# taz.de -- Hirnforscher übers Schulsystem: „Jeden Schüler für etwas begei… | |
> Gerald Hüther will nicht tatenlos warten, bis das Schulsystem kollabiert. | |
> Jedes Kind sei begabt, meint er, und das Schulsystem müsse reformiert | |
> werden. | |
Bild: Auch für sie will Hüther ein neues Schulsystem schaffen. | |
taz: Herr Hüther, viele Eltern fechten Noten vor Gericht an, weil sie | |
finden, dass der Einstein oder Goethe in ihrem Sprössling verkannt wird. | |
Ihr neues Buch heißt „Jedes Kind ist hoch begabt“. Wollen Sie diesen Eltern | |
den Rücken stärken? | |
Gerald Hüther: Ich will die Augen dafür öffnen, dass Kinder über viele | |
unterschiedliche Potenziale verfügen. Unsere Schule stellt rein | |
analytisch-kognitive Fähigkeiten in den Mittelpunkt – dadurch fallen viele | |
Kinder durch die Erbsensortieranlage, die Schule geworden ist. Das | |
dreigliedrige System mit seinem Begabungskonzept stammt aus dem vorigen | |
Jahrhundert. Es kommt aber heute nicht mehr so sehr darauf an, möglichst | |
viel auswendig zu lernen. Im Maschinenzeitalter brauchte man | |
Pflichterfüller. Leute, die in den Krieg gezogen sind und abgedrückt haben, | |
wenn jemand es befohlen hat. Im 21. Jahrhundert brauchen wir so etwas nicht | |
mehr. | |
China als Pisa-Sieger ist ein Land, das stark aufs Auswendiglernen setzt – | |
und sich zur wirtschaftlichen Weltmacht entwickelt hat. | |
Ja, in Schanghai sind die besten Pisa-Ergebnisse erzielt worden. Experten | |
vor Ort erzählen aber auch: Es ist ein unmenschliches System. | |
China ist eben China und nicht Deutschland. Man denkt dort eben anders über | |
Leistung und Freizeit. | |
Auch hierzulande kann man feststellen: Schule macht krank. Möglicherweise | |
ist es gerade die Eigenbrötlerei, das Tüftlertum, die Leidenschaft, sich | |
mit etwas Bestimmten zu beschäftigen, was wir brauchen, nicht das fleißige | |
Abarbeiten, das Pflichterfüllen. Der eigentliche Schatz, auf den wir in | |
unserem Kulturkreis zurückgreifen können, ist die Kreativität der Menschen, | |
sind diese begeisterten Tüftler und Erfinder. Das ist unser Potenzial, das | |
auch für unsere wirtschaftliche Entwicklung entscheidend ist. | |
Wirtschaftsforscher rechnen uns vor, dass verbesserte Grundfertigkeiten den | |
sogenannten Wohlstandsgewinn verfünffachen würden. | |
Man sollte vielleicht mal ausrechnen, wie groß der Schaden ist, den allein | |
schon ein einziger Mathematiklehrer anrichtet, der es jedes Jahr | |
fertigbringt, zehn Prozent seiner Schüler die Lust auf Mathe zu versauen. | |
Das ist nicht ihr Ernst! | |
Mein voller Ernst. Es wäre volkswirtschaftlich betrachtet günstiger, so | |
jemanden bei voller Bezahlung zu Hause zu lassen. Ein Kind verliert die | |
Lust an Mathe, weil ihm jemand deutlich macht, dass es zu blöd dafür ist. | |
Dann verliert es aber nicht nur die Lust an Mathe, sondern auch an | |
Naturwissenschaft und an allem, was damit zusammenhängt. | |
Dennoch kann man Ihren Satz, „jeder ist ein Genie“, auch als Polemik | |
verstehen. Was sollen Eltern sagen, deren Kinder ein Handicap haben? | |
Gerade die sogenannten Behinderten sind doch das beste Beispiel für | |
unerkannte Potenziale: Sehen Sie sich Trisomie-21-Kinder an. In den 50er | |
Jahren waren sogar Experten der Meinung, dass sie schwachsinnig seien und | |
per se nicht lernen könnten. Jetzt studieren die ersten. Heute wissen wir | |
also: Wofür diese Menschen tatsächlich unbegabt sind, ist | |
Frontalunterricht, bei dem ihnen etwas eingetrichtert werden sollte. Wofür | |
sie aber sehr sensibel sind, ist Lernen in Beziehung, dann werden sie zu | |
wahren Potenzialentfaltern. | |
Was ist das, Herr Hüther? | |
Es braucht Leute, die Kindern nicht etwas beibringen wollen, sondern etwas | |
aus ihnen herausholen. Unsere Erfahrung heißt: Ein Mathelehrer hat uns | |
versucht, was zu erklären, und wir haben es nicht verstanden. Wir ziehen | |
daraus den deprimierenden Schluss, dass wir einfach zu blöd sind. | |
Andere Lehrer – ist das die Lösung? | |
Im Dialog der Arbeitsgruppe „Zukunft der Bildung“ mit der Bundeskanzlerin | |
sind wir jedenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass man Pädagogen ausbilden | |
sollte, die nicht primär dazu da sind, Wissen zu vermitteln. Sondern | |
Lehrer, die in der Lage sind, die in den Kinder steckenden Begabungen und | |
Talente zur Entfaltung zu bringen. Wir arbeiten gerade den | |
Masterstudiengang „Potenzialentfaltungscoach“ aus. Ab Herbst 2013 soll er | |
starten. | |
Wer ist wir? | |
Die Initiative „Schule im Aufbruch“. Wir kennen uns schon länger, aber das | |
gemeinsame Nachdenken mit der Kanzlerin über die Frage „Wie wollen wir | |
lernen?“ – und die absurden Beschränkungen, die der Bund im Föderalismus | |
hat – haben uns gezeigt: Wir brauchen diese Initiative jetzt: Der | |
Grundgedanke lautet, dass wir endlich Potenziale entfalten sollten, anstatt | |
Talenten die Lust am Lernen genau dort auszutreiben, wo sie doch fürs Leben | |
lernen sollen. Wenn die Politik es nicht hinkriegt, müssen wir eben selber | |
ran. | |
Was macht ein Potenzialentfaltungscoach anders als ein Lehrer? | |
Seine erste Fähigkeit müsste sein, jeden Schüler für etwas zu begeistern, | |
was dem auf den ersten Blick egal ist. Zum Beispiel die Fotosynthese zu | |
durchschauen oder Shakespeares „Macbeth“ aufzuführen – und zu verstehen. | |
Die Hirnforschung bestätigt: Nur wenn man mit innerer Beteiligung lernt, | |
also wenn es für einen selbst bedeutsam ist, werden im Hirn jene | |
neuroplastischen Botenstoffe ausgeschüttet, die die Verankerung von neuen | |
Netzwerken fördern. | |
Und die zweite Fähigkeit des Potenzialcoachs? | |
Er müsste in der Lage sein, aus einem zusammengewürfelten Haufen ein | |
leistungsorientiertes Team zu machen. Da hätten Sie dann eine neunte | |
Klasse, in der alle unbedingt wissen wollen, wie die Fotosynthese | |
funktioniert. Sie dürfen sicher sein, dass es höchstens zwei Wochen dauert, | |
bis es alle wissen, weil sie sich das alles selbst erarbeitet haben. | |
Ist es nicht so, dass Pädagogen eher an den kleinschrittigen Lehrplänen | |
scheitern, die sie nun mal erfüllen müssen. | |
Dann muss man eben all diese Lehrpläne noch einmal genau anschauen – und | |
wohl auch die Bedeutung der Schulzensuren kritisch hinterfragen. | |
Noten abschaffen? Dagegen würden sich viele ehrgeizige Eltern und sogar | |
Schüler wehren. | |
Schüler brauchen und wollen eine Rückmeldung auf ihre Leistung. Aber als | |
Auswahlkriterien dürften Zensuren nicht benutzt werden. Immer mehr | |
Personalverantwortliche in Unternehmen berichten schon, dass Noten kein | |
verlässliches Kriterium für die Leistungsfähigkeit eines späteren | |
Mitarbeiters sind. Selbst die Studienstiftung des deutschen Volkes verlässt | |
sich nicht mehr nur auf Noten. Das zeigt uns, dass das Schulsystem an zwei | |
Stellen morsch ist. Es sind schon immer zu viele nach unten durchgefallen. | |
Und heute kann man sich nicht mal mehr darauf verlassen, dass die, die mit | |
1,0 abschließen, auch die Besten sind. | |
Klingt nach Utopie. Gibt es denn schon Schulen, an denen so gearbeitet | |
wird. | |
Die evangelische Gemeinschaftsschule Berlin Zentrum ist so eine. Diese | |
Schule hat eine Schülerfirma aus der 8. Klasse, die Lehrerfortbildungen für | |
Lehrer anbietet. Eine Gruppe von jeweils fünf Schülern besucht ein | |
Kollegium, das sie gebucht hat, und beschreibt, wie lernen funktioniert und | |
wie es bei ihnen an der Schule zugeht. Das ist den Rückmeldungen der Lehrer | |
zufolge oft die wirksamste Art von Fortbildung, die sie je hatten. | |
Klingt wie Kinder an die Macht. | |
Darum geht es nicht. Aber wenn wir Schulen haben, in denen das Lernen | |
gelingt, dann ist es natürlich sinnvoll, die Schüler berichten zu lassen, | |
wie das gelingt. In Lernteams, wo Schüler voneinander lernen, würden beide | |
Seite profitieren: diejenigen, die es schon können, weil sie ihr Wissen | |
weitergeben. Die anderen, weil sie von gleichaltrigen Schülern lernen. Da | |
entstehen Lerndynamiken, die sich keiner vorstellen kann, der nur | |
konventionellen Unterricht kennt. | |
Wird denn bei diesem selbstbestimmten Lernen wirklich genug gelernt? | |
Wenn man davon redet, dass Schule Freude machen soll, kommt oft | |
reflexartig: Das sind Spaßschulen. Wir reden aber von Hochleistungsschulen. | |
Die beste Abiturientin Niedersachsens kam vergangenes Jahr von einer | |
Gesamtschule. Und die Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule praktiziert seit | |
Langem selbstgestaltetes Lernen – und hat dafür den Deutschen Schulpreis | |
gewonnen. Ein hervorragendes Abitur machen dort auch jene, die anderswo von | |
vornherein abgewiesen worden wären. Solche Schulen sind die Vorbilder, mit | |
der unsere Initiative andere lokale Initiativen anstoßen will. | |
Herr Hüther, Sie arbeiten schon lange daran, die Erkenntnis der | |
Hirnforschung in die Schulwelt zu tragen, und müssen doch bei zahlreichen | |
Gelegenheiten konstatieren: Schule macht krank. Verbittert Sie das nicht? | |
Ich bin extrem optimistisch. Wie schnell die DDR zusammengebrochen ist, das | |
hätte auch keiner geglaubt. Die alte Form von Schule wird es in sechs | |
Jahren schon nicht mehr geben, davon bin ich überzeugt. | |
So schnell? | |
Zehn Jahre wird unser Land sich solche Schulen nicht mehr leisten können. | |
Es ist zu teuer und zu gefährlich, Schüler durch ein Schulsystem zu | |
schleusen, in dem sie genau das verlieren, was sie dringender als alles | |
andere brauchen, um ihr Leben und ihre Zukunft zu gestalten, ihre | |
angeborene Lust am Lernen, am eigenen Entdecken und Gestalten. | |
5 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Bleher | |
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