# taz.de -- Hirnforschung ohne Hirn: Wettrüsten um Forschungsgelder | |
> Viele ihrer Erkenntnisse sind gar nicht so bahnbrechend. Trotzdem erfreut | |
> sich die Neurowissenschaft ungebrochener Beliebtheit. Warum eigentlich? | |
Bild: Ob die Erdbeere gut riecht? Ein MRT zeigt die Lösung | |
BERLIN taz | Neurowissenschaftler sollten George Bush Senior danken. Die | |
Dekade des Gehirns beginne am 1. Januar 1990, verkündete der ehemalige | |
US-Präsident. Seitdem erlebt die Hirnforschung einen rasanten Aufstieg. | |
Moral, Ästhetik, Liebe – es gibt kaum etwas, das uns Hirnforscher nicht | |
erklären wollen. | |
Der Pharmakologe Felix Hasler von der Berlin School of Mind and Brain hat | |
da so seine Zweifel. „In der Hirnforschung kann man viel ungestraft | |
behaupten”, sagt er auf dem [1][taz.lab]. Die empirischen Daten belegten | |
hingegen nur selten, was als bahnbrechende Erkenntnis verkauft wird. | |
Gegenwind ist die Neurowissenschaft von Seiten der Sozialwissenschaften | |
gewohnt. Nach jahrelanger Euphorie zweifeln jetzt allerdings auch die | |
Kollegen der Naturwissenschaft. Eine Studie, die kürzlich in der | |
renommierten Fachzeitschrift [2][Nature Reviews Neuroscience] | |
veröffentlicht wurde, zeigt: Nur jedes fünfte Ergebnis lässt sich | |
tatsächlich belegen – ein miserables Ergebnis. | |
Echte Erfolge erzielt die Hirnforschung hingegen in der öffentlichen | |
Wahrnehmung. Der „Neuro”-Buchmarkt brummt. Wie trainiere ich das Gehirn | |
meines Babys? Was sagt uns Buddhas Gehirnstruktur? Die Neurowissenschaft | |
weiß es – oder behauptet es zumindest. | |
Und auch in Nachrichtenmedien wird die Hirnforschung immer häufiger | |
aufgegriffen. Ein besonders absurdes Beispiel dafür hat Pharmakologe Hasler | |
in der Schweizer Boulevard-Zeitung [3][20 Minuten] gefunden. Unter dem | |
Titel „Hirnscanner entlarvt Rassisten” stellte die Zeitung die neuesten | |
Ergebnisse einer Hirnforschungsstudie vor. Darunter ein Bild | |
protestierender Neonazis. Hier müsse man nicht nur die Studie infrage | |
stellen, sagt Hasler. Die Frage sei: „Brauchen wir wirklich einen | |
Hirnscanner, um Rassisten zu erkennen?” | |
## Bunte Bilder ohne Tiefe | |
Ein Grund für die überhöhte Bedeutung liege in den Verfahren wie der | |
Magnetresonanztomographie (MRT), sagt Hasler. „Sehen heißt glauben. | |
Deswegen wäre wäre die Hirnforschung ohne bildgebende Verfahren nie so ein | |
Hype geworden.” Nur: Bunte Bilder von Gehirnaktivitäten suggerierten eine | |
Exaktheit, von der die Verfahren weit entfernt seien. Statt das Geschehen | |
exakt abzubilden wie ein Foto, arbeitet zum Beispiel die MRT mit | |
statistischen Berechnungen. Diese hängen von den Annahmen ab, die die | |
Forscher im Vorhinein treffen – doch selbst bislang unumstößliche Annahmen | |
wackeln, sagt Hasler. | |
Den Siegeszug der Neurowissenschaft wird seine Kritik allerdings nicht | |
aufhalten, glaubt er. Gerade erst hätten die EU und die USA ein | |
„Wettrüsten” um Forschungsgelder für die Hirnforschung gestartet. Es gehe | |
um Beträge in Milliardenhöhe. Welche Forschungsfragen sinnvoll sind und | |
welche nicht, rücke dabei in den Hintergrund. | |
Haslers Vortrag spielt auf die neurowissenschaftliche Forschungswut schon | |
im Titel seines Vortrags an: „Was würde die Fledermaus denken?” Wer | |
herausfinden wolle, wie eine Fledermaus fühlt, könne gerne das komplette | |
Fledermaus-Gehirn untersuchen, sagt der Pharmakologe. Wie sich die | |
Fledermaus fühlt, wisse er trotzdem nicht. | |
Felix Haslers Buch “Neuromythologie” ist im Transcript Verlag erschienen. | |
20 Apr 2013 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-tazlab/!t7259/ | |
[2] http://www.nature.com/nrn/journal/v14/n5/abs/nrn3475.html | |
[3] http://www.20min.ch/ | |
## AUTOREN | |
Timo Stukenberg | |
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