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# taz.de -- Armut in Deutschland: Der Suppenküchenstaat wächst
> Der Armutsforscher Christoph Butterwegge erzählt von der Umwandlung des
> Sozialstaats. Er malt ein beunruhigendes Bild unserer gespaltenen
> Gesellschaft.
Bild: Wenigstens ein Apfel.
„Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir
haben bei der Unterstützungszahlung die Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen,
sehr stark in den Vordergrund gestellt.“ (Bundeskanzler G. Schröder vor dem
World Economic Forum 2005 in Davos über die Hartz-IV-Gesetze.)
„Ich fange einfach mal an“, sagt Herr Butterwegge und wirkt total
entspannt: „Mit der Agenda 2010 leitete die rot-grüne Koalition unter
Kanzler Gerhard Schröder einen radikalen Kurswechsel ein, der die
sogenannte Lissabon-Strategie im nationalen Rahmen umsetzte. Auf dem
dortigen EU-Sondergipfel im März 2000 hatten die Staats- und
Regierungschefs der Mitgliedstaaten als ’strategisches Ziel‘ für das
Jahrzehnt beschlossen und verlautbart, ’die Union zum wettbewerbsfähigsten
und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen –
einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum
mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen
Zusammenhalt zu erzielen.‘
Von Beginn an wurde gelogen und beschönigt, Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld
II, war nicht, wie das der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder so
irreführend formulierte, ’eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe‘, da wurde nichts zusammengelegt, die Arbeitslosenhilfe wurde
schlicht abgeschafft! Spätestens seit den sog. Hartz-Gesetzen für ’moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ ist feststellbar, dass die etablierten
Parteien die Interessen der Langzeitarbeitslosen, der Armen, der
Geringverdiener immer weniger vertreten, sonst hätten sie nicht solche
Gesetze gemacht, wie Zeitarbeit und Leiharbeit zu deregulieren, Mini- und
Midi-Jobs einzuführen und damit einen breiten Niedriglohnsektor zu
schaffen.
Die Prekarisierung der Lohnarbeit ist ja das Haupteinfallstor für Armut bei
uns heute in der Bundesrepublik. Und aus dieser Erwerbsarmut wird
automatisch Altersarmut. Altersarmut ist also das Ergebnis der
Deregulierung des Arbeitsmarkts, der Demontage des Sozialstaats im
Allgemeinen und der Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung durch
Teilprivatisierung der Altersvorsorge im Besonderen.
Seit der Einführung von Hartz IV im Januar 2005 hat sich nicht nur die
soziale Ungleichheit verschärft, es wurde auch das Leistungsniveau für den
Bürger stark abgesenkt. Die ’Reform‘ des Sozialstaats zieht zwangsläufig
eine Pauperisierung nach sich. Zunehmend mehr Menschen werden von
Verarmungsprozessen erfasst. Sie sind die Hauptleidtragenden dieser
Politik, und viele wenden sich entsetzt von den etablierten Parteien oder
überhaupt von der Politik ab.
Die Verarmenden und Armen ziehen sich immer mehr zurück, schon deshalb,
weil die Teilhabe am öffentlichen gesellschaftlichen Leben ja auch Geld
kostet. Sie steigen auch nicht auf die Barrikaden, weil sie ganz andere
Sorgen haben, etwa die, wie sie am 20. des Monats noch was Warmes auf den
Tisch kriegen. Die soziale Spaltung vertieft sich zusehends, und wir kommen
in einen Teufelskreis, der uns, wenn wir nicht aufpassen, auch eine
Brutalisierung unserer Gesellschaft bringen wird, mit mehr Drogensucht,
Alkoholismus, Kriminalität auf den Straßen und vielem anderen mehr.
## Die Armen gehen nicht mehr wählen
Dass die Armen sich als Fremde im eigenen Land fühlen, wurde bei der
jüngsten Bundestagswahl besonders in den westdeutschen Großstädten
augenfällig, es zeigte sich, dass sie vielfach gar nicht mehr wählen gehen.
Hier in Köln gab es in Hochhaussiedlungen Wahlbeteiligungen von 40 Prozent,
in den Villenvierteln lag sie bei fast 90 Prozent. Das zeigt, wir haben
nicht nur eine Krise des Sozialstaats, der Wirtschaft, des Finanzmarkts,
wir haben auch eine Krise des Repräsentativsystems der repräsentativen
Demokratie!
Die sozial Benachteiligten sind derart desillusioniert, dass sie am
politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess gar nicht mehr
teilnehmen. Eine Demokratie sieht anders aus, Demokratie bedeutet für mich,
dass alle Menschen, die in einem Land leben, in der Lage sind, über dessen
Schicksal – und damit über ihr eigenes – politisch mitentscheiden zu
können. Das können sie aber eher nicht, wenn sie hoffnungslos sind, wenn
ihre soziale Absicherung gefährdet ist bzw. am seidenen Faden hängt, weil
sie Angst davor haben, am nächsten Monatsende ihre Miete nicht mehr zahlen
zu können oder dass ihnen Strom und Gas abgestellt wird, oder weil sie
’Transferleistungen‘ beziehen und ständig entwürdigenden Schikanen
unterworfen sind.
Woran es für die Betroffenen spürbar fehlt, ist Gerechtigkeit. Es gibt ja
die gefühlte und gemessene Gerechtigkeit … also das möchte ich mal etwas
genauer ausführen: Mit dem Begriff Gerechtigkeit wird zunehmend Schindluder
getrieben. An die traditionelle Vorstellung von Gerechtigkeit wird kaum
noch angeknüpft.
Im politischen Raum sind das immer die Bedarfsgerechtigkeit und die
Verteilungsgerechtigkeit gewesen. Bedarfsgerechtigkeit bedeutete,
demjenigen, der durch Behinderung, Arbeitslosigkeit und ähnliche
Zwangslagen Hilfe braucht, diese auch ausreichend zur Verfügung zu stellen.
Aufgabe des Sozialstaats war es, die Armut zu bekämpfen und die Bürger vor
bestimmten Lebensstandard… nein Standardlebensrisiken, zu schützen,
Krankheit Unfall usw. – was bei uns durch die Sozialversicherungen geregelt
ist.
Und daneben gab’s die Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit, davon, dass
die Aufgabe des Sozialstaats natürlich auch darin besteht – als dritte
Hauptfunktion des Sozialstaats quasi –, für sozialen Ausgleich zu sorgen,
dafür, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht immer tiefer wird.
Das war bei den Vätern und wenigen Müttern unserer Verfassung eine ganz
konkrete Absicht, dass sie in Artikel 20 und Artikel 28 deutlich
reingeschrieben haben, die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer
Bundesstaat bzw. ein sozialer Rechtsstaat. So, das beruhte auf der
Vorstellung, es muss Verteilungsgerechtigkeit geben, also es darf der
Reichtum des Landes sich nicht in den Händen von wenigen konzentrieren, so
dass für die große Masse der Bürger kaum Nennenswertes übrig bleibt.
Heute ist es aber genau so. Selbst der beschönigte 4. Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2013 sagt, dass die reichsten 10
Prozent der Haushalte über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens in Händen
halten, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 50 Prozent, nur
über 1 Prozent des Gesamtnettovermögens verfügen darf. Über 40 Millionen
Menschen leben sozusagen von der Hand in den Mund.
Der Durchschnittsverdiener, der kein Vermögen besitzt, sondern lediglich
nur seinen ungesicherten Arbeitsplatz, befindet sich in einer Art sozialem
Schwebezustand zwischen Armut und Wohlstand, vom Absturz trennt ihn nur
eine schwere Erkrankung oder die noch nicht ausgesprochene Kündigung.
## Nur Reiche könn sich armen Staat leisten
Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4
Billionen Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staats laut 4. ARB in
den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Milliarden Euro gesunken.
Entsprechend sind die Auswirkungen. Es wird verkündet, man müsse ’den
Gürtel enger schnallen‘.
Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten, sie umsorgen sich
selbst, ihre Kinder besuchen Privatschulen und ausländische Universitäten,
sie sind auf gute staatliche Schulen und Krankenhäuser, auf öffentliche
Schwimmbäder, Bibliotheken und sonstige kommunale Einrichtungen nicht
angewiesen. Aus ihrer Wahrnehmung fällt die Lebensrealität eines abhängig
Beschäftigten vollkommen heraus.“ (Heute muss ein Arbeitnehmer 45 Jahre
lang in Vollzeit arbeiten, und das zu einem Stundenlohn von über 10 Euro,
damit er im Alter eine Rente knapp über dem Hartz-IV-Niveau erreicht. 4,7
Millionen Arbeitnehmer verdienen aber derzeit weniger. Anm. G.G.)
„Jedenfalls, diese beiden Vorstellungen von Gerechtigkeit, zum einen
Bedarfsgerechtigkeit als Aufgabe des Sozialstaats herzustellen und zum
anderen Verteilungsgerechtigkeit, die werden mehr und mehr verdrängt.
Natürlich durch neoliberale Ideologen, ihre Thinktanks und Einrichtungen.
Da gibt es z. B. das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln mit seinem
Direktor Michael Hüther, der behauptet, diese Kluft zwischen Arm und Reich
sei ein Märchen, in Wirklichkeit schließe sie sich – oder würde zumindest
nicht größer.
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat als Lobbyeinrichtung der
deutschen Wirtschaft natürlich ein verständliches Interesse daran, die
soziale Ungleichheit kleinzurechnen. Da wird jetzt sehr stark die
’Chancengerechtigkeit‘ betont. Sie haben eine Untersuchung gemacht, bei der
angeblich rausgekommen ist, dass die Chancengerechtigkeit die
Teilgerechtigkeit ist, die die Deutschen am wichtigsten finden.
Früher in den 70er Jahren sprach man mal von Chancengleichheit als Ziel.
Heute nehmen nicht nur die FDP, sondern auch andere Parteien diese
Chancengerechtigkeit in ihre Programmatik auf. Damit ist aber gar nichts
ausgesagt, es ist so, als würde man mir und allen anderen ermöglichen, zur
Lottoannahmestelle zu gehen und Lotto zu spielen. Dann hätten wir diese Art
von Chancengerechtikeit.
Der vorherrschende Gerechtigkeitsbegriff wurde in dreifacher Hinsicht
transformiert: von der Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit, von der
Verteilungs- zur Teilhabegerechtigkeit und von der sozialen Gerechtigkeit
zur Generationengerechtigkeit, wobei dieser Begriff ablenken soll von der
wachsenden Ungerechtigkeit innerhalb aller Generationen. Eines jedenfalls
ist vollkommen unbestreitbar: Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn es ein
Mindestmaß von sozialer Gleichheit gibt.
Das auszublenden, dass das nicht der Fall ist, es möglichst zu verdrängen,
ist Ziel der Propagierung von solchen neuen, modischen Vokabeln und
Leerformeln. Sprachkritik ist auch sehr wichtig. Die Verdrehung von Worten
und Werten, die Umdeutung tradierter Begriffe wie Gerechtigkeit,
Gleichheit, Reform, das ist Sprachmissbrauch als politisches Instrument zum
Zweck der ’Gehirnwäsche‘ und Vernebelung ihrer ursprünglichen Bedeutung.
## Nur Bildung reicht nicht
In der Zeit des ’Wirtschaftswunders‘ in der Bundesrepublik gab es den
Slogan ’Wohlstand für Alle‘, er stammt vom 1957 erschienenem gleichnamigen
Buch von Ludwig Erhard. Heute ist nur noch ’Bildung für alle‘ das
Versprechen, das die Bundeskanzlerin gibt. Dieses Versprechen, die Armut
mit Bildung zu bekämpfen, kann vielleicht für Einzelfälle funktionieren, es
ist aber Bildung längst kein Garant mehr dafür, dass sie ein berufliches
Fortkommen und gutes Einkommen sichert.
11 Prozent aller im Niedriglohnsektor Tätigen haben z. B. einen
Hochschulabschluss. Selbst im öffentlichen Dienst an den Hochschulen sind
es 80 Prozent inzwischen, die nur noch eine befristete Stelle haben. Also
das ist ein Bereich, der ja allgemein als gesellschaftlich privilegiert
gilt. Dennoch wird unverdrossen propagiert, es soll aus der Bundesrepublik
eine Bildungsrepublik gemacht werden. Wer keine oder nur schlecht bezahlte
Arbeit hat, hat eben nicht genug Bildungsanstrengungen gemacht.
Tatsächlich ist es aber so, dass bei immer besserer Bildung die Jungen z.
B. einfach nur auf höherem Niveau um die Arbeitsplätze konkurrieren,
unbezahlte Praktika machen und dass noch mehr Taxifahrer mit
Hochschulabschluss herumfahren.
Und an den Hochschulen selbst ist die Bildung ja auch ’verschlankt‘ worden.
Unter Bildung wird nur noch berufliche Qualifikation verstanden, die
Hochschulen sollen in möglichst kurzen Studiengängen, sprich
Bachelor-Studiengängen, für den Arbeitsmarkt die erforderlichen Kräfte
produzieren. Ich habe natürlich Bachelorisierung, Masterisierung,
Modularisierung und all das bekämpft, denn im Grunde wird die Universität
dadurch reduziert auf eine akademische Berufsschule.
Zugleich wurde die Hochschule umstrukturiert, und ich muss mit ansehen, wie
stark auch meine Universität hier immer mehr zu einem Unternehmen gemacht
wird. Stichwort Exzellenzinitiative. Auf dem Einzelnen lastet ein immer
stärker werdender Druck, nur noch das an Wissenschaft zu produzieren, was
verwertbar ist und ökonomischen Gewinn abwirft. Der Konformismus in der
Wissenschaft ist inzwischen so groß, wie er seit den 50er Jahren der
bleiernen Adenauerzeit nicht mehr war.
Bildungsversprechen taugen nicht zur Armutsbekämfung. Und auch nicht
Reichtumsförderung auf steuerpolitischem Gebiet. Was nötig wäre, ist eine
Umverteilung nach unten, und zwar von Einkünften, Vermögen und auch von
Arbeit. Arbeitszeitverkürzung wäre ein ganz wichtiger Ansatz und ebenso
Lebensarbeitszeitverkürzung. Unabdingbar ist natürlich eine inhaltliche,
organisatorische und strukturelle Erneuerung des sozialen
Sicherungssystems.
Wobei ich Ihnen an dieser Stelle sagen muss, ich halte nichts vom
’bedingungslosen Grundeinkommen‘. Das wird Sie vielleicht wundern, aber ich
will meine Gründe darlegen, vielleicht kann ich Sie ja überzeugen: Ins
Gespräch gebracht wurde es als Alternative zum Sozialstaat, nach dem Motto,
wir vertrauen jetzt nicht mehr auf unsere bisherigen sozialen
Sicherungssysteme, sondern wir lösen das, was einstmals hart erkämpft wurde
und wie es besteht seit Bismarck, ab und ersetzen es komplett durch ein
steuerfinanziertes bedingungsloses Einkommen. Das ist für mich
Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip, ein Grundeinkommen für alle
Mitglieder der Gesellschaft, ob arm ob reich.
## Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Falle
Hier wird das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit vollkommen auf den Kopf
gestellt. Es gibt verschiedene Modelle, wobei das Konzept der Linken sich
allerdings von dem der anderen unterscheidet. Einer der Hauptvertreter fürs
bedingungslose Grundeinkommen ist Götz Werner, Milliardär und Gründer der
DM-Drogeriemarkt-Kette, und der braucht nun wirklich kein bedingungsloses
Grundeinkommen von 1.000 oder 1.500 Euro vom Staat. Ich als C4-Professor
brauche es auch nicht.
Die andere Sache ist aber, dass es für die, die es brauchen, eine Falle
ist. Es wäre im Grunde ein Kombi-Lohn für ALLE. Es wäre ein eindeutiges
Signal an die Unternehmer, das als Lohnsubvention aufzufassen. Der ohnehin
schon ausufernde Niedriglohnsektor, in dem jetzt schon fast alle
Beschäftigten arbeiten – über 4 Millionen Menschen arbeiten für einen
Bruttostundenlohn von unter 7 Euro –, der würde noch breiter.
Sehr deutlich ist das heute ja schon an der immer größer werdenden Zahl von
’Aufstockern‘. Hartz IV ist ja nicht nur für Langzeitarbeitslose, es werden
auch 1,3 Millionen Erwerbstätige finanziert, weil ihre Einkommen so gering
sind, dass sie ergänzend finanzielle Leistungen vom Jobcenter in Anspruch
nehmen müssen.
Und wenn man das Grundeinkommen finanzieren will, so wie Götz Werner,
nämlich über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, dann wird das Geld beim
Einkauf ja schon wieder aufgezehrt. Dem hält er das Argument entgegen, dass
durch den von ihm gewünschten vollkommenen Wegfall der Einkommens-,
Gewerbe- und Körperschaftssteuer für Unternehmer diese dann, wegen der
finanziellen Entlastung, ihre Preise senken würden. Das ist natürlich ein
genialer Einfall, um auch noch die letzten Verpflichtungen loszuwerden.
Außerdem würde eine 50- oder 100-prozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer
dazu führen, dass gerade diejenigen, die wenig haben, die sozial
Benachteiligten, die jeden Cent in den notwendigen Alltagskonsum stecken
müssen, ihr bedingungsloses Grundeinkommen auch noch selber finanzieren.
Ich kann natürlich verstehen, dass viele, die durch Schikanen und
Sanktionen der Jobcenter drangsaliert werden und keine ruhige Nacht mehr
haben, nach diesem Strohhalm nur allzu gerne greifen würden.
## Licht am Ende des Tunnels
Aber das Licht am Ende des Tunnels würde sich bald als Trugschluss
erweisen, denn über das Grundeinkommen hinaus gibt es dann keinerlei
verbürgten Rechtsanspruch mehr. Auf nichts! Es ist alles abgegolten. Die
eigentlichen Gewinner sind wieder mal nur die Vermögenden und Unternehmen,
die endlich von allen Abgaben befreit wären.
Es ist ja heute schon so, dass nur noch Rudimente der ehemaligen Ansprüche
der Arbeitnehmer und Arbeitslosen übrig geblieben sind. Dahinter steckt die
Absicht, dass der Sozialversicherungsstaat in der Tradition Bismarcks mehr
und mehr zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat gemacht wird.
Im Resultat führt das zu einer ’US-Amerikanisierung‘ unseres Sozialstaats.
Und es führt dazu, dass den prestigebedachten Reichen die Möglichkeit
eröffnet wird, zu spenden, zu stiften, als Mäzene aufzutreten und Almosen
zu verteilen. Almosen übrigens, die verteilte der Sozialstaat vor seiner
Demontage nämlich gerade nicht, weil er die Grundrechte beachten musste und
sein Handeln auf Rechtsansprüchen beruhte. Almosenempfänger hingegen haben
keinen Rechtsanspruch. Sie sind der Bereitschaft der Reichen ausgeliefert,
etwas abzugeben von ihrem Reichtum.
Das spiegelt auch genau dieses neoliberale und marktradikale Denken wider,
dass das mündige Individuum im Sinne seiner Freiheit – jetzt nicht der
Freiheit des Citoyens, sondern des Bourgeois, und diese Unterscheidung ist
wesentlich – entscheidet, was und wofür und wem es gibt von seinem
Reichtum. Die Bedürftigen hingegen haben die Freiheit, Wohlverhalten,
Bescheidenheit, Fügsamkeit und natürlich auch Dankbarkeit an den Tag zu
legen – oder auch nicht.
Nein! Wofür ich plädiere, ist etwas ganz anderes: eine allgemeine,
einheitliche und solidarische Bürgerversicherung als eine konsequente
Weiterentwicklung des von Bismarck begründeten Sozialversicherungssystems.
Dazu ist ein Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer
Sozialversicherung aller Wohnbürgerinnen- und -bürger nötig. Und dadurch
erfährt diese Bürgerversicherung auch ihre wichtigste Rechtfertigung, dass
sie nämlich den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte
Wohnbevölkerung einbeziehenden solidarischen Sicherungssystem verwirklicht.
## Es braucht eine Bürgerbewegung
Dass nicht mehr nur Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch
Selbständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete, Minister usf. mit ihren
sämtlichen Einkommen und Einkunftsarten zur Finanzierung der Leistungen im
Sozial- und Gesundheitsbereich herangezogen oder ’verbeitragt‘ werden, wie
der Fachausdruck heißt. Ich bin übrigens, das ist ein wichtiger Punkt, den
ich einschieben möchte, nicht für den Wegfall des Arbeitgeberbeitrages,
sondern im Sinne einer Maschinensteuer, eines Wertschöpfungsbeitrags kann
ich mir sogar vorstellen, dass man das noch ausweitet. Jedenfalls kann ich
mir eine solidarische Bürgerversicherung für alle geeigneten
Versicherungszweige vorstellen, auch für die Kranken-und Pflegeversicherung
.
Und es ist doch die Frage, warum eigentlich der riesige private Reichtum
nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt
werden sollte. Es muss sich endlich, um das durchzusetzen, eine breite,
möglichst alle Bevölkerungsschichten übergreifende Bürgerbewegung
herausbilden, die solch eine Bürgerversicherung mit aller Macht einfordert
und damit eine Umverteilung von oben nach unten ermöglicht. Und es muss
durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung dafür gesorgt werden, dass es
keine Armut, Unterversorgung und soziale Exklusion gibt. Bürgerversicherung
und Grundsicherung müssen als siamesische Zwillinge gedacht werden.
Diese soziale Grundsicherung muss ihren Namen aber auch verdienen. Sie muss
deutlich über dem Niveau der heutigen Sozialhilfe liegen. Sie muss das
soziokulturelle Existenzminimum – und zwar ohne eine entwürdigende
Antragstellung und eine bürokratisch-exzessive Bedürftigkeitsprüfung –
wirklich problemlos sicherstellen. Sie muss also armutsfest und
repressionsfrei sein und eine weder durch Existenzangst bestimmte noch von
Ausgrenzung bedrohte Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben
ermöglichen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Modell nicht durch die
’Grundsicherung für Arbeitsuchende‘ im SGB II nach Hartz IV für immer
diskreditiert ist.
Mein Resümee ist: Wenn hier der Neoliberalismus mit seiner marktradikalen
Sozialphilosophie – von der ich sage, dass sie eine politische
Zivilreligion ist, die im Grunde alle Poren der Gesellschaft bereits
durchdringt –, wenn die zur herrschenden Weltsicht wird, dann geht das
einher mit einem rigiden Armutsregime, mit einer Kriminalisierung der Armen
und Stigmatisierung der Überflüssigen.
Ich halte nichts von der Verelendungstheorie, deshalb sage ich, gegen eine
solche Entwicklung müssen sich breite Bündnisse bilden zwischen
Arbeitslosenforen, Gewerkschaften, Kirchen, Globalisierungskritikern wie
Attac und den vielen anderen kritischen Organisationen und Initiativen, die
ja zahlreich existieren in diesem Land. Es gibt in der Gesellschaft so
einen Unwillen, eine Unzufriedenheit in dem Sinn, dass man mit sich mit dem
Status quo nicht mehr abspeisen lassen will.
Ich wünsche mir eine Renaissance des Solidaritätsgedankens und die
Schaffung eines ’inklusiven‘ Sozialstaats, der alle Lebensformen toleriert
– nicht wie Rot-Grün einen ’investiven‘, dessen Sozialpolitik zwangsläu…
zu noch mehr sozialer Selektion führt. Sicher, ich bin mir absolut bewusst
darüber, mit einem inklusiven Sozialstaat ist noch lange nicht der
Kapitalismus beseitigt, aber man hat ihn mit Sicherheit etwas erträglicher
gemacht, fürs Erste. Das ist die Dialektik, die dem Sozialstaat innewohnt.
Ein solcher Sozialstaat wäre aber sozusagen die vorgeschobenste Bastion
einer Bewegung, die einen Systemwechsel anstrebt und die will, dass dieser
Finanzmarktkapitalismus überwunden wird.“
25 Nov 2013
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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