| # taz.de -- Sachbuch über Hirnforschung: Was würde die Fledermaus denken? | |
| > Eine hervorragende neue Streitschrift macht deutlich: Die | |
| > Neurowissenschaft weiß weniger über unser Gehirn als über die Wünsche der | |
| > Pharmaindustrie. | |
| Bild: Selbst wenn man alles über ihr Gehirn wüsste, wüsste man vermutlich ni… | |
| Seit Längerem treten die Neurowissenschaften in Wissenschaft, | |
| Öffentlichkeit und Medien immer stärker in den Vordergrund. Passend zu | |
| einem bestimmten Zeitgeist treten sie an mit dem Anspruch, bisher nur vage | |
| Spekuliertes oder gar Unerkennbares in hartes Wissen zu verwandeln. Was | |
| Männer und Frauen unterscheidet oder wer ein angeborener Gewalttäter ist, | |
| will man plötzlich eindeutig anhand bildgebender Analyseverfahren benennen | |
| können. | |
| Diesen Anspruch durch eine umfassende Kritik der Hirnforschung auf ein sehr | |
| viel bescheideneres Maß zurückzustutzen, ist das Ziel des neuen Buchs von | |
| Felix Hasler zur „Neuromythologie“. Das gelingt dem Autor, der selbst ein | |
| profilierter Neurowissenschaftler ist, auf sehr bemerkenswerte und | |
| differenzierte Weise. Das Gehirn, so zeigt er, ist wie die Gene durch ein | |
| zu komplexes Zusammenwirken verschiedener Areale bestimmt. | |
| Deshalb kann man ein vermeintlich typisch weibliches Denken und Verhalten | |
| oder auch einen „Antrieb zu Straftaten“ nicht einfach irgendwo im Gehirn | |
| orten – auch mit den heutigen bildgebenden Verfahren nicht. Außerdem werden | |
| die meisten Hirnareale für völlig unterschiedliche Handlungsantriebe | |
| aktiviert. Dazu ist die Bildgebung, die Hirnaktivitäten über Blutflüsse | |
| misst, ziemlich ungenau. All das führt, so Hasler, zu großen | |
| Interpretationsspielräumen. Und es macht die Hirnforschung zu einer eher | |
| mühsam vorankommenden Angelegenheit. | |
| Treffend zeigt Hasler auch, dass häufig die medial breit präsentierten | |
| Ergebnisse der Hirnforschung oft Altbekanntes nur aufpoppen oder sogar | |
| Unterkomplexes vorgaukeln, etwa zu vermeintlich eindeutig messbaren | |
| Wünschen von Konsumenten. Das bleibt dann sogar hinter dem zurück, was mit | |
| soziologischen oder ökonomischen Methoden in der Vergangenheit | |
| herausgefunden wurde. Am Beispiel der seit zwei bis drei Jahrzehnten um ein | |
| Vielfaches zunehmenden psychiatrischen Diagnosen und | |
| Medikamentenverschreibungen betrachtet Hasler, warum die Hirnforschung | |
| trotzdem so in der Offensive ist. | |
| ## Gut für die Pharmaindustrie | |
| Dabei geht es nicht nur um karriereorientierte Wissenschaftler und manche | |
| sensationslüsterne Medien. Vielmehr dienen die vermeintlichen Erkenntnisse | |
| über das Gehirn auch dazu, den massenhaften Absatz neuer Psychopharmaka zu | |
| erleichtern. Denn wenn jede Niedergeschlagenheit zu einer neuartigen | |
| Psychoerkrankung umgedeutet wird, etwa Burnout oder Angststörung, die dann | |
| aber unfehlbar auf eine bestimmte Hirnstruktur zurückgeführt wird, dann | |
| helfen halt keine länglichen Psychoanalyse-Gesprächssitzungen mehr. Dann | |
| muss physisch auf das Gehirn mit – zufällig sehr gewinnträchtigen – | |
| Medikamenten eingewirkt werden. | |
| Dafür vergeben viele Pharmafirmen dann auch gern sehr lukrative | |
| Forschungsaufträge. Und schreiben dann auch gleich noch vor, wie die | |
| Wissenschaftler in vermeintlich neutralen Fachzeitschriften die | |
| Testergebnisse neuer Psychopharmaka so schönen müssen, dass die massiven | |
| Nebenwirkungen unerwähnt bleiben. Hasler hätte hier noch erwähnen können, | |
| dass ähnliche Probleme auch in anderen Medizinbereichen auftreten dürften. | |
| Ermutigend ist diese Aussicht für uns alle nicht. | |
| Ebenso scharf wie treffend porträtiert Hasler die seiner Meinung nach | |
| faschistoide Tendenz, angeborene Verbrecher zu identifizieren und diese | |
| dann letztlich durch Einwirkung auf das Gehirn, zumindest aber durch | |
| lebenslanges Wegsperren auszuschalten. Auch dass der menschliche Geist | |
| nicht auf seine physische Repräsentanz im Gehirn reduziert werden kann, | |
| sondern vielmehr eine komplexe Wechselwirkung von Gehirnmaterie und Geist | |
| vorliegen dürfte, sieht Hasler sehr genau. Zudem ist die Art der | |
| Repräsentanz des Geistes in der Materie nicht klar zu fassen. | |
| Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat 1974 in seinem berühmten | |
| Aufsatz „What is it like to be a bat“ das jahrtausendealte philosophische | |
| Leib-Seele-Problem so umschrieben: Selbst wenn man alles über das Gehirn | |
| einer Fledermaus wüsste, wüsste man vermutlich immer noch nicht, wie es | |
| sich aus der Innenperspektive anfühlt, eine Fledermaus zu sein. All dies | |
| zusammengeführt und weitergedacht zu haben, kann dem sehr lesenswerten Buch | |
| von Felix Hasler nicht hoch genug angerechnet werden. | |
| ## Felix Hasler: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die | |
| Deutungsmacht der Hirnforschung“. Transcript Verlag, Bielefeld 2012, 260 | |
| Seiten, 22,80 Euro | |
| 24 Jan 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Felix Ekardt | |
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