# taz.de -- Hirnforscherin über Folgen von Armut: „Flucht- oder Kampfverhalt… | |
> Kinder, die in Armut aufwachsen, sind als Erwachsene häufiger krank. Das | |
> sagt die US-Neurowissenschaftlerin Pilyoung Kim. | |
Bild: Stress in der Kindheit kann Jahre später vielfältige Krankheitssymptome… | |
sonntaz: Frau Kim, Sie haben in einer neurowissenschaftlichen Studie | |
festgestellt, dass Kinder, die in Armut aufwachsen, als Erwachsene | |
verstärkt unter schweren körperlichen und psychischen Problemen leiden. | |
Warum? | |
Pilyoung Kim: Es gibt viele Arten von Stress, die Kinder erfahren können. | |
Kinder aus Familien mit einem niedrigen oder mittleren Einkommen können | |
unter der Trennung ihrer Eltern leiden, aufgrund von Erfahrungen mit Gewalt | |
in Familie und Nachbarschaft oder Konflikten in der Familie. Sie leben | |
unter Umständen in schwierigen, beengten und lauten Wohnverhältnissen. Wir | |
haben festgestellt, dass Kinder, die nicht in Armut leben müssen, meist nur | |
einem dieser Stressfaktoren ausgesetzt sind, während es bei armen Kindern | |
oft viele zugleich sind. Es zeigt sich, dass multiple Stressfaktoren zu | |
einer höheren Wahrscheinlichkeit führen, später an Depressionen, | |
Angststörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fettleibigkeit zu | |
erkranken. | |
Sie haben Magnetaufnahmen der Gehirne von 49 Kindern gemacht, als diese 9 | |
waren, und sie mit 24 erneut untersucht. Wonach haben Sie gesucht und was | |
haben Sie herausgefunden? | |
Armut in der Kindheit hat negative Folgen im Erwachsenenalter. Wir wissen | |
aber wenig darüber, wie sich Armutserfahrungen in der Kindheit auf das | |
Gehirn auswirken. Wir haben neuronale Mechanismen entdeckt, die als | |
Vermittler die Verbindung zwischen Armut in der Kindheit und späteren | |
Gesundheitsproblemen herstellen. Wir haben herausgefunden, dass Erwachsene, | |
die mit neun Jahren in armen Familien lebten, geringere Aktivitäten in | |
bestimmten Gehirnregionen gezeigt haben, nämlich dem ventrolateralen und | |
dem dorsolateralen präfontalen Cortex, der für die Regulation negativer | |
Gefühle wie Wut oder Traurigkeit wichtig ist. Andererseits zeigten | |
Erwachsene, die als Neunjährige in armen Verhältnissen lebten, größere | |
Aktivität in der Amygdala, die Flucht- oder Kampfverhalten als Antwort auf | |
Stress in Gang setzt. | |
Warum begreifen Sie chronischen Stress als „Vermittler“ der Verbindung | |
zwischen Armut und Gesundheitsproblemen, wenn doch klar ist, dass Stress | |
die späteren Probleme verursacht? Bringen Sie so nicht Armut und Stress auf | |
unzulässige Weise durcheinander? | |
Wir nehmen an, dass Armut dafür verantwortlich ist, dass Kinder in einer | |
Umgebung aufwachsen, die toxischen Stress verursacht, der die Entwicklung | |
der Kinder negativ beeinträchtigt. | |
Wenn wir uns eine gutverdienende, aber drogenabhängige, alleinerziehende | |
Person vorstellen, die ihr Kind physisch oder psychisch misshandelt, aber | |
in einer schicken Wohnung lebt: Ist es denkbar, dass so ein Kind als | |
Erwachsener ähnliche Veränderungen im Gehirn aufweist? | |
Es ist richtig, dass jedes Kind Stress erfahren kann, und auch einzelne | |
negative Ereignisse können zu Veränderungen im Gehirn und sogar zu Traumata | |
führen. In unserer Arbeit beschäftigen wir uns aber mit dem Umstand, dass | |
arme Kinder viel wahrscheinlicher eine Vielzahl solcher Stresserfahrungen | |
machen, und das über einen längeren Zeitraum hinweg. | |
Sie glauben, dass frühe Armutserfahrungen im Organismus gespeichert werden, | |
dass sie Menschen lebenslang begleiten und zu Erkrankungen führen können. | |
Was folgt daraus für Erziehung, Politik und Gesundheitssystem? | |
In der Kindheit ist das Gehirn noch nicht ausgereift. Es entwickelt sich | |
sehr schnell und reagiert daher sensibler auf Erfahrungen. Weil | |
Armutserfahrungen in jungen Jahren zu langanhaltenden Veränderungen bei der | |
Entwicklung des Gehirns führen, die Regulierung von Gefühlen erschweren und | |
zu gesundheitlichen Problemen beitragen können, muss erhöhte Aufmerksamkeit | |
darauf gerichtet werden, Armut und chronischen Stress bei Kindern zu | |
vermeiden. Zudem müssen Kinder und ihre Familien von der Gesellschaft und | |
von Gemeinden mehr und besser unterstützt werden. | |
17 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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