lungenentzündung. Die Türkei war damals ein Entwicklungsland. Im | |
| Krankenhaus gibt man ihn auf. „Die haben mich in Tücher gehüllt und auf den | |
| Boden gelegt, auf Steinfliesen“, erzählt er, wie ihm es seine Mutter | |
| erzählt hat. Ayten Akin hat ihn aufgehoben, nach Hause getragen, hat mit | |
| geborgtem Geld Medizin gekauft. Und ihn gesund gepflegt. | |
| Ayten Akin wird nie wieder gesund. Mittlerweile ist sie ein Härtefall nach | |
| Pflegerichtlinie, Pflegestufe 3-plus. Kein Prozent der Stufe-3 Patienten | |
| gruppiert man da ein. Auch dafür hat ihr Sohn noch kämpfen müssen. Aber der | |
| ist zäh. Und er nutzt jedes legale Mittel, auch die Petition hat er | |
| probiert, „aber die hätte ich mir schenken können“,sagt er. | |
| Wobei: Immerhin führt die zu jener bemerkenswerten Stellungnahme von | |
| Staatsrat Schulte-Sasse. Heute ist der parteilose Arzt Gesundheitssenator. | |
| Mit einem Schreiben vom 9. 9. 2010 belehrt er den Petitionsausschuss der | |
| Bremischen Bürgerschaft, dass im Fall von Frau Akin „keine schwere | |
| Elektrolytstörung“ vorgelegen habe, da „eine schwere Hyponatriämie erst ab | |
| einem Natriumwert von 105 mmol/l besteht“. | |
| Diese Aussage ist falsch. | |
| Sie ist grob wahrheitswidrig und ein Versehen lässt sich ausschließen: Auf | |
| Nachfrage der taz.nord teilt das Ressort am 4. 7. 2013 mit, die Petition | |
| sei damals „nach aktuellem Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse behandelt | |
| worden“. Der Bitte um Präzisierung weicht der Sprecher tags darauf aus, | |
| indem er nun behauptet, es sei eigentlich „von einem Wertekorridor zu | |
| sprechen, in dem eine Behandlungsnotwendigkeit vorliegt“. Aber im Korridor | |
| der Natriummangel-Therapie spielt der Wert von 105 mmol/l auch damals nur | |
| eine Rolle: Ab dieser Serumkonzentration ist der Tod laut klinischen | |
| Studien wahrscheinlicher als das Überleben. | |
| Die Aussage, die Schulte-Sasse auch in der mündlichen Anhörung bekräftigt, | |
| stützt sich nicht auf Fakten oder Forschung, sondern nur auf seine eigene | |
| Autorität – und den Willen, die Petition zurückzuweisen. Es ist eine Lüge. | |
| Der Petitionsausschuss aber folgt ihr. Am 12. 4. 2010 bittet er die | |
| Bürgerschaft, die „Eingabe für erledigt zu erklären“. | |
| Gerecht? Manchmal verfällt Noah Akin in eine negative Weltsicht, spricht | |
| von einer Ärzte-Mafia, vermutet eine Verschwörung, Staatsanwaltschaft, | |
| Klinik, Senat, ein Bollwerk ohne Lücke. Aber er rennt dagegen an, stets den | |
| Kopf voraus. Er kann gar nicht aufhören. „Ich schulde das meiner Mutter“, | |
| sagt er. Zwei Jahre war er, da floh sie mit ihm nach Deutschland, vor dem | |
| Vater, der sie schlug und trat. „Sie hat mich auf den Arm genommen – und | |
| ist abgehauen.“ Hier hat Ayten Akin 35 Jahre lang gearbeitet, hat | |
| geschuftet, als ungelernte Hilfskraft und für schmales Geld – in der Küche | |
| einer Klinik in Bremen. | |
| 8 Jul 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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