| # taz.de -- Manipulation der Erinnerungen: Das Leben ist nur ein Traum | |
| > Noch ist es Science-Fiction, die Erinnerungen zu verändern. Bei Tieren | |
| > jedoch gelingt es Forschern bereits, das Gedächtnis zu manipulieren. | |
| Bild: Mäuse verfügen über besondere Ortszellen, die ihnen bei der räumliche… | |
| „Tut mir leid, Quaid, dein ganzes Leben ist nur ein Traum.“ Eigentlich | |
| wollte sich Douglas Quaid (Arnold Schwarzenegger) von Rekall Inc. nur | |
| einige schöne Urlaubserinnerungen vom Mars einpflanzen lassen. Die Prozedur | |
| schlug jedoch fehl, und es stellte sich schließlich heraus, dass Quaids | |
| gesamte Existenz als Bauarbeiter bereits eine vorher schon implantierte | |
| Erinnerung war – Douglas war in Wirklichkeit ein Geheimagent namens Hauser, | |
| der dem tyrannischen Mars-Gouverneur Vilos Cohaagen das Handwerk legen | |
| sollte. | |
| Die Idee für Paul Verhoevens Science-Fiction-Klassiker „Total Recall – Die | |
| totale Erinnerung“ aus dem Jahr 1990 basiert auf einer Kurzgeschichte des | |
| amerikanischen Science-Fiction-Autors Philip K. Dick und zeigt anschaulich, | |
| wie sehr das Thema Manipulation von Erinnerungen die menschliche Fantasie | |
| beflügelt. Und das ist kein Wunder: Die Anwendungsmöglichkeiten eines | |
| solchen Eingriffs sind schier grenzenlos. | |
| Quälende Erinnerungen an eine von Missbrauch zerstörte Kindheit oder | |
| Kriegserlebnisse könnten durch glückliche Gedanken an ein liebesvolles und | |
| sorgendes Elternhaus ersetzt werden – wie viele Verbrecherkarrieren oder | |
| Alkoholikerleben ließen sich auf diese Weise bereits im Keim ersticken? | |
| Auch wenn solche Ideen nach Zukunftsmusik klingen, so machte die Forschung | |
| doch inzwischen einen gewaltigen Schritt nach vorn. Bislang war es nicht | |
| möglich, Erinnerungen zu implantieren, die auch im Wachzustand bewusst | |
| wahrgenommen werden konnten – bis jetzt. Französischen Wissenschaftlern | |
| gelang es nämlich erstmals, „falsche“ Erinnerungen in die Gehirne von 40 | |
| schlafenden Mäusen zu verpflanzen. | |
| Mithilfe von Elektroden stimulierten der französische Neurowissenschaftler | |
| Karim Benchenane und seine Kollegen vom Centre nationale de la recherche | |
| scientifique in Paris die Belohnungsregion der Nagergehirne. Nach dem | |
| Aufwachen verknüpften die Tiere das Aufsuchen eines bestimmten Orts mit | |
| einer Belohnung, ohne dass diese Gedanken auf einem tatsächlichen Erlebnis | |
| beruhten. | |
| ## Räumliche Orientierung | |
| Die pelzigen Nager eignen sich für derartige Experimente besonders gut, | |
| weil sie über sogenannte Ortszellen verfügen, die ihnen bei der räumlichen | |
| Orientierung helfen. Diese Ortszellen waren bereits 1971 von dem | |
| amerikanisch-britischen Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger von 2014 | |
| John O’Keefe entdeckt worden. | |
| Beim Aufsuchen entsprechender Plätze geben diese Ortszellen einen | |
| elektrischen Impuls ab (zum Beispiel, wenn das Tier dort Nahrung gefunden | |
| hat) und erzeugen so eine Erinnerung, damit die Maus diese Stelle schnell | |
| wiederfindet. | |
| Bei den Versuchstieren im Centre nationale de la recherche scientifique | |
| wurden die Gehirnaktivitäten während des Schlafs beobachtet und jedes Mal, | |
| wenn die Ortszellen feuerten, stimulierten die Wissenschaftler mittels | |
| einer zweiten Elektrode die Belohnungsregion des Mäuseköpfchens. | |
| ## Falsche Erinnerungen eingepflanzt | |
| Nach dem Aufwachen reagierten die Nager auf diese Behandlung, indem sie | |
| vier- bis fünfmal mehr Zeit an einem bestimmten Ort verbrachten als Mäuse, | |
| deren Ortszellen nicht entsprechend elektrisch gereizt worden waren. Der | |
| Grund: Die „stimulierten“ Mäuse assoziierten mit dem Ort eine Belohnung. | |
| Die Resultate des Experiments, die in der Märzausgabe des | |
| Wissenschaftsmagazins [1][Nature Neuroscience] veröffentlicht wurden, | |
| verdeutlichen, dass „falsche“ Erinnerungen in die Gehirne von Tieren | |
| eingepflanzt werden können. „Die Maus entwickelt ein zielgerichtetes | |
| Verhalten, um an diesen Ort zu gelangen“, meinte Benchenane. „Es handelt | |
| sich also nicht um automatisches Verhalten. Wir erzeugen eine Assoziation | |
| zwischen einem bestimmten Ort und einer Belohnung, auf die die Maus bewusst | |
| zugreifen kann.“ | |
| Bereits in den der 1970er Jahren wurde in wissenschaftlichen Studien die | |
| Unzuverlässigkeit des menschlichen Erinnerungsvermögens hinreichend | |
| dokumentiert. | |
| ## Falsche Zeugenaussagen | |
| Nach der Veröffentlichung dieser Forschungsergebnisse wurden | |
| Augenzeugenberichte vor US-Gerichten vermehrt angezweifelt. Mithilfe von | |
| DNA-Tests konnte schließlich nachgewiesen werden, dass viele Angeklagte | |
| aufgrund von falschen Zeugenaussagen zu Unrecht ins Gefängnis geschickt | |
| oder sogar hingerichtet worden waren. | |
| „Für jede einzelne Erinnerung müssen unterschiedliche Zellgruppen aktiviert | |
| werden“, erklärte Xu Liu vom japanischen Riken-Mit Center for Neural | |
| Circuit Genetics. „Diese diversen Verknüpfungen von Zellen könnten der | |
| Grund dafür sein, dass Erinnerungen nicht statisch sind, wie zum Beispiel | |
| ein Foto“, meinte Liu. | |
| „Erinnerungen entwickeln sich ständig weiter. Jedes Mal, wenn wir glauben, | |
| wir erinnern uns an etwas, kann es sein, dass wir diese Erinnerung | |
| verändern. Manchmal sind wir uns dessen bewusst, manchmal nicht.“ Mit | |
| anderen Worten: Erinnerungen lassen sich frisieren. | |
| Die französischen Neurowissenschafter vom Centre nationale de la recherche | |
| scientifique waren beileibe nicht die Ersten, die sich an der Manipulation | |
| von Erinnerungen versucht haben. Tatsächlich gehören solche – mehr oder | |
| minder erfolgreichen – Experimente in naturwissenschaftlichen Laboren schon | |
| fast zum Tagesgeschäft. | |
| ## Gehirnzellen ein- und ausschalten | |
| Neurowissenschaftler beschäftigen sich derzeit mit einer Optogenetik | |
| genannten Technik durch die mit angstauslösenden Erinnerungen belegte | |
| Gehirnzellen ausfindig gemacht werden können, um diese dann „ein- und | |
| auszuschalten“. | |
| In ähnlicher Weise wurden auch bereits neuronale Schaltkreise, die mit | |
| guten oder schlechten Erinnerungen behaftet sind, verändert, um negative | |
| Erlebnisse in positive zu verwandeln oder sogar komplett auszulöschen. | |
| „Eines Tages“, resümierte Neil Burgess, Direktor des Institute of Cognitive | |
| Neuroscience am University College London, „könnten Wissenschaftler | |
| aufgrund dieser Erkenntnisse in der Lage sein, ängstliche Assoziationen bei | |
| Menschen mit psychischen Erkrankungen wie posttraumatischen | |
| Belastungsstörungen zu entfernen oder zumindest zu reduzieren.“ | |
| 30 May 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.nature.com/neuro/index.html | |
| ## AUTOREN | |
| Frank Heinz Diebel | |
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