# taz.de -- Schulpolitik in Baden-Württemberg: Gemein zur Gemeinschaftsschule | |
> Die CDU in Baden-Württemberg hat Bad Saulgau zum Schlachtfeld gegen die | |
> Gemeinschaftsschule gemacht. Sie hat dort zwar verloren, sieht sich aber | |
> als Sieger. | |
Bild: „Und jetzt: Malt eine Gemeinschaftsschule!“ | |
BAD SAULGAU taz | Von diesem Mittwoch an steht Andreas Stoch vor keiner | |
geringeren Aufgabe, als das Prestigeprojekt der baden-württembergischen | |
Landesregierung voranzutreiben: [1][die Gemeinschaftsschule (PDF).] | |
SPD-Mann Stoch soll neuer Kultusminister werden, nachdem seine Vorgängerin | |
Gabriele Warminski-Leitheußer entnervt das Handtuch geworfen hatte – auch | |
wegen der harten Bandagen der Opposition im Kampf gegen die | |
Gemeinschaftsschule. Der Nachfolger muss noch viel Überzeugungsarbeit | |
leisten. Das hat jetzt das Ergebnis eines Bürgerentscheids gezeigt. | |
In dem 17.000 Einwohner zählenden Städtchen Bad Saulgau im Landkreis | |
Sigmaringen haben satte 65,9 Prozent gegen die neue Schulform gestimmt. | |
Allerdings gingen viel zu wenig Saulgauer zur Abstimmung, die | |
Wahlbeteiligung betrug nur 30 Prozent. Die abgegebenen Stimmen gegen die | |
Gemeinschaftsschule lagen also – auf alle Saulgauer berechnet – nur bei | |
20,5 Prozent. Damit geht die Entscheidung zurück an den Gemeinderat. | |
„Hier glühen die Telefondrähte“, sagt Larissa Lott-Kessler, | |
CDU-Gemeinderätin. „Kein Gemeinderat kann es sich leisten, einfach das | |
Votum der Bürger zu übergehen.“ Die 43-Jährige ist eine leidenschaftliche | |
Gegnerin der Schule. „Es gibt keine Lehrpläne, keine ausgebildeten Lehrer, | |
keine Lehrmaterialien und keine Noten“, sagt sie. „Man kann doch eine | |
solche Schule nicht so überstürzt einführen“. | |
Mit den Stimmen der Freien Wähler, der SPD und der Jungen Liste/Grüne hatte | |
der Gemeinderat letztes Jahr für den Zusammenschluss der Werkreal- und der | |
Förderschule zu einer Gemeinschaftsschule gestimmt. Die Realschule vor Ort | |
ließ man erst mal außen vor – „denn die Eltern der Realschüler laufen St… | |
gegen die neuen Schule“, weiß Lott-Kessler. | |
## Quorum hin oder her | |
Der Interpretationsspielraum, wie man in Saulgaus Schule weitermachen soll, | |
ist weit. Der Bürgerentscheid befeuert die ideologisch geführten Debatten | |
in der Landespolitik. Der Staatssekretär im Kultusministerium, Frank | |
Mentrup (SPD), etwa meint, dass die Stimmen gegen die neue Schule nicht | |
einmal so viele gewesen seien, wie die CDU bei der Landtagswahl auf sich | |
vereinen konnte. „Damit ist offensichtlich, dass die Mehrheit der | |
Bürgerinnen und Bürger in Bad Saulgau das Konzept des gemeinsamen und | |
individuellen Lernens akzeptiert“, sagt der Staatssekretär Mentrup. Die | |
Würfel sind gefallen.“ | |
Ganz anders interpretiert die CDU den Ausgang der kleinen Volksabstimmung | |
am vergangenen Sonntag. Der Bürgerentscheid sollte der Bildungspolitik nach | |
dem Rücktritt der Kultusministerin den zweiten Schlag versetzen. Sprich: | |
Quorum hin oder her, die Mehrheit gegen die Gemeinschaftsschule sei mehr | |
als deutlich gewesen. In der Sache sei die Sache klar, sagt | |
CDU-Landesvorsitzender Thomas Strobl. „Die Menschen wollen keine grün-rote | |
Einheitsschule vor Ort, sie wollen nicht zum Spielball grün-roter | |
Schulexperimente werden.“ | |
Ähnlich klingt es bei der FDP. „Die Behauptung der grün-roten Koalition, | |
ihre Schulpolitik entspreche dem Wählerauftrag, hat sich mit dem | |
Bürgerentscheid von Bad Saulgau als falsch erwiesen“, sagte der | |
bildungspolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Timm Kern. Die Bürger | |
hätten sich von den Versprechen „der auf die Gemeinschaftsschule | |
versessenen Regierung nicht beirren lassen“. | |
In Bad Saulgau werde eine Stellvertreter-Auseinandersetzung geführt, sagt | |
Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissenschaften an der Uni | |
Hohenheim. „Eigentlich geht es um eine Auseinandersetzung zwischen Grün-Rot | |
und Schwarz-Gelb.“ Für ihn trägt der Bürgerentscheid „zur Ideologisierung | |
der Debatte“ bei. | |
## Drastischer Schülerrückgang | |
Dabei ist die Entwicklung vor Ort längst weiter, als die ideologischen | |
Grabenkämpfe vermuten lassen. Als Antwort auf den Schülerrückgang | |
kooperieren bereits Schulen miteinander, ohne dass sie Gemeinschaftsschule | |
heißen – auch in Bad Saulgau. Dort werden die Fünft- und Sechstklässler der | |
Werkreal- und der Förderschule zusammen unterrichtet. Diese Kooperationen | |
sind die Antwort auf den Schülerrückgang, mit dem viele Gemeinden zu | |
kämpfen haben. | |
„Sollte der Schwund in dem Maße weitergehen, wie das schon in diesem Jahr | |
der Fall war, wird man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können“, | |
sagte die parteilose Doris Schröter. Was sie damit meint, ist ganz einfach: | |
Es gibt gerade noch 31 Schüleranmeldungen für die Werkrealschule, die | |
umbenannte Hauptschule. Saulgau steht vor dem Problem vieler Gemeinden in | |
Baden-Württemberg: Wer die Schulen nicht zusammenführt, muss hunderte | |
Schulen dichtmachen. | |
Spekuliert wird auch, ob es Nachahmer in anderen Gemeinden gibt, wo | |
ebenfalls die Gemeinschaftsschule eingeführt werden soll. Frank | |
Brettschneider geht davon aus, dass es weitere Bürgerentscheide geben wird. | |
Zwar sei das Quorum verfehlt worden. „Das Ergebnis derjenigen, die | |
abgestimmt haben, dürfte die Gegner trotzdem ermutigen“, sagt er. Denn es | |
habe gezeigt, dass alles eine Mobilisierungsfrage sei. „Und mobilisieren | |
heißt Konflikte verschärfen.“ Auf die darf sich auch der neue | |
Kultusminister einstellen. | |
Und was geschieht in Saulgau? „Das kann ich heute noch nicht sagen“, meinte | |
Bürgermeisterin Schröter in der Schwäbischen Zeitung. „Wir werden das | |
Ergebnis analysieren. Auf dieser Basis und unter Berücksichtigung der aus | |
Anlass des Bürgerbegehrens vorgebrachten Argumente wird der Gemeinderat | |
entscheiden.“ | |
23 Jan 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://spdnet.sozi.info/bawue/KA-Land/bruchsal/dl/PM_Gemeinschaftsschule.pdf | |
## AUTOREN | |
Nadine Michel | |
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