# taz.de -- Daten löschen im Internet: Die Kunst des Vergessens | |
> Es gibt viele Gründe, Spuren von sich im Internet entfernen zu wollen. | |
> Einfach ist es allerdings nicht. Über einige Menschen, die es versuchten. | |
Bild: Papier kann man zerreißen. Daten nicht. | |
BREMEN taz | Dieser Text ist total unmöglich: Journalistisch über Vergessen | |
zu berichten – also jenseits einer Abbildung bloß der anschwellenden | |
politisch-juristischen Debatte – geht gar nicht. Das würde bedeuten: Orte | |
nennen, nach Möglichkeit auch Namen, oder wenigstens Identitätsmarker, und | |
konkrete Fälle schildern: Fälle, so wie sie waren. All das also, was | |
Menschen vermeiden, die für ihr Recht, vergessen zu werden, kämpfen – | |
beziehungsweise das, was sie dafür halten. Es ginge darum, die Spuren jener | |
zu rekonstruieren, die Irrtümer, die Fakten, die Beschuldigungen, die | |
Verurteilungen, die Nachrede, die Kolportage, die Indiskretionen – die sie | |
weghaben wollen. Die sie versuchen, aus dem Netz zu löschen. | |
Dieser Text muss also die Fälle verschieben, an die Grenze zur Fiktion, | |
teilweise drüber hinaus, aber ohne zu lügen, ich lüge nicht! Ehrenwort! Der | |
Text muss Gesichter unkenntlich machen und Geschlechter vertauschen. Er | |
muss damit rechnen lassen, dass die Geschlechter vertauscht sind, ohne dass | |
sie es sind. Er wird den Befragten vorgelegt worden sein, damit sie sich | |
darin wiedererkennen – und doch gelöscht finden. | |
Selbstverständlich sind alle Namen frei erfunden. Und die Orte – es ist ja | |
schon riskant, zu sagen, dass es alles Fälle aus Norddeutschland sind: Es | |
sind alles Fälle aus Norddeutschland. Aber natürlich muss man als | |
allererstes die Orte verändern: Erinnern scheint auf verblüffende Weise | |
gleichbedeutend damit zu sein, dass etwas einen Ort hat, einen stabilen, | |
bekannten und kenntlichen Ort. Einen Ort, an dem es wiedergefunden werden | |
kann, im Bewusstsein, in der Welt, im Archiv, im Internet, im neunten Kreis | |
der Hölle. | |
Manchmal dauet es etwas, bis man kapiert, warum das Anliegen ein ernstes | |
ist. Manchmal tritt es auf, als wäre es ein schlechter Scherz: Zum Beispiel | |
neulich, diese Mail von – also: Der Typ war ’n ziemlicher Klopper gewesen. | |
Ein Amtsträger. Lächerlich, autoritär und auf die plumpest nur denkbare | |
Weise korrupt. Die 15 Monate, die ihm das Landgericht dafür verpasst hatte, | |
rügte der Bundesgerichtshof als „außerordentlich milde“, als unangemessen. | |
Und natürlich gab’s Berichte über ihn, und natürlich mit Klarnamen: Der | |
Kerl war eine Person der relativen Zeitgeschichte. Man kann auch Gründe | |
dafür nennen, dass er eine Figur der norddeutschen Regionalgeschichte | |
geworden ist. Von dem kam neulich eine Mail. Er heiße jetzt nicht mehr so, | |
hat der Mann der Redaktion vor ein paar Monaten geschrieben. „Mein Anliegen | |
bezieht sich auf die Entfernung dieses Berichtes von Ihrer Website.“ | |
Nein, nein, nicht weil der Artikel zu beanstanden wäre, doch er habe seine | |
Strafe erhalten, befand er. „Ein Neuanfang könnte heute möglich sein“, | |
allerdings, selbst wenn er längst einen neuen Namen trage, nur ohne diese | |
Online-Erinnerung, ganz sicher, und daher „möchte ich Sie bitten, den | |
Artikel von Ihrer Website zu entfernen“. | |
Als wenn das so ginge – diesen Typen vergessen! Der war – also die Affäre | |
hatte im ganzen Norden Furore gemacht. Immer wieder kamen neue, pralle | |
Details ans Licht, eins bekloppter als das nächste – als wäre eine miese | |
deutsche TV-Vorabendserie ins Leben getreten. Kein Gemeinplatz fehlte, bis | |
hin zum In-flagranti-Topos, der Beischlaf-Entdeckung durch den gehörnten | |
Gatten mit anschließender splitterfasernackter Verfolgungsjagd durchs | |
Fenster und zu Fuß durch ganz Goslar – oder war’s Husum? So viel Sex muss | |
sein. Wie sollte man das je aus der Erinnerung löschen? | |
Außerdem, der BGH hat in vergleichbaren Fällen schon entschieden, gegen die | |
Löschung, 2012, das Aktenzeichen findet sich auch zur Not, der Fall mit | |
diesem Gazprom-Manager. Das würde hier auch passen. Nur eine neue | |
Berichterstattung wäre unzulässig, schränkt der Justitiar ein. Ist nicht | |
geplant. | |
## Ein „positives Hemmungsvermögen“ | |
Ob man nicht wenigstens den Berichten „den Meta-Tag ’noindex‘ hinzufügen… | |
könne, um „einer Anzeige durch die Suchmaschinen (Google, Bing u. a.) | |
entgegenzuwirken“? Ja könnte man das? Wie sollte das den gehen? Wissen Sie, | |
was ein Meta-Tag ist? Verstehen Sie, was es ist, wenn Sie es gegoogelt und | |
nachgelesen haben? Sprechen Sie HTML? Lässt sich Vergessen gestalten? | |
„Vergesslichkeit ist ein aktives, im strengsten Sinne positives | |
Hemmungsvermögen“, das war 1887 Friedrich Nietzsches These gewesen. Er | |
hatte einigermaßen überraschend das Gedächtnis als sekundäre Bildung, als | |
„angezüchtete“ Quelle der Moral bestimmt, die letztlich nur zwischen | |
unbezahlten Schulden und bezahlten unterscheidet. | |
Das Vergessen wertet er dagegen wie eine Stoffwechselfunktion der | |
Erkenntnis: Dank seiner trete, „was nur von uns erlebt, erfahren, in uns | |
hineingenommen wird“ bei der „Einverseelung“ ebenso wenig ins Bewusstsein | |
wie „der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche | |
Ernährung abspielt“ – die Einverleibung. Das Internet, in dieser Analogie | |
betrachtet, erhält den beunruhigenden Aspekt eines geöffneten | |
Verdauungsapparats, der eingespeichelte Nährwerte wälzt und umwälzt, sie | |
mit neuen überlagert, nichts verarbeiten kann: „Ich weiß nicht, was ich mit | |
dir machen würde, wenn durch dich jetzt diese ganze Scheiße wieder | |
hochkocht“, sagt sie. | |
Eleonora ist im Show-Biz tätig, eine ganz alte Bekannte, eine mit der man | |
angeben kann, tja, mit der war man auf der Schule, „Gut schaust du aus!“ | |
Leichte Kräuselwellen am Steinhuder Meer, eigentlich wäre an der Küste | |
besser gewesen, motivisch, wegen Ebbe und Flut, Erinnern, vergessen. Es ist | |
ein geiler Februartag, Freitag, und die Sonne tut so, als wäre sie für den | |
Mai geboren. Sie war erst ziemlich sauer, gefragt zu werden. Der | |
Spaziergang ist trotzdem nett. Bei ihr war es um Liebe gegangen, Rosen, | |
Krieg, was Persönliches, wartezimmerzeitungskompatibel, „Du schreibst | |
darüber nix!“ Nee, garantiert. Kein Name, kein Ort, kein Inhalt. Nur wie | |
sie es angestellt hat, dass es verschwunden ist. „Hä?“, sie guckt | |
befremdet. „Das habe ich machen lassen!“ Vom Anwalt? Manager? „Man! Es gi… | |
Agenturen dafür“, sagt sie. Lacht. | |
Ach so? | |
Tatsächlich. Als Business heißt Vergessen „Online Reputation Management“, | |
Kurzwort ORM. In Hamburg gibt es mindestens zwei Anbieter, die als seriös | |
gelten. Seriosität ist durchaus ein Problem in der Branche: „Immer wieder“, | |
warnt eine ORM-Agentur aus Nürnberg, würden „ORM Agenturen auch mit | |
Siegeln, unbekannten Zertifikaten“ und als „bekannt aus Funk und Fernsehen�… | |
auf sich aufmerksam machen. „Gleichzeitig werben Sie mit 99,00 Euro ORM | |
Angeboten, um Kunden, die erst einmal ORM testen wollen, zu gewinnen.“ | |
Aber, so heißt’s dann weiter, „mit 99,00 Euro und auch mit 199,00 Euro kann | |
man im Online Reputation Management nichts bewegen“. | |
Ist vergessen zu werden ein neuer Luxus, den sich nicht jeder leisten kann? | |
Es gibt auch Leute, die das allein in Angriff nehmen. Bei manchen Sachen | |
geht es auch flott. Da war jener Fall, da ging’s um so etwas wie – ja man | |
kann das eine Krankheit nennen. Und es gab einen Zeitraum, in dem das | |
interessant war, also nicht nur persönlich und für die Familie und den | |
echten Freundeskreis, sondern – auch über den Kreis Segeberg hinaus. Und | |
dann hatte man dazu etwas gemacht. Ihm sei wichtig, „dass es nicht um so | |
etwas wie Geschichtsfälschung geht“, sagt er. Die Dokumente werden nicht | |
getilgt, nicht eines. Sie bleiben in den Archiven, unverändert. Nur ihre | |
Zugänglichkeit wird verringert. | |
Er war damals Schauspieler. Dann war er krank. Jetzt ist er, sagen wir, | |
Dramaturg und nebenher Dozent, so was halt, und gesund. Und es ging um die | |
punktuelle Löschung – um die Entfernung jenes Details aus dem öffentlichen | |
Bild: „Es war ja so“, sagt er, „dass ich danach nicht mehr so im | |
Rampenlicht und in den Medien war.“ Also blieb die Krankheitsnachricht | |
immer die zeitlich letzte Meldung, „als wäre ich dann gestorben“, sagt er. | |
Dabei soll das Leben ja weitergehen. Ein neues Kapitel. „Und dann wird das | |
zum Problem, wenn man sich beruflich neu orientiert, neue Freundschaften | |
entstehen, oder Geschäftsbeziehungen.“ Das machen ja viele – den Namen der | |
neuen Bekanntschaft googeln. Und dann taucht da, kaum ist er eingetippt, | |
eine Art ärztliches Bulletin auf. „Das haben eigentlich alle schnell | |
eingesehen“, sagt der Theatermann, „die da seinerzeit darauf eingegangen | |
waren.“ Nur wer weiß, wo er suchen muss, findet die Sackgassen im | |
Verweissystem, das Texte online bilden, entdeckt Narben im | |
Wikipedia-Beitrag: „(3.414 Bytes) (-285)u200e…“, heißt es in der | |
Versionsgeschichte, „(u2192 u200eWeblinks: Tote Links entfernt)“. | |
## Löschbeirat für Europa | |
Löschungen: Im Mai 2014 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass | |
Google verpflichtet ist, persönliche Daten auf Wunsch aus dem Index zu | |
nehmen – sie also unauffindbar zu machen. Der Internet-Konzern hatte | |
daraufhin einen Löschbeirat eingerichtet, für Europa, der im Februar | |
empfohlen hat, das Tilgen der Verweise noch auszuweiten, auch auf | |
Zweifelsfälle. Der Anspruch auf Löschung soll gewichtiger sein, je länger | |
die Erwähnung zurückliegt. Noch aber fehlen klare Kriterien. | |
„Ich wünsche mir ein Vergessen, das den Menschen zum Mittelpunkt hat“, so | |
hat der Rechtswissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger, der in Oxford | |
lehrt, kürzlich in einem Interview gefordert. Seine Forschungen haben die | |
politische Debatte erst richtig in Fahrt gebracht. „Ich bin davon | |
überzeugt, dass es an uns liegt, wieder zu vergessen“, das ist seine | |
Ansage. Der ernste Wunsch, nach einer Technik des Vergessens zu suchen, | |
scheint sehr neu: In der antiken Rhetorik gab’s ihn höchstens mal als eine | |
Art Insider-Witz. Und er ist fast allgegenwärtig, gerade auch durch die | |
populäre Kultur geistert er, da ist das „Blitzdings“ als einprägsamstes | |
Requisit der „Men in Black“-Filme, oder, die vielen, vielen zauberhaften | |
Gedächtnislöschungen und -manipulationen der Harry-Potter-Romane. Joanne K. | |
Rowlings erfindet sogar eine spezielle Truppe von „Vergissmichs“, | |
angesiedelt in den Obliviator Headquarters, Zaubereiministerium, 3. Stock. | |
Das ist interessant, denn traditionell beschreiben wir Vergessen eher als | |
Defizit. Oft als jene Angst, die Aischylos Kassandra in den Mund legt, | |
ausgerechnet einer Frau, die in die Zukunft schauen kann. Sie fürchtet, | |
dass „ein wasserfeuchter Schwamm das Bild des Menschenlebens tilgt und alle | |
Welt vergisst’s“. Das wäre das Schlimmste: „Was schmerzte mehr als das?�… | |
klagt sie in der Agamemnon-Tragödie. Diese Vorstellung, dem Delinquenten | |
dadurch maximale Schmerzen zuzufügen, wird wohl dafür gesorgt haben, dass | |
die Tilgung des Namens aus Gedenksäulen und Bildwerken oft als Megastrafe | |
für Superschurken vorgesehen war, für kriminelle Herrscher: Ägypter, | |
Griechen, Römer, später Venezianer – die Damnatio memoriae war weit | |
verbreitet. Und jetzt – vergessen als Ziel? | |
Selbst wo sich in der Renaissance das Begehren artikuliert, „alltägliche | |
läppische Erinnerungen von der Tafel meines Gedächtnisses wegzuwischen“ – | |
Hamlet will das –, bleibt das Löschen bloß eine Hilfstechnik: Sie dient nur | |
dazu, Platz zu schaffen – fürs dringlichere Erinnern. „Adieu, adieu, | |
adieu“, hat der Geist des Vaters zuvor befohlen, „gedenke meiner, Sohn!“ | |
Dann löst er sich auf. | |
„Ich arbeite massivst an der Unsichtbarkeit“, sagt der Mann, naja, | |
mittlerweile geht er auch schon auf die 50 zu, aber er ist schlank | |
geworden, und er heißt in dieser Geschichte David. Wir haben uns in ein | |
Café gesetzt, das zu einer Kette gehört. Anonymer geht es wirklich nicht. | |
Er trinkt einen Latte. Vier, fünf, sechs – jahrelang hat er sich | |
gestritten. Er hat gegen Google gekämpft, gegen große Verlagshäuser und | |
gegen Werbeportale. „Ich hatte ja auch Zeit“, sagt er. „Ich hatte ja mein… | |
Job verloren.“ Es sei „auch so eine Art Beschäftigungstherapie“ gewesen. | |
Über Fotos wird oft mehr gesprochen, wenn es über Peinlichkeiten im Netz | |
geht. Aber ein Foto zum Verschwinden zu bringen – das ist recht leicht, | |
wenn klar ist, wo es liegt. Das macht das Löschen zum simplen Vorgang. Im | |
Februar hatten wir einen Fall in der Redaktion, ein Hinweis auf ein Bild. | |
Das war schon lange online gewesen, aber zum Nervfaktor geworden, der immer | |
aufploppt, sobald nur das richtige Stichwort geschrieben wird. Also die | |
Fachleute angemailt: „Hallo, ich habe eine Frage oder bitte: Der u. a. Pfad | |
ist noch aufrufbar; er sollte es aber nicht mehr sein: Ich hatte das Foto | |
auf Typo3“ – das ist das Online-Programm, das die taz nutzt – „gelösch… | |
dennoch bleibt es auffindbar“. Dann den Link eingefügt: „Können wir das | |
deaktivieren?“ | |
Elf Minuten später eine Antwort: „Ich versuche mal, das Foto zu finden und | |
zu löschen.“ | |
Noch mal zehn Minuten später: „Hallo Benno, das Foto wird von unserem | |
Server gelöscht. Grüße, Maik.“ | |
Und dann war die Sache vergessen. | |
## Dokument der Zeitgeschichte | |
Bei Texten geht es meistens um Veränderungen im Dokument, und „in manchen | |
Fällen gab es am Anfang Stress“, sagt David, „gerade was die dpa-Meldungen | |
angeht. Die wollten das nicht rausnehmen, die Redaktionen“, das sei ein | |
„Dokument der Zeitgeschichte und all dieses dumme Zeug“, dabei waren die | |
Verdächtigungen, die es anfangs gab, längst in sich zusammengefallen wie | |
ein Soufflé im Winter. Und nie war David eine Person der Zeitgeschichte. | |
Als er anfing, damals, hatte David eine Standard-Mail. Die hat er | |
verschickt an: Redaktionen, große Medienhäuser, kleine, an Verlage und an | |
Portale. Darüber hat er Buch geführt. „Ich hatte eine Excel-Tabelle“, | |
erzählt er, „die hatte 700 Einträge, mindestens.“ Wenn eine Antwort kam, | |
wurde die registriert. Dann, nach ein paar Tagen, überprüft. Dann die | |
eigene Buchführung modifiziert – je nachdem, was rumgekommen war. Keine | |
Antwort? Neue Mails, vielleicht ein Brief. Falsche Antwort – anrufen. Immer | |
sachte anfangen. | |
Moment mal: 700 Einträge? Dabei – also, er war in einem ziemlich verpupten | |
Regionalskandal, wenn überhaupt, dann Nebenfigur. Also so wie jemand, bei | |
dem jemand vorher zu Besuch war, der dann besoffen mit dem Auto gegen den | |
Baum knallt. David war mit Klarnamen vielleicht zwei Wochen in den Medien. | |
Das war’s. Und Facebook, Twitter, das hatte gerade erst angefangen. Ach | |
was, da kam alles erst noch. | |
Aber irgendwie war die Geschichte gut erzählbar, und dann gibt es Sonntage, | |
an denen gar nichts passiert und die Presseagenturen eine Geschichte | |
nochmal als ins Land schicken: „Wochenendzusammenfassung“ heißt das. Und | |
dann war die norddeutsche Pupsaffäre ein Panoramaaufmacher in | |
Süddeutschlands Zeitungen und im Westen freute man sich auch über die | |
Story, und wusste, dass David David hieß und ein mutmaßlich übler Finger | |
war, der Leute besoffen macht, und sie dann ins Auto setzt. | |
„Und das perfide“, sagt David, „das sind diese ganzen Online-Shops.“ | |
Online-Shops? „Ja, diese waschmaschinen-aktuell und alle-tassen.de oder | |
buchratgeber.com. Die haben alle die News mit angehängt.“ Das zieht Clicks. | |
Das erhöht die Verweildauer. Das macht das Angebot einprägsamer. „Und so | |
war ich dann auf waschmaschinen-aktuell.org.“ Auf Mails hatten die nicht | |
reagiert, auf Schreiben – sich tot gestellt. „Dann habe ich da angerufen. | |
Die haben gar nicht kapiert, was ich wollte.“ „Nehmt mich da raus!“, habe | |
er ihnen gesagt, ich will, dass ihr mich da rausnehmt. | |
Er hat die Sache hinter sich, völlig, fast wenigstens. Eine Wikipedia-Seite | |
zu ihm – hat es nie gegeben. Wer seinen Namen googelt, stößt auf andere, | |
die den gleichen haben. Um mit [1][archive.org], der Wayback-Machine auf | |
Splitter der Vorgänge zu kommen, muss man die Namen der Beteiligten kennen, | |
und die Zeit, um die es geht. | |
In einem Aufsatz mit dem launigen Titel „An ’arte oblivionis‘? Forget it!… | |
hat Umberto Eco einst die Entwicklung einer Vergessens-Technik für ein | |
unmögliches Projekt erklärt im Reich der Zeichen. Logisch: „It is proper to | |
a semiotics to make present something absent“ – Zeichen vergegenwärtigen | |
Abwesendes. Sie können nichts zum Verschwinden bringen. Die einzige | |
Strategie, die Eco sieht ist: „to confuse memories“, Gedächtnisse zu | |
verwirren, bis hin sie zu fälschen. | |
Was ein moralisches Wort. Aber das war Ende der 1980er. Das Internet | |
spielte noch keine Rolle, geschweige denn Suchmaschinen. Noch nicht zu | |
denken war an das digitale Erinnern, die ewige nicht chronologisch, sondern | |
nach undurchschaubaren Algorithmen organisierte Präsenz der Aussage. Sich | |
dem nicht hilflos auszuliefern, darauf bezieht sich Mayer-Schönbergers | |
Reden vom Recht, vergessen zu werden. „Wie wir mit dem digitalen Erinnern | |
leben“ – da sind wir, sagt er, noch „auf der Suche nach einer Lösung“. | |
Seit zwei Jahren schaut David nicht mehr regelmäßig nach, im Netz. Er flöht | |
nicht mehr die Portale, googelt sich nicht mehr automatisch selbst, wenn er | |
den Rechner hochfährt. Social-Media-abstinent ist er geblieben. Wenn ihn | |
jemand knipst, ohne vorher zu fragen, wird er unruhig. Oder sogar | |
ungemütlich. | |
Neulich, da waren ein paar Kumpels beim Ossensamstag unterwegs, das ist das | |
Osnabrücker Karnevalsevent, „da sind wir gemeinsam unterwegs, und der | |
fotografiert mich, wie ich da ein Bier hochhalte, und der lädt das einfach | |
hoch“, sagt er. Und da wird er wieder richtig sauer, wenn er das erzählt: | |
„Ich hab den angeschnauzt, richtig, warum machst du denn das?“, und dann: | |
„Das löschst du jetzt, sofort, vor meinen Augen! Ich möchte sehen, wie du | |
das löschst!“ | |
Der andere war ganz verdattert. Hat sich geziert. Hat es dann gemacht. | |
Danach: Kontaktabbruch. | |
„Das mag Paranoia sein“, sagt er. „Aber das ist dann halt so.“ | |
15 May 2015 | |
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[1] http://archive.org | |
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Benno Schirrmeister | |
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